| # taz.de -- Waffen für anständige Bürger | |
| > In Brasilien formiert sich die Rechte neu. Sie wird jünger, radikaler und | |
| > brutaler | |
| Bild: Unternehmer in der Favela Rocinha, Rio de Janeiro | |
| von Anne Vigna | |
| Siegesgewissheit lag in der Luft bei der Eröffnung des Freiheitsforums in | |
| Porto Alegre im vergangenen April. Im Ausland ist die Stadt im Süden | |
| Brasiliens vor allem als Wiege des Weltsozialforums bekannt und als erste | |
| Kommune, die von der linken Arbeiterpartei (PT) regiert wurde. Das war | |
| 1998. Hier findet auch seit 30 Jahren das regelmäßiges Treffen der | |
| neoliberalen brasilianischen Rechten statt. Lange Zeit war es nur den | |
| Eingeweihten vorbehalten, doch seit einiger Zeit wird es zelebriert wie | |
| eine Feiertagsmesse. | |
| Dieses Jahr war der 2600 Gäste fassende Saal gut gefüllt, und alle Redner | |
| strahlten übers ganze Gesicht. „Die liberalen Ideen waren in der | |
| öffentlichen Debatte noch nie so präsent wie heute“, freut sich Hélio | |
| Beltrão, Direktor des Mises-Instituts. Dieser offiziell unpolitische | |
| Thinktank steht in der Nachfolge von Ludwig von Mises (1881–1973), | |
| Gründervater der Österreichischen Schule der Nationalökonomie und | |
| Theoretiker des klassischen Liberalismus. „Wir haben Tausende junger Leute | |
| gegen die Arbeiterpartei auf die Straße gebracht und die Linken aus der | |
| Regierung gejagt. Jetzt glaube ich zum ersten Mal, dass wir 2018 bei den | |
| Präsidentschaftswahlen gewinnen können.“ | |
| Das ist keine leere Prahlerei. Nach 13 Jahren PT-Regierung herrscht in | |
| Brasilien nun die Rechte, auch wenn sie nicht vom Volk gewählt wurde. Nach | |
| der Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff 2016 kam ihr Stellvertreter | |
| Michel Temer an die Macht und setzt seitdem die wirtschaftsliberalen | |
| Rezepte des Freiheitsforums eines nach dem anderen in die Tat um: ein | |
| Verfassungszusatz, der den Anstieg der Staatsausgaben auf die | |
| Inflationsrate des Vorjahrs begrenzt; eine breite Privatisierungswelle; die | |
| Flexibilisierung des Arbeitsmarkts; das Projekt einer Rentenreform, nach | |
| der ein Großteil der Bevölkerung keine Rentenansprüche mehr besitzen würde; | |
| und die Modifikation des Arbeitsrechts, mit der die Definition der | |
| verbotenen, aber in Brasilien weit verbreiteten Sklavenarbeit stark | |
| eingeschränkt wird.[1] | |
| João Doria, Bürgermeister von São Paulo von der sozialdemokratischen Partei | |
| (PSDB, zählt in Brasilien zur Rechten), hielt beim diesjährigen | |
| Freiheitsforum die Eröffnungsrede. Er stellte sich vor als „Unternehmer, | |
| der 15 Stunden am Tag arbeitet“. Seine politischen Ziele: „Weniger Steuern, | |
| weniger Marktregulierung und null Hindernisse für das freie | |
| Unternehmertum.“ Er versprach, die öffentlichen Dienste in seiner Stadt – | |
| etwa die Verwaltung für Parks und Sportstadien – möglichst bald zu | |
| privatisieren, um mit der „Langsamkeit und Bürokratie des öffentlichen | |
| Systems“ aufzuräumen. „Ich nehme lieber Uber-Taxis als Dienstwagen, das | |
| sind ganz neue Gewohnheiten in der Politik“, verkündete er unter donnerndem | |
| Applaus. | |
| Doria gilt als Hoffnungsträger der neuen brasilianischen Rechten, die der | |
| Soziologe Laurent Delcourt als „tropische Tea Party“ charakterisiert. Der | |
| stets wie aus dem Ei gepellte Mann verkörpert aufs Trefflichste den Mythos | |
| des Aufsteigers aus bescheidenen Verhältnissen. Im Wahlkampf um das | |
| Bürgermeisteramt präsentierte er sich als „ehrlicher Arbeiter“ und | |
