| # taz.de -- Flüchtlings-Bürgen zur Kasse gebeten: Helfer in Not | |
| > Jonny Neumann soll 14.000 Euro bezahlen, weil er Hanna Aljarada geholfen | |
| > hat. Das Geld verlangt das Jobcenter. Er ist nicht der einzige | |
| > Betroffene. | |
| Bild: Jonny Neumann (links) soll 14.00 Euro zahlen, weil er den Syrer Anna Alja… | |
| Berlin taz | Hanna Aljaradas Augen blicken ernst, seine Hände schließen | |
| sich um die weiße Porzellantasse mit dem roten Herz über dem Schriftzug „1. | |
| FC Union“. „Ich musste weg aus Syrien“, sagt der 26-Jährige. „Und das … | |
| der einzige Weg, um an ein Visum zu kommen – ansonsten hätte ich durch die | |
| Türkei und über das Mittelmeer gemusst, um dann bis Deutschland zu laufen.“ | |
| Neben ihm lacht der Mann mit den kurzen grauen Haaren bitter auf. „Das kam | |
| für uns gar nicht in Frage“, sagt Jonny Neumann. „Das ist doch unwürdig.�… | |
| Der Berliner Apotheker Jonny Neumann wollte Aljarada helfen. Damit der | |
| junge Mann nach Beirut reisen und sich dort mit einem Studentenvisum in der | |
| Tasche in das Flugzeug nach Berlin setzen konnte, unterschrieb Neumann im | |
| Juni 2015 eine Bürgschaft für Aljarada. So, wie auch Tausende andere es in | |
| dieser Zeit getan haben, um Menschen aus Syrien legal nach Deutschland zu | |
| holen. Und wie viele andere auch hat Neumann nun Post vom Jobcenter | |
| bekommen: Er soll etwa 14.000 Euro zurückzahlen. | |
| Im Jahr 2015 hatte Aljarada gerade sein Pharmaziestudium in der syrischen | |
| Stadt Homs abgeschlossen und jobbte als Pharmakurier. Die Stadt, die damals | |
| den Ruf der „Hauptstadt der Revolution“ hatte, war heftig umkämpft. Als | |
| „total kaputt“ beschreibt Aljarada sie. Regierungstruppen belagerten und | |
| bombardierten Homs, in der verschiedene Rebellengruppen die Stellung | |
| hielten – darunter auch die Terrormiliz Islamischer Staat und der syrische | |
| Ableger von al-Qaida. | |
| „Mein Beruf war sehr gefährlich, ich musste viel draußen unterwegs sein. | |
| Manchmal konnte ich abends nicht nach Hause zurück“, erzählt Aljarada. | |
| Seine Nachbarschaft sei vollkommen zerstört gewesen, viermal sei er | |
| umgezogen. Bald war für ihn klar, dass er in Syrien nicht bleiben konnte. | |
| „Als junger Mann kann man sich dort kein Leben aufbauen“, sagt er. „Es gi… | |
| keine Perspektive.“ | |
| ## Apotheker Neumann ermöglicht Aljarada die Reise | |
| Sein Onkel lebt schon seit etwa 30 Jahren in Berlin. Er ist Stammkunde in | |
| der Apotheke mit der alten grünen Kinobank im Verkaufsraum, die im Berliner | |
| Stadtteil Hellersdorf zwischen vielgeschossigen Plattenbauten liegt. Er bat | |
| Neumann um Hilfe. | |
| Die Idee: Aljarada sollte als Gastwissenschaftler zum Promovieren nach | |
| Deutschland kommen, mit einem Studentenvisum. Dafür musste aber jemand | |
| versichern, für die Kosten des Lebensunterhalts aufzukommen – und im Fall | |
| der Fälle gezahlte staatliche Mittel zu erstatten. Neumann unterschrieb | |
| diese Verpflichtungserklärung im Juni 2015, im März darauf reiste Aljarada | |
| ein. | |
| Nun sitzen Aljarada und Neumann im Hinterzimmer der Apotheke, beide Männer | |
| haben sich weiße Apothekerkittel übergestreift. Die Augen hinter seiner | |
| blassrosa gerahmten Brille zusammengekniffen, sucht der 59-Jährige in einem | |
| Stapel Papieren nach einem Schreiben des Jobcenters Berlin | |
| Friedrichshain-Kreuzberg. Die Behörde habe, so steht da, von Juni 2017 bis | |
| Ende September 2018 insgesamt 14.049,27 Euro an Sozialleistungen für | |
| Aljarada erbracht. Und die habe Neumann „aufgrund der von Ihnen abgegebenen | |
| Verpflichtungserklärung“ zu erstatten. | |
| ## In Deutschland sollen Bürgen 21 Millionen Euro zurückzahlen | |
