Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Der große Verrat in Brasilien
> Die politischen Eliten im Westen sind schockiert über den Wahlerfolg des
> Rechten. Ein autoritäres Regime entsteht aber nicht zufällig.
Bild: Ex-Militär Jair Bolsonaro lässt sich feiern
Brasiliens Medien, flankiert von Interessengruppen in Justiz und
Wirtschaft, sind in den letzten drei Jahren nicht müde geworden, darauf
hinzuweisen, dass die systemische Korruption der Politik das größte
Problem der Nation sei. So bestürzt waren sie über die Korruption, dass
sie sich 2016 zusammenschlossen – Dissens war praktisch verboten –, um die
gravierendste Maßnahme zu unterstützen, die eine Demokratie zulässt: die
gewählte Präsidentin Dilma Rousseff vor Ende ihrer Amtszeit abzusetzen.
Von Anfang an war peinlich klar, dass die große Empörung nur ein Vorwand
für die geplante Amtsenthebung Rousseffs war: Denn mit ihrer Absetzung
legten die Beteiligten die Macht wissentlich in die Hände organisierter
Krimineller, gegen deren mafiose Gepflogenheiten Rousseffs altmodische
Haushaltstricks („pedaladas“) ungefähr so schwer wiegen wie bei Rot über
die Straße zu gehen.
Man wundert sich, dass die Medienstars von Globo, die den brasilianischen
Medienmarkt beherrschen, und Politiker der Mitte darüber tatsächlich
Empörung heucheln konnten, ohne eine Miene zu verziehen.
[1][Der schmierige Karrierist Michel Temer,] den sie als Präsidenten
einsetzten, befahl die Zahlung von Schweigegeldern an einen echten
Gangster, Eduardo Cunha, seinen Parteifreund, der das
Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff geleitet hatte. Es gibt
Tonaufnahmen davon. Mittlerweile sitzt Cunha wegen Korruption, Geldwäsche
und Unterschlagung im Gefängnis.
## Zu gigantisch
Der Kongress, der die gewählte Präsidentin unter flammenden
Antikorruptionsreden absetzte, nahm in den letzten beiden Jahren
Bestechungsgelder von Temer entgegen, die ihn [2][vor Verfolgung wegen
seiner illegalen Zahlungen und anderer Verbrechen schützen] und ihm – trotz
vorhandener Beweismittel – den Komfort und Schutz des Präsidentenpalasts
erhalten.
Der Betrug ist zu gigantisch, um ihn in Worte zu fassen, aber Worte sind
gar nicht nötig, weil alles so offensichtlich ist. Im Wahlkampf haben die
großen Medien und die Familien der Oligarchie, denen sie gehören, jeden
Anschein von Moral fahren lassen. Vereint und offen standen sie hinter dem
Gouverneur von São Paulo, Geraldo Alckmin, der das Establishment der
konservativen Partei PSDB (Partido da Social Democracia Brasileira)
exemplarisch verkörpert.
Als eine etwas konservativere, zurückhaltendere Version von Hillary Clinton
ist er zutreffend beschrieben: Er ist seit Jahrzehnten in der Politik
unterwegs, dient den Interessen der Wirtschaft und wird von ihr
unterstützt, füllt unauffällig jedes denkbare Amt aus, ruht bequem im Filz
der neoliberalen Korruption, die Brasiliens Politik am Laufen hält.
Alckmin ist der Inbegriff der herrschenden Ordnung. Und er ist so
vollkommen frei von jeglichem Charisma, dass er gern mit einem
gurkenähnlichen Gemüse verglichen wird – „Chuchu“ ist inzwischen zu sei…
Spitznamen geworden. Aus gutem Grund bestand seine wichtigste politische
Taktik darin, sich zu verstecken. Er hielt keine Wahlkampfveranstaltungen
ab, weil außer Menschen, die an Schlaflosigkeit leiden, niemand gekommen
wäre.
## Politische Strippenzieher
Sein Weg zur Macht hing und hängt ausschließlich von obskuren
Hinterzimmerdeals ab, bei dem politische Strippenzieher große Geldsummen an
diejenigen verschieben, die ihren Interessen dienen. Es ist genau die Art
legalisierter Korruption, die die brasilianische Politik (und übrigens auch
die US-amerikanische) zerstört hat und die die Medien des Landes angeblich
so verwerflich finden.
Obwohl die großen Medien Brasiliens ihre Liebe zu Alckmin bekundeten, kam
er bei der Wahl nicht über klägliche 4,8 Prozent der Stimmen hinaus. Ebenso
wie in den USA und in Westeuropa haben auch die Wähler in Brasilien für die
herrschende politische Klasse oft nur Verachtung übrig.