| vermochte damit sowohl die Armen aus den Vorstädten als auch die Reichen | |
| aus den Villenvierteln São Paulos zu überzeugen. Jede seiner Reden im | |
| letzten Jahr beendete er mit einer Ansage an seinen PT-Konkurrenten | |
| Fernando Haddad: „Zieh Leine und geh nach Kuba!“ | |
| Solche Töne, die sehr nach Kaltem Krieg klingen, sind bezeichnend für die | |
| neuen Rechten. Wie dereinst ist auch heute wieder der Kommunismus der | |
| Feind, der in Gestalt der Arbeiterpartei Brasilien erobern will und | |
| geschlagen werden muss. „Die bolivarianische Ideologie der PT hat die | |
| Kultur, die Schulen, die Nichtregierungsorganisationen und einen Großteil | |
| der Jugend infiltriert. Wenn wir Präsidentin Rousseff nicht abgesetzt | |
| hätten, wäre unser Land heute kommunistisch“, erklärt Rodrigo Tellechea | |
| Silva, Leiter des Instituts für Unternehmerstudien (IEE). Offenbar hat er | |
| vergessen, dass der frühere PT-Chef Luiz Inácio Lula da Silva (Präsident | |
| von 2003 bis 2010) die Börsen ebenso für sich einzunehmen vermochte wie die | |
| Favelas.[2] | |
| Beim Freiheitsforum waren zahlreiche junge Leute anwesend, von denen viele | |
| T-Shirts der Marke Vista Direita („Rechter Blick“) trugen. Über seinen | |
| Onlineshop vertreibt Vista Direita Tassen mit dem Porträt von Maggie | |
| Thatcher und Hemden mit Aufdrucken wie „Be nice, don’t be Communist!“ oder | |
| „Kommunismus tötet – seit 1917“. Die jungen Leute kommen zum Großteil a… | |
| dem brasilianischen Landesverband der Students for Liberty (Studenten für | |
| die Freiheit), einer weltweit agierenden wirtschaftsliberalen Organisation, | |
| die seit 2010 auch an brasilianischen Universitäten Fuß gefasst hat. Drei | |
| Jahre später formierte sich aus ihren Reihen die „Bewegung freies | |
| Brasilien“ (MBL), die bei der Kampagne für die Absetzung von Dilma Rousseff | |
| ganz vorn dabei war. Die jungen Anführer des MBL pflegen einen neuen | |
| Politikstil – mit viel Sarkasmus und Ironie, aber auch mit Beschimpfungen | |
| ihrer Gegner und mit Gewalt. Am 12. April 2015 erklärte der bekannteste | |
| Frontmann der MBL, Kim Kataguiri: „Es reicht nicht, die PT bluten zu | |
| lassen, man muss ihr eine Kugel in den Kopf jagen.“ | |
| ## Hass auf die Linke und alles, wofür sie steht | |
| Die radikale Rechte nutzte die Polarisierung des Landes und die Kampagne | |
| gegen die PT, die seit Juni 2013 an Schwung gewonnen hatte. Damals gab es | |
| in Brasilien die größten Demonstrationen seit dem Ende der Militärdiktatur | |
| im Jahr 1985.[3]Zu Beginn forderten die Demonstranten noch mehr öffentliche | |
| Investitionen in Verkehr, Gesundheit und Bildung. „Der Rechten gelang es | |
| damals auf überraschende Weise, zwei große Strömungen zu vereinen: die | |
| neoliberale und die extreme, identitäre und rassistische Rechte“, erklärt | |
| der Soziologe Delcourt. „Gemeinsam konnten sie die Führung der | |
| Protestbewegung übernehmen und sie auf den Kampf gegen die PT ausrichten. | |
| Dazu nutzten sie vor allem das Thema Korruption.“ Am 20. Juni, gerade | |
| einmal zehn Tage nach Beginn der Proteste, richteten sich die | |
| Demonstrationen nicht mehr allein gegen Haushaltskürzungen oder fehlende | |
| öffentliche Daseinsvorsorge, sondern auch gegen staatliche Gebäude in | |
| Brasília, dem Amtssitz der Bundesregierung, und alle Symbole der | |
| Arbeiterpartei oder einer als korrupt gebrandmarkten Politik. | |
| Im Jahr 2015 förderte eine Ermittlung beim Ölkonzern Petrobras ein System | |
| illegaler Parteifinanzierung durch die großen Baukonzerne zutage. Seit den | |
| ersten Anklagen gegen Manager von Petrobras wurden alle Parteien der | |
