# taz.de -- Entwurf des Gesundheitsministeriums: Der umgeleitete Patient | |
> Ein neues Gesetz soll Patienten schneller zu Fachärzten lotsen und nicht | |
> in die Ambulanz. Krankenkassen loben den Vorstoß, Ärzte protestieren. | |
Bild: Weniger Zeit im Wartezimmer: das Terminservice-und Versorgungsgesetz soll… | |
BERLIN taz | Um sieben Uhr in der Früh stehen die ersten zwanzig Patienten | |
Schlange vor der Tür der Augenarztpraxis von Dr. Ludger Wollring in Essen. | |
Bis 8.30 Uhr führt Wollring eine „Offene Sprechstunde“. Erst die späteren | |
Morgen- und Nachmittagsstunden sind für die Hilfesuchenden mit Terminen | |
reserviert. Für Wollring ist die frühe Zeit der offenen Sprechstunde auch | |
Strategie: „Wem es wirklich dringend ist, der kommt auch früh am Morgen“, | |
sagt der 62-jährige Augenarzt. | |
Die Mischung aus offener Sprechstunde und Terminvergabe bieten aber nicht | |
alle Fachärzte an. Viele arbeiten nur mit lange im Voraus vergebenen | |
Terminen. Auch deswegen, so klagen die Klinikambulanzen, schlagen bei ihnen | |
PatientInnen auf, die eigentlich in eine ganz normale Arztpraxis gehören | |
würden. | |
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will die Malaise mit seinem von | |
ihm geplanten Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) ändern. Doch | |
während die Krankenkassen den Vorstoß loben, protestiert die Ärzteschaft. | |
Das Gesetz sehe „dirigistische Eingriffe“ in die Praxisabläufe vor, rügt | |
etwa Andreas Gassen, der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen | |
Bundesvereinigung (KBV). | |
Minister Spahn stellte sich in der vergangenen Woche bei einer | |
Veranstaltung in Berlin mit zweihundert Kassenärzten. Im Bundestag fand | |
eine Expertenanhörung statt. Wegen des großen Diskussionsbedarfs wurde | |
schließlich ein zweiter Anhörungstermin im Februar anberaumt. | |
## Spahn für mehr offene Sprechstunden ohne Terminvergabe | |
Spahn will die Facharztpraxen niedrigschwelliger ausrichten. Fachärzte, | |
darunter Hals-Nasen-Ohren-Ärzte, Augenärzte und Orthopäden, sollen dazu | |
verpflichtet werden, pro Woche zumindest fünf offene Sprechstunden ohne | |
vorherige Terminvergabe einzurichten. Augenarzt Wollring, der neben seiner | |
ärztlichen Tätigkeit auch Sprecher des Berufsverbandes der Augenärzte | |
(BVA) ist, ist dagegen. „Eine Verpflichtung ist ein Eingriff für uns | |
Freiberufler“, sagt er. „Fachärzte haben ja einen Grund dafür, wie sie ih… | |
Sprechstunden organisieren.“ Dringende Notfälle würden auch in Terminpraxen | |
jetzt schon zwischengeschoben. | |
Wollring erinnert an alte Zeiten, als Facharztpraxen offene Sprechstunden | |
anboten, wo man sich früh einfand in einer Warteschlange, vielleicht eine | |
Nummer zog und dann stundenlang auf Holzstühlen wartete, ein zerlesenes | |
Klatschmagazin vom Zeitschriftenstapel in der Hand. „So was will doch | |
niemand mehr“, sagt er. | |
Vertreter der Wohlfahrtspflege warnten denn auch auf der Anhörung im | |
Bundestag davor, dass am Ende Ältere und chronisch Kranke die Leidtragenden | |
seien, weil sie meist Terminkunden sind und die Terminsprechstunden | |
reduziert werden müssten, wenn stattdessen mehr offene Sprechstunden | |
angeboten werden. | |
Bundesgesundheitsminister Spahn möchte den Kassenärzten mit seinem Gesetz | |
aber auch vorschreiben, künftig mindestens 25 Wochenstunden statt bisher | |
nur mindestens 20 Wochenstunden Sprechzeit anzubieten. Der Protest ist | |
groß. „Die niedergelassenen Ärzte arbeiten heute schon im Schnitt mehr als | |
fünfzig Wochenstunden“, sagte Roland Stahl, Sprecher der KBV, der taz. | |