| Etwas mehr 2.500 solcher Bescheide haben Jobcenter in allen Bundesländern | |
| Deutschlands in den vergangenen zwei Jahren verschickt, insgesamt geht es | |
| um eine Summe von mehr als 21 Millionen Euro. Das geht aus der Antwort der | |
| Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der AfD-Fraktion vom Dezember | |
| hervor. Die tatsächlichen Zahlen dürften noch deutlich höher sein, da der | |
| Bund keine Aussagen über die von rein kommunalen Trägern betriebenen | |
| Einrichtungen treffen kann. Hier liege die Aufsicht bei den Ländern. | |
| Wie viel Geld die Behörden von Einzelpersonen und Einrichtungen wie etwa | |
| Kirchengemeinden zurückfordern, variiert stark, es gibt Einzelbescheide | |
| über etwa 1.700 Euro genauso wie solche über 61.757 Euro. Das dürfte nicht | |
| zuletzt daran liegen, dass manche Menschen für ganze Familien gebürgt | |
| haben. | |
| Als Aljarada nach Deutschland kam, hatte er kein Anrecht auf | |
| Sozialleistungen. Die Doktorandenstelle war nicht bezahlt, sein Onkel sowie | |
| Neumann und der Doktorvater halfen ihm, über die Runden zu kommen. Im | |
| September 2016 beantragte der junge Mann Asyl. „Ich wollte einen sicheren | |
| Aufenthaltstitel, wollte selbstständiger sein“, sagt er. Im Sommer 2017 | |
| bekam er den positiven Bescheid, er hatte damit Anspruch auf | |
| Sozialleistungen. Er besuchte seitdem mehrere Deutschkurse, zog in eine | |
| Wohngemeinschaft, will in Zukunft als Apotheker arbeiten. | |
| ## Ein Antrag auf Asyl und die Folgen | |
| „Ich stelle mir ja eigentlich vor, dass er mal mein Nachfolger hier in der | |
| Apotheke wird“, sagt Neumann mit gerunzelter Stirn. Zumindest einen kleinen | |
| Nebenjob will er Aljarada bald geben. Doch bis der tatsächlich als | |
| Apotheker arbeiten darf, muss er noch mehrere Prüfungen ablegen, um seine | |
| Berufsausbildung anerkennen zu lassen. „Das kann noch zwei Jahre dauern“, | |
| sagt Aljarada. Deswegen beschloss er nach Anerkennung seines Asylantrags, | |
| sich beim Jobcenter anzumelden. | |
| „Ich habe zweimal beim Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten | |
| gefragt, ob das mit der Verpflichtungserklärung ein Problem wäre“, sagt | |
| Aljarada. „Die haben gesagt, nein, das sei mit dem neuen Status alles | |
| erledigt.“ Eine solche Beratung halte man „für unwahrscheinlich“, heißt… | |
| auf Nachfrage aus der Berliner Innenverwaltung. | |
| „Selbst den verschiedenen Behörden war nicht ganz klar, wie lange die | |
| Verpflichtungserklärungen gelten“, sagt Jenny Fleischer, Neumanns | |
| Rechtsanwältin. Sie hat Widerspruch gegen den Bescheid eingelegt und | |
| vertritt weitere Personen, die gebürgt haben. Die meisten unterschrieben, | |
| damit Syrer*innen aus humanitären Gründen über Landesaufnahmeprogramme nach | |
| Deutschland kommen können – also über Maßnahmen, die die Länder extra | |
| geschaffen hatten, um Menschen aus dem Bürgerkriegsland zu helfen. Der Weg | |
| über ein Studentenvisum sei ein anderer, sagt Fleischer. In der Konsequenz | |
| sitzen Neumann und die anderen Bürg*innen nun aber im gleichen Boot. | |
| Einen Unterschied gibt es aber, und der ist zum Vorteil des Apothekers. | |
| Neumann deutet auf das Dokument vor ihm. Dort heißt es, die Verpflichtung | |
| gelte vom Tag der voraussichtlichen Einreise „bis zur Beendigung des | |
| Aufenthalts“ oder „bis zur Erteilung eines Aufenthaltstitels zu einem | |
| anderen Aufenthaltszweck“. | |
| Bei den Landesaufnahmeprogrammen sind die Menschen aus humanitären Gründen | |
| gekommen, was das Aufenthaltsgesetz in Abschnitt 5 regelt – dem gleichen | |
| Abschnitt, der auch den Aufenthalt von Menschen mit Asyl und anderen | |
| Schutztiteln beschreibt. Damit habe sich der Aufenthaltszweck nicht | |