| Korruption beschuldigt, doch die Medien und zuständigen Staatsanwälte | |
| widmeten sich zunächst ausschließlich den Vorwürfen gegen die seit 2003 | |
| regierende PT, die als Erfinderin dieses Systems galt.[4] | |
| Die Leute, die damals auf die Straße gingen, waren immer weniger | |
| Durchschnittsbrasilianer: Sie waren weiß, Städter und stammten aus eher | |
| privilegierten Schichten, wie Umfragen ergaben, die eine Gruppe von | |
| Soziologen der Bundesuniversität von São Paulo bei den Demonstrationen | |
| durchgeführt hatte. „90 Prozent der Demonstranten wollten die PT stürzen“, | |
| erläutert die Soziologin Esther Solano, die Leiterin der Studie. „Sie | |
| kritisierten vor allem die Sozialpolitik der Arbeiterpartei: die berühmte | |
| Unterstützung für arme Familien (bolsa familia), die Quoten für | |
| afrikanisch- und indischstämmige Studierende an den Universitäten oder das | |
| Programm ‚Mehr Ärzte‘, mit dem kubanische Mediziner ins Land geholt wurden. | |
| In ihren Reden predigten sie Leistungsorientierung entgegen der | |
| Abhängigkeit vom Staat, die ihrer Ansicht nach das Markenzeichen der PT | |
| ist.“ | |
| Der Hass – und das ist hier tatsächlich der angemessene Ausdruck – gegen | |
| die Linke und alles, was sie repräsentierte, trat vor allem in den sozialen | |
| Netzwerken zutage, besonders in Witzen über Leute aus dem Nordosten, die | |
| als „zurückgeblieben“, „faul“ und „Schmarotzer“ bezeichnet wurden:… | |
| Mischung aus Rassismus (im Norden Brasiliens leben sehr viel mehr Schwarze | |
| als im Süden) und Klassismus, die sich manchmal auch offen auf der Straße | |
| äußerte. Nach Ansicht vieler der bessergestellten Kritiker untergrub die PT | |
| mit bestimmten Rechten für diskriminierte Bevölkerungsgruppen die | |
| Privilegien der Oberschicht. 2013 wurden beispielsweise alle | |
| Privathaushalte gesetzlich verpflichtet, ihre Hausangestellten offiziell | |
| anzumelden, ihnen den Mindestlohn zu zahlen und die Arbeitszeiten | |
| einzuhalten. | |
| Die Rechtsextremen, die eine Machtübernahme des Militärs forderten, waren | |
| bei den Demonstrationen von 2015 in der Minderheit, doch die große Mehrheit | |
| der Protestierenden waren für eine Politik der harten Hand. „Zwischen 70 | |
| und 80 Prozent der Befragten sprachen sich für härtere Strafen und die | |
| Anwendung des Erwachsenenstrafrechts ab 16 Jahren aus“, berichtet Esther | |
| Solano. „Sie äußerten große Bewunderung für Richter und Staatsanwälte so… | |
| für die Bundespolizei, die die Korruptionsermittlungen leitete, allerdings | |
| nur gegen die PT.“ Diese Ergebnisse stimmen überein mit den Umfragen des | |
| staatlichen Meinungsforschungs- und Statistikinstituts (Ibope), das 2010 | |
| und 2016 erforscht hatte, welchen Rückhalt konservative Ideen in der | |
| Gesellschaft finden. Im untersuchten Zeitraum stieg die Befürwortung der | |
| Todesstrafe von 31 auf 49 Prozent, und der Anteil der Menschen, die sich | |
| selbst als sehr konservativ einschätzten, von 49 auf 59 Prozent. „Die | |
| Konservativen, die die Interessen der Großgrundbesitzer, der evangelikalen | |
| Christen und der Armee vertreten, sind im Parlament so gut vertreten wie | |
| noch nie seit dem Ende der Diktatur“, sagt Mauricio Santoro, Professor für | |
| Politologie an der staatlichen Universität von Rio de Janeiro. | |
| Inzwischen ist die Protestbewegung auf dem Marsch durch die Institutionen. | |
| Bei der Kommunalwahl von Oktober 2016 stellte die MBL, die sich bis dahin | |
| als unpolitische Bürgerbewegung präsentiert hatte, 45 Kandidaten | |