Lange Zeit hatte der ehemalige Präsident Lula da Silva in den Umfragen
deutlich geführt – [3][doch weil er wegen Korruption verurteilt wurde,
durfte er nicht kandidieren.] Bis zur letzten Minute hatte man in seiner
Partei, der Arbeiterpartei (PT), gehofft, die Justiz werde aufgrund des
massiven öffentlichen Drucks anders entscheiden.
Am 11. September wurde schließlich Fernando Haddad, ehemaliger
Bürgermeister von São Paulo, zum Ersatzkandidaten bestimmt, der – wie einst
Dilma Rousseff – von Lulas Popularität profitierte. Trotzdem er extrem
wenig Zeit für den Wahlkampf hatte, schaffte er es mit 29,2 Prozent der
Stimmen auf Platz zwei.
## Politisch tot
Favorit nach dem Ausfall Lulas aber wurde [4][der eindeutig faschistische
Kongressabgeordnete Jair Bolsonaro,] der von der Rückkehr zur
Militärherrschaft träumt. Am 6. September wurde er bei einem
Wahlkampfauftritt durch einen Messerangriff schwer verletzt, was ihm
zusätzliche Stimmen einbrachte. Inzwischen hat er seine Wahlkampagne für
die Stichwahl wieder aufgenommen.
Brasiliens Establishment war angesichts der Umfragewerte zunehmend in Panik
geraten: Geraldo Alckmin war politisch tot und ließ sich trotz aller
Bemühungen der von den reichen Familien kontrollierten Medien nicht
wiederbeleben. So unternahm man einen letzten verzweifelten Versuch, die
Macht doch noch zu retten und ließ „die Gurke“ eine neue Koalition mit
zahlreichen anderen Parteien präsentieren, die den sogenannten Block der
Mitte bildeten.
Was nicht mehr hieß als: nicht Lula und nicht Bolsonaro. Als Alckmin Anfang
August zum Spitzenkandidaten gekürt wurde, präsentierte er als künftige
Vizepräsidentin Ana Amélia Lemos von der rechtskonservativen
Fortschrittspartei.
Dieses Bündnis hat milde gesagt überhaupt nichts „Mittiges“. Lemos’ Par…
Partido Progressista (PP) war bis 2015 die politische Heimat von Bolsonaro.
Ihre Wurzeln reichen in die rechte Militärdiktatur zurück, die Brasilien
von 1964 bis 1985 beherrschte. Ein von den USA unterstützter Putsch gegen
die gewählte linke Regierung hatte die Militärs an die Macht gebracht.
## Ideologischer Extremismus
Damals unterstützte Amélia Lemos als Journalistin in ihren Artikeln die
Diktatur. Sie war mit einem Senator verheiratet, den die Militärs
ausgesucht hatten und der ihnen diente. Ihre derzeitigen politischen
Ansichten stehen sogar im aktuellen weltpolitischen Spektrum von Trump bis
Orbán in der äußersten rechten Ecke.
Als im April die Vorsitzende der PT, Gleisi Hoffmann, dem Nachrichtensender
al-Dschasira ein Interview gab, in dem sie Lulas Inhaftierung kritisierte,
ergriff Ana Amélia Lemos im Senat das Wort: In einer fast schon genialen
Mischung aus Fremdenhass und Dummheit verwechselte und vermischte sie
al-Dschasira mit al-Qaida. Sie warf Hoffmann vor, sie lasse sich mit
Terroristen ein und stachle die „islamische Armee“ gegen Brasilien auf.
So schlimm das alles auch ist, der ideologische Extremismus ist noch der
harmloseste Teil dieser Scharade. Die übermächtige Parteienkoalition hinter
Alckmin sollte dafür sorgen, dass er den größten Teil des Geldes und der
Medienpräsenz abbekam, die im kurzen brasilianische Wahlkampf zu verteilen
waren: Alckmin sollte den Wählern in den Schlund gestopft werden, mit so
viel Gewalt, Geld, Propaganda und etablierter Macht, dass sie ihn am Ende
mit einem unwillkürlichen Reflex runterschlucken.
Das haben sie nicht getan. Dazu mag das erstaunliche Faktum beigetragen
haben, dass eine der Parteien, auf die das Establishment bei der Wahl
gesetzt hat, Lemos’ PP, am tiefsten in die große Korruptionsaffäre
verstrickt ist, die seit vier Jahren das Land erschüttert. Gegen 31 der 56
gewählten Volksvertreter der PP, also mehr als die Hälfte, laufen derzeit
Verfahren wegen Korruption.