| geändert, hatte das [1][Bundesverwaltungsgericht 2017] erklärt – | |
| Sozialleistungen seien also weiterhin zu erstatten. | |
| Aljarada hingegen kam als Student. Die Regelungen dafür finden sich in | |
| Abschnitt 3 des Aufenthaltsgesetzes. Als Flüchtling wird sein Aufenthalt | |
| nun in Abschnitt 5 geregelt. „Hier ist der Fall viel klarer: Das ist | |
| definitiv ein anderer Aufenthaltszweck“, sagt Rechtsanwältin Fleischer. | |
| Neumann hätte also niemals einen Bescheid bekommen sollen. | |
| Die Zahlungsaufforderung liegt nun aber vor Neumann auf dem Tisch. Und das | |
| ist nicht die einzige Verwirrung, die bei diesem Thema in den Behörden zu | |
| herrschen scheint. „Die Ausländerbehörden haben es oftmals unterlassen, die | |
| Verpflichtungsgeber bei Unterzeichnung über die rechtlich bedeutsamen | |
| Folgen zu informieren“, sagt Fleischer. Teils sei sogar falsch beraten | |
| worden – die Unterzeichner*innen seien der Meinung gewesen, ab dem Moment | |
| eines positiven Asylbescheids aus dem Schneider zu sein. | |
| ## Viele Bürgen bleiben im Paragrafendschungel hängen | |
| Tatsächlich war die Rechtslage bis zum Sommer 2016 unklar, verschiedene | |
| Behörden interpretierten sie unterschiedlich. So heißt es in einem Erlass | |
| des Innenministeriums von Nordrhein-Westfalen vom April 2015 ausdrücklich: | |
| „Mit der Titelerteilung nach erfolgreichem Asylverfahren wird der neue | |
| Aufenthaltszweck aufenthaltsrechtlich anerkannt, so dass die Geltung einer | |
| im Zusammenhang mit der Landesaufnahmeanordnung abgegebenen | |
| Verpflichtungserklärung endet.“ | |
| Ähnliche Erlasse gab es aus Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Thüringen | |
| und Hessen. Folglich entschieden sich in diesen Ländern besonders viele | |
| Menschen, eine Bürgschaft zu unterschreiben. In der Konsequenz werden dort | |
| nun auch die meisten Kostenbescheide verschickt: Etwa 2.000 Bescheide | |
| kommen aus diesen Ländern, die Forderungen machen rund 80 Prozent der | |
| Gesamtsumme bundesweit aus. | |
| Denn der Bund war anderer Meinung als die entsprechenden Länder. Im August | |
| 2016 schuf der Bundestag Klarheit: Das Integrationsgesetz legt fest, dass | |
| Verpflichtungserklärungen für fünf Jahre gelten und auch ein positiver | |
| Asylbescheid daran nichts ändert. Das gilt auch für bereits unterzeichnete | |
| Erklärungen – bloß, dass diese nur für einen Erstattungszeitraum von drei | |
| statt von fünf Jahren herangezogen werden sollen. | |
| ## Neumann will nicht zahlen | |
| „Ich bezahle das auf keinen Fall“, sagt Apotheker Jonny Neumann. „Das ist | |
| doch existenzbedrohend, gerade für Leute, die für mehrere Menschen gebürgt | |
| haben.“ Einer dieser Leute ist Jan Schmidt aus Essen. Zusammen mit einer | |
| zweiten Person hat er für eine sechsköpfige Familie gebürgt, seinen | |
| richtigen Namen will er wegen der ungeklärten Situation nicht in der | |
| Zeitung lesen. „Es war klar, dass die Familie aus dieser lebensbedrohlichen | |
| Situation abhauen wird“, sagt er. | |
| Die Frage sei nur das „Wie“ gewesen – mit Visum oder über das Mittelmeer | |
| und den Balkan. „Und das mit vier Kindern“, sagt Schmidt. Einige Bekannte | |
| hätten ihm damals abgeraten. Aber es gab ja den Erlass des | |
| Landesinnenministeriums, und auch bei der Ausländerbehörde habe man ihm | |
| damals gesagt: „Keine Sorge, sobald der Asylantrag gestellt ist, seid ihr | |
| raus aus der Nummer.“ „Darauf haben wir uns verlassen“, sagt Schmidt. | |
| Viele Bürg*innen wehren sich. Allein in Niedersachsen laufen derzeit nach | |
| Recherchen des Evangelischen Pressedienstes 482 Verfahren vor Gerichten. | |
| Erste Urteile fallen unterschiedlich aus, was teils auch an den jeweiligen | |