| unterschiedlicher Parteizugehörigkeit auf. Zehn davon wurden als Stadt- | |
| oder Gemeinderäte gewählt, einer zum Bürgermeister von Monte Sião (25 000 | |
| Einwohner) im Bundesstaat Minas Gerais. In Porto Alegre wurde Felipe | |
| Camozzato von der Neuen Partei (PN), die mit der MBL verbündet ist, zum | |
| Stadtrat gewählt. „Vor 2015 verstand ich gar nichts von Politik, das | |
| interessierte mich überhaupt nicht“, erzählt er uns lachend. Er engagierte | |
| sich in der Anti-PT-Bewegung mit einer Trommlergruppe von Freunden, die | |
| sich „Verrückte liberale Band“ nannte. Die Gruppe schrieb einen bekannten | |
| Fußballgesang um: „Weine, PT-Anhänger, Bolivarianer!“ Das Lied wurde auf | |
| den Demonstrationen von 2015 gesungen. In seinem Büro im Rathaus erinnert | |
| sich Camozzato: „Wir standen unter den Fenstern der Präsidentin, als sie | |
| nach Porto Alegre kam, und sangen die ganze Nacht, damit sie nicht schlafen | |
| konnte.“ | |
| Solche Provokationen machten ihn berühmt und halfen ihm im Wahlkampf. Seine | |
| wichtigste politische Idee: kein öffentliches Geld für politische Parteien. | |
| Im Jahr 2015, nach dem Korruptionsskandal bei Petrobras, hatte der oberste | |
| Gerichtshof nämlich die private Parteienfinanzierung untersagt. Bis dahin | |
| stammten 70 Prozent der Parteifinanzen aus der Privatwirtschaft. Jetzt | |
| entscheidet der Nationalkongress vor den Wahlen, wie viel Geld im | |
| öffentlichen Wahlkampffonds zur Verfügung gestellt wird. Für das kommende | |
| Jahr, wo die Wahlen von Präsident, Gouverneuren und Abgeordneten in | |
| nationalen und regionalen Parlamenten anstehen, sind 300 Millionen Euro | |
| vorgesehen. „Das ist absurd“, schimpft Camozzato. „Die Parteien müssen | |
| selbst Geld auftreiben, genau wie es die Unternehmer tun!“ | |
| Der 29-jährige Stadtrat gibt zu, dass er keine Ahnung von den Problemen in | |
| seiner Stadt hat; dafür habe er aber alle kommunalen Gesetze geprüft, die | |
| dem Unternehmergeist hinderlich sind. Camozzato tritt für den Waffenbesitz | |
| für „anständige Bürger“ ein und kritisierte „marxistische Richter“, … | |
| Verdächtige auf freien Fuß setzten. Im August bezeichnete er die Bewegung | |
| der wohnungslosen Arbeiter (MTST) als „Banditen“ und „Nichtsnutze“. | |
| „Die Anhänger der MBL schüren gezielt Hass“, sagt der 73-jährige Raul Po… | |
| einer der Gründer der PT und ehemaliger Bürgermeister von Porto Alegre. | |
| „Letztes Jahr wurde ich zum ersten Mal in meinem Leben von einer Gruppe | |
| zorniger Jugendlicher angegriffen, die mich als Kommunisten und | |
| Bolschewiken beschimpften.“ | |
| Meist brechen sich die Aggressionen in den sozialen Medien Bahn, wo die | |
| MBL allein auf Facebook über 2,5 Millionen Follower hat. Brasilien ist für | |
| seine einseitige Presselandschaft bekannt – und auch im Internet gibt es | |
| zahllose Seiten, wo es mehr um Angriff als um Information geht. Laut der | |
| Umfrage der Soziologen von der Universität São Paulo glaubten 71 Prozent | |
| der Befragten, der älteste Sohn von Lula da Silva sei der Besitzer eines | |
| der größten Fleischkonzerne (Friboi) des Landes. 53 Prozent meinten, die | |
| größte kriminelle Organisation des Landes „Erstes Hauptstadtkommando“ | |
| (PCC), sei der bewaffnete Arm der Arbeiterpartei. Im Juli reagierte der | |
| brasilianische Verband der Investigativjournalisten (Abraji) auf die | |
| wiederholten Angriffe gegen Journalisten, die solche Fälschungen | |
| aufdeckten. So wurden die Reporter der Website Agencia Publica, die Fehler | |
| in MBL-Videos über Kriminalität nachgewiesen hatten, von der MBL | |