## Herumstolziert wie Pfauen
Lemos ist übrigens nicht angeklagt, obwohl sie ihre politische Laufbahn mit
einem bezahlten, angeblichen Fulltimejob bei ihrem Senatorgatten begann,
während sie gleichzeitig eine volle Stelle als Journalistin innehatte.
Jair Bolsonaro musste, um als politischer Saubermann antreten zu können,
diese Kloake von Bestechung und Diebstahl verlassen, die als politische
Partei firmiert. Auch Alckmin selbst muss sich übrigens derzeit
verantworten, weil er mutmaßlich in früheren Wahlkämpfen Millionen Dollar
Schwarzgeld von Oligarchen erhalten hat.
Das ist der Ring des organisierten Verbrechens, der versuchte, an die
politische Macht zurückzukehren, getragen von den Medienkonzernen – vor
allem von den selbsternannten Experten des Nachrichtensenders Globo News,
die in den letzten Jahren herumstolziert sind wie Pfauen, wider das Übel
der Korruption predigend.
Wir wurden Zeugen des widerwärtigen Spektakels von Politikern und
Kommentatoren, die Arm in Arm marschiert sind, um den Kopf der Präsidentin
wegen harmloser Haushaltstricks zu fordern und die korruptesten politischen
Parteien Lateinamerikas ins Amt zu hieven.
## Erosion politischer Freiheitsrechte
Die politischen Eliten der Vereinigten Staaten und der westeuropäischer
Staaten, die durch den Wahlsieg von Trump, den Brexit und den Aufstieg
rechtspopulistischer Parteien unter Schock stehen und sich das alles gar
nicht erklären können, versuchen verzweifelt, vor dem entscheidenden Punkt
die Augen zu verschließen, der in Brasilien offensichtlich ist: Ein
autoritäres Regime entsteht nicht zufällig. Demagogen haben keinen Erfolg,
wenn die politischen Institutionen gesund, gerecht und unparteiisch sind.
Zu Bedrohungen der liberalen Demokratie und zur Erosion politischer
Freiheitsrechte kommt es nur dann, wenn die Bevölkerung den Glauben und das
Vertrauen in die Institutionen an der Spitze des Staats verliert. Dann
werden Gesellschaften anfällig für die Lockrufe derer, die damit drohen –
oder versprechen –, alles niederzubrennen.
Medien und Experten sind dann nicht mehr in der Lage, die Öffentlichkeit
vor Lügen und Gefahren zu warnen, denn die Öffentlichkeit sieht diese
Medien und Experten inzwischen verständlicherweise nicht mehr als Warner
vor Gefahren, Leid und Täuschungen, sondern als deren wesentliche
Verursacher.
Kritik an Leuten wie Trump, Marine Le Pen und Bolsonaro ist dann nicht nur
wirkungslos, sondern kontraproduktiv. Je mehr jemand von den einst
gefeierten, nun aber verachteten Trägern der etablierten Macht gehasst
wird, desto attraktiver erscheint er. Die Eliten in den USA und den
demokratischen Staaten Europas lernen diese Lektion gerade auf die harte
Tour. So geht es auch den brasilianischen Eliten.
## Verlorene Glaubwürdigkeit
Deren Schulterschluss mit einer Koalition, deren einziges Ziel darin
besteht, die korrupte alte Ordnung zu wahren und auszuweiten – nachdem sie
jahrelang das Gegenteil gepredigt hat –, ist der Grund, warum sie die
Glaubwürdigkeit und die Macht verloren haben, die wahren Bedrohungen für
die Demokratie aufzuhalten.
Wer im politischen, wirtschaftlichen und medialen Establishment wissen
will, warum die Demokratie in Brasilien sich auflöst, sollte seine Zeit
nicht damit verschwenden, Bolsonaro anzustarren und zu sezieren. Er oder
sie müsste nur in einen sehr großen Spiegel schauen; und anschließend
könnte der Spiegel an die Eliten Nordamerikas und Europas weitergegeben
werden, die dort ebenfalls in sich selbst ebenjene Quellen der
antidemokratischen, autoritären Tendenzen erblicken würden, gegen die sie
so unermüdlich wie ohnmächtig wettern.