| Einzelfällen liegt. So gab das Verwaltungsgericht Köln mehreren Bürg*innen | |
| recht und erklärte, ihre finanzielle Leistungsfähigkeit sei nicht | |
| ausreichend geprüft worden; in Gießen wiederum milderte das Gericht im | |
| Dezember die Forderung lediglich um die Kosten für Kranken- und | |
| Pflegeversicherung ab. | |
| Rechtsanwältin Fleischer sieht die Politik in der Pflicht. „Bund und Länder | |
| müssen sich jetzt zusammentun, um diejenigen unbürokratisch zu entlasten, | |
| die sich während unklarer Rechtslage verpflichtet haben“, fordert sie – | |
| „zum Beispiel über einen Erlass oder einen Nothilfefonds“. So sieht es auch | |
| die Essener Anwältin Nizaqete Bislimi-Hošo, die in Nordrhein-Westfalen | |
| Bürg*innen vertritt. „Diesen politischen Streit auf dem Rücken der Bürgen | |
| auszutragen, ist nicht richtig“, sagt sie. Für viele Betroffene stehe ihre | |
| Existenz auf dem Spiel. | |
| Die „Verantwortung zur Lösung der Probleme“ liege auf Bundesebene, erklär… | |
| auf taz-Anfrage die zuständigen Ministerien für Arbeit und für Integration | |
| in Nordrhein-Westfalen. Mehrfach hätten die Minister in dieser | |
| Angelegenheit die Bundesregierung kontaktiert und auf eine | |
| bundeseinheitliche Lösung gedrängt, zuletzt sei das Thema im Herbst auf der | |
| Innenministerkonferenz besprochen worden. | |
| „Nach langem Zögern hat der Bund nunmehr die Bereitschaft signalisiert, zur | |
| Entlastung der Bürgen einen gemeinsamen Lösungsvorschlag zu entwickeln“, | |
| heißt es aus dem nordrhein-westfälischen Ministerium für Flüchtlinge und | |
| Integration. Konkrete Vorschläge dafür gebe es allerdings noch nicht. Vom | |
| Bundesarbeitsministerium wird dazu erklärt, es sei Anliegen der | |
| Bundesregierung, „zeitnah sachgerechte Lösungen zu finden“. Die dazu | |
| erforderlichen Gespräche seien noch nicht abgeschlossen. | |
| ## Gelder werden vorläufig nicht eingetrieben | |
| Für die Bürg*innen heißt das: weiter bangen. Viele der Forderungen für | |
| Menschen, die vor der neuen Rechtslage gebürgt haben, wurden wegen | |
| entsprechender Verjährungsfristen zwar schon versandt. Sie werden aber | |
| bisher nicht eingetrieben – darauf hatten sich die Bundesministerien für | |
| Arbeit und Inneres, das Bundeskanzleramt sowie die Länder Niedersachsen und | |
| Hessen wegen der Rechtsunsicherheiten im März geeinigt. | |
| Nicht für alle Betroffenen ist das gleich ersichtlich – ein Problem, das | |
| auch das Ministerium anerkennt. Man prüfe derzeit gemeinsam mit der | |
| Bundesagentur für Arbeit, „inwieweit die entsprechenden | |
| Erstattungsbescheide so umformuliert werden können, dass einerseits | |
| Missverständnisse auf Seiten der Verpflichtungsgeber vermieden werden, | |
| andererseits aber die rechtlichen Wirkungen – Verhinderung der Verjährung – | |
| weiterhin sichergestellt sind“, teilt ein Sprecher auf Anfrage mit. | |
| Neumann bereut nicht, damals unterschrieben zu haben. „Was wäre denn die | |
| Alternative gewesen“, fragt er. „Hanna in Syrien zu lassen?“ Auch für Jan | |
| Schmidt aus Essen geht es um mehr als nur die Zahlungsaufforderungen. | |
| „Warum schafft ein Land wie Deutschland nicht sichere Fluchtwege“, fragt | |
| er. Derzeit zwinge man die Menschen, ihr Leben zu riskieren, Kinder gingen | |
| jahrelang nicht zur Schule. „Damit jemand doch legal herkommen kann, müssen | |
| Privatleute mit ihrem Vermögen in die Bresche springen“, sagt Schmidt. „Das | |
| ist doch total absurd.“ | |
| 22 Jan 2019 | |
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| [1] https://www.bverwg.de/260117U1C10.16.0 | |
| ## AUTOREN | |
| Dinah Riese | |
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