| attackiert: Sie seien „als Journalisten verkleidete linksextreme | |
| Aktivisten“. | |
| Ein prominenter Politiker tut sich bei solchen Angriffen besonders hervor: | |
| der rechtsextreme Parlamentsabgeordnete Jair Bolsonaro. Er ist | |
| Präsidentschaftskandidat der Sozial-Christlichen Partei und käme derzeit | |
| auf 16 Prozent der Stimmen.[5]Der ehemalige Soldat sitzt seit 1990 im | |
| Nationalkongress und sichert sich mit seinen Provokationen ein großes | |
| Medienecho. | |
| ## Öffentliches Gedenken an den Folteroffizier | |
| Bei der live im Fernsehen übertragenen Abstimmung über die Absetzung Dilma | |
| Rousseffs am 17. April 2016 sagte Bolsonaro, er treffe diese Entscheidung | |
| „gegen den Kommunismus, für die Armee und im Gedenken an Oberst Carlos | |
| Alberto Brilhante Ustra, den Schrecken Dilma Rousseffs“. Dieser Offizier | |
| hatte die spätere Präsidentin, damals Mitglied einer linksextremen | |
| Vereinigung, 22 Tage lang gefoltert, nachdem sie 1970 verhaftet worden war. | |
| Bolsonaro wurde bereits wegen Diffamierungen von Frauen, Schwarzen und | |
| Homosexuellen gerichtlich verurteilt, aber auf Facebook ist er einer der | |
| beliebtesten Politiker, mit über 4 Millionen Followern. | |
| Bolsonaro war auch begeistert von den jüngsten Aussagen des Generals | |
| Antônio Hamilton Martins Mourão, die nicht nur den Opfern der Diktatur | |
| (1964–1985), sondern auch der restlichen Bevölkerung das Blut in den Adern | |
| gefrieren ließen: „Wenn die Institutionen das politische Problem nicht | |
| lösen können, wenn die Justiz nicht alle, die in Verbrechen verwickelt | |
| sind, aus dem öffentlichen Leben entfernt, dann werden wir das tun. Alle | |
| Kameraden aus dem Oberkommando stimmen darin mit mir überein.“[6]Ein paar | |
| Tage später versicherte Mourãos Vorgesetzter, General Eduardo Villas Bôas, | |
| der Oberbefehlshaber der Landstreitkräfte: „Die Verfassung räumt der Armee | |
| ein Mandat ein, um im Falle von Chaos zu intervenieren.“[7] | |
| „Die Verfassung von 1988 ist nach der Militärdiktatur entstanden, natürlich | |
| erlaubt sie nicht, dass die Armee eigenständig in die Politik eingreift. | |
| Aber Präsident Michel Temer ist geschwächt, seine Beliebtheit geht gegen | |
| null, und er verfügt nicht mehr über die Autorität, sich gegenüber der | |
| Armee durchzusetzen“, schreibt die Historikerin Maud Chirio in ihren | |
| Erwägungen über einen möglichen Staatsstreich in Brasilien.[8] | |
| Ob extremistisch, neoliberal oder konservativ: Die Rechte kämpft um die | |
| traditionelle Wählerschaft der Arbeiterpartei, vor allem in den Vorstädten, | |
| wo der Lebensstandard im Verlauf des letzten Jahrzehnts gestiegen ist – | |
| dank linker Sozialpolitik. „Die neue untere Mittelschicht träumt davon, | |
| Unternehmer zu sein und zu konsumieren“, erklärt der Soziologe William | |
| Nozaki, der eine Untersuchung der PT-nahen Stiftung Perseu Abramo leitet, | |
| um herauszufinden, warum die PT in den Vorstädten São Paulos so große | |
| Verluste erlitten hat. „Sie ist sehr empfänglich für das Leistungsdenken | |
| der Rechten und der Evangelikalen und wenig überzeugt von der PT, die immer | |
| noch die Armen anspricht.“ Auch die Vorstädte von Rio de Janeiro haben | |
| mehrheitlich für Bolsonaro und den neuen Bürgermeister Marcelo Crivella von | |
| der Republikanischen Partei (PRB) gestimmt; Crivella ist Bischof der | |
| mächtigen evangelikalen „Universellen Kirche des Reichs Gottes“. | |
| In den Armenvierteln sind die Evangelikalen mit ihrem | |
| konservativ-individualistischen Weltbild stärker vertreten als die | |