Aus dem Englischen von Ursel Schäfer
9 Oct 2018
## LINKS
[1] /Prozess-gegen-Brasiliens-Praesidenten/!5449474
[2] https://www.washingtonpost.com/world/the_americas/brazilian-congress-to-vot…
[3] /Wahlgericht-untersagt-Kandidatur/!5532700
[4] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5466656
## AUTOREN
Glenn Greenwald
Victor Pougy
## TAGS
Präsidentschaftswahlen Brasilien 2018
Brasilien
Jair Bolsonaro
Krise der Demokratie
Rechtsextremismus
Michel Temer
Schwerpunkt Pressefreiheit
Brasilien
Jair Bolsonaro
Arbeiterpartei Brasilien
Arbeiterpartei Brasilien
Brasilien
Deutsche Bank
Schwerpunkt Brexit
Präsidentschaftswahlen Brasilien 2018
Präsidentschaftswahlen Brasilien 2018
Brasilien
Jair Bolsonaro
Präsidentschaftswahlen Brasilien 2018
## ARTIKEL ZUM THEMA
Anklage gegen Glenn Greenwald: Rache liegt in der Luft
Der Journalist Greenwald veröffentlichte belastende Dokumente gegen die
Bolsonaro-Regierung in Brasilien. Die rächt sich mit zweifelhaften
Vorwürfen.
Umdeutung des Militärputschs in Brasilien: Ein weiterer Sieg für die Ultrarec…
Die Feierlichkeiten zu 55 Jahren Militärputsch in Brasilien wurden
untersagt – und dann wieder erlaubt. Bolsonaro entdeckt das „wahre
Narrativ“.
Jair Bolsonaros Pläne für Brasilien: Waffen für Bürger, Absage ans Klima
Im Wahlkampf provozierte der künftige Präsident immer wieder mit
rassistischen Ausfällen, jetzt steht er vor komplexen Herausforderungen.
Was hat Bolsonaro vor?
Nach Bolsonaros Wahlsieg in Brasilien: Der lange Weg zur Machtübernahme
Wer ist Jair Bolsonaro? Im Schatten der Krise wurde der rechtsextreme
Militarist, der als nicht ernst zu nehmend galt, zur Option gegen die Elite
der PT.
Faschist Jair Bolsonaro gewinnt Stichwahl: Brasiliens menschenverachtender Kurs
Der Rechtsextremist Bolsonaro wird neuer Präsident Brasiliens. Der linke
Kandidat spricht Mut zu und fordert die Verteidigung des Rechtsstaats.
Wahl in Brasilien: Wenn Sportler für Hetzer trommeln
Prominente Sportler rufen in Brasilien zur Wahl des Rechtsextremen Jair
Bolsonaro bei der Wahl auf. Sollten Athleten sich in Politik einmischen?
Deutsche Bank über rechten Politiker: „Wunschkandidat der Märkte“
Ein Tweet der Deutschen Bank über den rechtsextremen brasilianischen
Politiker Jair Bolsonaro wird als verharmlosend kritisiert.
Verhandlungen Brexit und Irland: Die Frage nach der Grenze
Die ungelöste irische Grenzfrage blockiert weiterhin eine Brexit-Einigung.
Theresa May könnte darüber stürzen – und Irland bereitet Notfallpläne vor.
Präsidentschaftswahlen in Brasilien: Nervosität wie sonst nur beim Fußball
Brasiliens Reizthema nach dem ersten Wahlgang? Jair Bolsonaro. Der
Rechtsextreme könnte in zwei Wochen zum Präsidenten gewählt werden.
Erste indigene Abgeordnete Brasiliens: Vorkämpferin für die Indígenas
Per Crowdfunding sammelte sie 500 Euro für ihre Kampagne und hatte Erfolg.
Als erste Indigena zieht Joênia Wapichana ins Parlament.
Kommentar Wahl in Brasilien: Ungeschminkter Rechtskurs
Die Klientel des rechten Kandidaten Bolsonaro ist die weiße Mittelschicht,
die Angst vor jeder Veränderung hat. Offen ist, ob er noch gestoppt werden
kann.
Präsidentschaftswahl in Brasilien: Ex-Militär gewinnt erste Runde
Der rechte Kandidat Jair Bolsonaro liegt mit 46 Prozent der Stimmen
deutlich seinem Konkurrenten. Nur knapp verfehlte er die absolute Mehrheit.
Vor der Wahl in Brasilien: Verfeindete Lager
Die einen schwärmen für Jair Bolsonaro, der Ordnung verspricht. Die anderen
setzen auf die Arbeiterpartei. Die Präsidentenwahl spaltet Brasilien.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.