Allerdings handelt es sich dabei eben um einen Durchschnitt. Der | |
GKV-Spitzenverband der Krankenkassen, der das Spahn’sche Gesetz begrüßt, | |
hat dazu eine Umfrage durchgeführt. Danach bietet jede vierte Praxis | |
weniger als 25 Sprechstunden in der Woche für gesetzlich Versicherte an, | |
müsste die Sprechzeiten also verlängern. Der stellvertretende | |
GKV-Vorsitzende Johann-Magnus von Stackelberg schlug überdies kürzlich | |
vor, dass Ärzte mehr Sprechstunden in die Abendstunden verlegen sollten, | |
wegen ihrer berufstätigen Patienten. Heftiger Protest der Mediziner folgte | |
prompt. | |
Ludger Wollring vom Augenärzteverband nennt einen Grund für die | |
verringerten Sprechstundenzeiten. „Dies betrifft vor allem ältere Ärzte“, | |
schildert er die Situation. Sie hätten ihre Sprechstundenzahl mitunter aus | |
Entlastungsgründen reduziert, eine Verpflichtung zur Erhöhung könnte sie | |
hart treffen. Ärzte dürfen auch jenseits des gesetzlichen Rentenalters noch | |
praktizieren, eine früher bestehende Altersgrenze wurde aufgrund des | |
zunehmenden Ärztemangels vor einigen Jahren aufgehoben. | |
Zwiespältige Reaktionen erntet ein anderer Punkt in dem Gesetzentwurf: der | |
Ausbau der Terminservicestellen. Terminservicestellen bei den | |
Kassenärztlichen Vereinigungen gibt es bisher schon, sie vermitteln | |
Facharzttermine oder Sprechstunden bei Psychotherapeuten, wenn ein Patient | |
trotz vom Hausarzt bescheinigter Dringlichkeit keinen Termin bekommt. | |
Bisher sind von diesen Hilfesuchenden vierzig Prozent auf der Suche nach | |
Psychotherapie-Plätzen. | |
## Terminservicestellen rund um die Uhr | |
Laut dem neuen Gesetz, das frühestens Mitte dieses Jahres in Kraft treten | |
könnte, sollen diese Stellen zu einem 24-Stunden-Service ausgebaut werden. | |
Durch die Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit unter der einheitlichen Nummer 116 | |
117 will man Hilfesuchende dazu bringen, bei akuten Beschwerden erst einmal | |
diese Nummer zu wählen, um dann an eine geöffnete Praxis oder einen | |
ärztlichen Notdienst vermittelt zu werden und eben nicht gleich in die | |
Notfallambulanz eines Krankenhauses zu gehen. | |
Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) in Berlin hat ihre Leitstelle bereits | |
zu einem Angebot zwischen 8 und 24 Uhr ausgebaut, unter der Nummer 116 117. | |
Am Telefon sitzt auch ein Allgemeinarzt. Zwischen Heiligabend und Neujahr | |
habe die Leitstelle in Berlin 13.000 Anrufer betreut, sagt Dörthe Arnold, | |
Sprecherin der KV Berlin. Die Beratungsärzte am Telefon konnten 2.000 | |
AnruferInnen bereits am Telefon abschließend helfen. | |
Der Ärztemangel werde aber durch die Spahn’schen Pläne nicht behoben, rügen | |
die Mediziner. „Mehr Ärzte sind Voraussetzung, wenn die Maßnahmen des TSVG | |
greifen sollen“, erklärte Frank Ulrich Montgomery, Präsident der | |
Bundesärztekammer, in einer Stellungnahme. | |
KBV-Chef Gassen fordert die Aufhebung der Budgetierung ärztlicher | |
Leistungen durch die Krankenkassen, also mehr Geld. Als „positiv“ | |
bezeichnete Gassen, dass die Bundesregierung „erkannt habe, dass es für | |
mehr Leistung auch mehr Geld geben müsse“. Jens Spahn hat für offene | |
Sprechstunden Honorarzuschläge versprochen. | |
Oder müssen sich am Ende die PatientInnen bescheiden? Ärztevertreter rügen | |
auch die Erwartungshaltung mancher PatientInnen, die bei kleineren | |
Beschwerden immer sofortige ärztliche Hilfe erwarten. KBV-Sprecher Stahl | |
jedenfalls findet: „Stadtpatienten sind anspruchsvoller als Landpatienten.“ | |
23 Jan 2019 | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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