| katholische Kirche.[9]Es ist ganz in ihrem Sinne, dass die MBL im September | |
| dafür sorgte, dass die Ausstellung „Queermuseu“ geschlossen wurde, weil | |
| drei der 264 gezeigten Werke nach Meinung der jungen Liberalen „Pädophilie | |
| und Zoophilie verherrlichten und die christliche Kultur verhöhnten“. Die | |
| MBL kritisierte auch das Museum für moderne Kunst von São Paulo wegen einer | |
| Performance, in der ein nackter Mann auftrat. „Das ist ihre Strategie für | |
| die nächsten Wahlen“, meint der Soziologe Pablo Ortellano. „Sie haben | |
| begriffen, dass der ‚Kulturkampf‘ ausgezeichnet zur Mobilisierung taugt und | |
| dass man mit Tiraden gegen Feministinnen, Schwarze oder LGBT die | |
| Konservativen für die Sache der Liberalen gewinnen kann.“ | |
| Ortellano und Solano, die auch beim traditionellen „Marsch für Jesus“, der | |
| jährlich Hunderttausende Gläubige in São Paulo versammelt, Untersuchungen | |
| durchgeführt haben, fanden bei den Evangelikalen jedoch wenig Zustimmung | |
| für wirtschaftsliberale Ideen. „Sie erklären, sie seien konservativ, aber | |
| sie unterstützen trotzdem nicht das Wirtschaftsprogramm von Michel Temer“, | |
| sagt Solano. Das gilt vielleicht nicht nur für die Evangelikalen. | |
| Es ist längst nicht ausgemacht, dass die Radikalisierung der Rechten | |
| künftig auch zu Wahlerfolgen führt. Meinungsumfragen zeigen, dass die | |
| Brasilianer mehrheitlich gegen die von der Regierung vorgeschlagenen | |
| Reformen im Arbeitsrechts und bei den Renten sind. „Das haben wir auch bei | |
| den Demonstrationen für die Absetzung Dilma Rousseffs beobachtet“, | |
| berichtet Solano. „Die große Mehrheit ist nicht für den Rückzug des Staats. | |
| Die Menschen wünschen sich gute Bildung und bessere Gesundheitsvorsorge.“ | |
| Das spricht gegen die Siegesgewissheit der Ultraliberalen vom | |
| Freiheitsforum. | |
| Auch wenn die Rechte an der Macht ist, die extreme Rechte in Militär und | |
| Zivilgesellschaft sich freimütig äußert und die rechten Erneuerer | |
| versprechen, noch radikaler zu werden – Lula da Silva liegt in den Umfragen | |
| für die Präsidentschaftswahl 2018 vorn: 30 Prozent der Wähler würden sich | |
| für ihn entscheiden. | |
| 1↑ Kritik daran gab es sogar von kirchlicher Seite: | |
| [1][www.domradio.de/themen/soziales/2017-10-17/landpastoral-brasilien-kriti | |
| siert-neuregelung-zur-arbeitsausbeutung]. | |
| 2↑ Siehe Geisa Maria Rocha, [2][„Null Hunger“, Le Monde | |
| diplomatique,September 2010.] | |
| 3↑ Siehe Gerhard Dilger, [3][„Kein Wunder in Brasilien“, Le Monde | |
| diplomatique,Juli 2013.] | |
| 4↑ Siehe [4][Anne Vigna, „Gut geschmiert ist viel gewonnen“, in: Le Monde | |
| diplomatique,September 2017.] | |
| 5↑ Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Datafolha vom 3. Oktober. | |
| 6↑ Rede vor der großen Freimaurerloge von Brasília am 15. September 2017. | |
| 7↑ Interview des Senders TV Globo, 20. September 2017. | |
| 8↑ In Libération,Paris, 26. September 2017. | |
| 9↑ Siehe [5][Lamia Oualalou, „Brasilien liebt Jesus“, Le Monde | |
| diplomatique,Oktober 2014.] | |
| Aus dem Französischen von Sabine Jainski | |
| Anne Vigna ist Journalistin in Rio de Janeiro. | |
| 7 Dec 2017 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.domradio.de/themen/soziales/2017-10-17/landpastoral-brasilien-k… | |
| [2] https://monde-diplomatique.de/artikel/!386450 | |
| [3] https://monde-diplomatique.de/artikel/!470240 | |
| [4] https://monde-diplomatique.de/artikel/!5443826 | |
| [5] https://monde-diplomatique.de/artikel/!284427 | |
| ## AUTOREN | |
| Anne Vigna | |
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