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# taz.de -- Workshop zur Selbstliebe: Schamlos glücklich
> Ein Women's Circle soll helfen, die eigene Göttin in sich zu entdecken –
> inklusive trantrischer Meditationen. Wahre Erleuchtung sieht anders aus.
Bild: Zur Meditation gehört auch die Berührung unserer „Yoni“, was der ta…
Nach siebeneinhalb Stunden bin ich an dem Punkt angelangt, an dem ich
nichts mehr mit mir und all dem hier zu tun haben will. Dabei war genau das
nicht Sinn dieses Tages. Ich befinde mich bei einem Workshop zum Thema
Selbstliebe, genauer gesagt bei einem Women’s Circle, bei dem Frauen die
Göttin in sich entdecken sollen.
Nun fühle ich mich aber alles andere als göttinnengleich. Meine
Lendenwirbelsäule schmerzt vom Dielenboden, auf dem ich liege, und das
Atmen fällt mir schwer, weil unser Coach Kathi Lena schon wieder ihr
verfluchtes Räucherstäbchen angezündet hat. Die anderen Frauen scheint das
weniger zu stören. Sie haben sich bei der Vorbereitung auf die
Abschlussmeditation schlauer angestellt und sich mit jeder Menge Yogamatten
und Kissen versorgt. Nun liegen sie in Embryonalstellung um mich herum.
Kathi Lena spricht mit sanfter Stimme von einer imaginären Reise zu unserem
wahren Selbst. Zu Beginn sind wir noch allein, sagt sie, doch dann
erblicken wir ein einsames kleines Mädchen. „Dieses Mädchen seid ihr“,
erklärt Kathi Lena. Und während nun jede von uns ihr inneres Kind an die
Hand nehmen und mit ihm zusammen in ihr ureigenes Paradies eintreten soll,
möchte ich am liebsten schreiend davonrennen.
Dabei hat unsere Workshopleiterin sich in den vergangenen Stunden viel Mühe
gegeben, dass ich – wie sie es ausdrückt – zu meiner besten Freundin werde.
Und ihre Arbeit kommt bei vielen gut an. Bei Instagram hat sie mehr als
11.000 Abonnenten, betreibt bei YouTube einen erfolgreichen Podcast namens
„Seelen Striptease“ und gibt ihren Selbstliebe-Workshop bereits zum 17.
Mal.
„Lasst euch einfach drauf ein“, rät eine Teilnehmerin, die bei Kathi Lena
schon mal eine – angeblich high machende – Kakaozeremonie besucht hat. Noch
bevor wir den Seminarraum betreten, betupft unsere Workshopleiterin meine
Stirn mit Orangenöl und schließt mich so lang und innig in die Arme, dass
ich an eine distanzlose Verwandte denken muss.
## Tantramassage und Sexological Bodywork
Kathi Lena ist Mitte 20 und hat ihr Studium abgebrochen, weil sie anderen
jungen Frauen zu mehr Selbstakzeptanz verhelfen will. In der Schule sei sie
gemobbt worden und einem unerreichbaren Schönheitsideal hinterhergerannt.
Dann entdeckte sie Blogs und YouTube-Kanäle für sich. Es imponierte ihr,
wie offen die Betreiber dort von ihren persönlichen Erfahrungen berichten,
auch sie wollte ihren Weg zu mehr Selbstliebe weitergeben. Erst mit Tipps
zum Veganismus, dann tauchte sie über ein Praktikum beim Rohköstler und
selbsternannten Business-Coach Robert Gladitz vollständig in die Welt der
Netzgurus ein. Nach einem dreiwöchigen Kurs zur schamanischen Yogalehrerin
auf Bali und einer Ausbildung zur Energieheilerin bietet sie seit einiger
Zeit auch analog ihre Hilfe an.
Im Seminarraum sitzt Kathi Lena im Lotussitz unter der goldenen Sonne an
der Wand und sieht so aus, wie man sich eine Heilerin der Generation Z
vorstellt: hüftlanges, wallendes Haar, um den Hals Ornamentschmuck, das
Sweatshirt mit einer indianischen Federkette bedruckt. In der Mitte des
Sitzkreises liegt ein Mandalatuch, darauf: ein Buddha, ein Bergkristall,
pastellfarbene Liebes- und Fruchtbarkeitssymbole.
Während der ersten Meditation geht es darum, sich selbst anzufassen.
Einschließlich unserer „Yoni“, was der tantrische Begriff für Vulva ist.
Und auch, wenn sich meine Hand dabei bloß über der Hose befindet, ist es
ein seltsames Gefühl, sich vor Fremden in den Schritt zu fassen, und
später, dieses Mal unter dem T-Shirt, die eigenen Brüste zu kneten. Wüsste
Kathi Lena von meinem Schamgefühl, würde sie es wahrscheinlich als dringend
zu behandelndes Symptom auffassen, immerhin bildet sie sich momentan in der
Tantramassage und im Sexological Bodywork weiter, eine in Kalifornien
entwickelte Sexualtherapie.
Doch dann geht es zum Glück erst mal darum, sich gegenseitig
kennenzulernen. Denn ein Women’s Circle ist dazu da, dass man abseits von
patriarchalischen Strukturen als Frau gesehen, gehört und angenommen wird.
„Wenn wir Frauen unter uns sind, entsteht eine eigene Energie und ein
besonderer Zusammenhalt“, sagt Kathi Lena, und dass dieser Workshop unser
Leben verändern wird.
## 18 Minuten Blickkontakt
Um aus Fremden Vertraute zu machen, müssen wir uns – bevor wir auch nur ein
Wort miteinander gewechselt haben – zwei Minuten lang in die Augen schauen,
jede mit jeder, das macht insgesamt 18 Minuten Blickkontakt. Puh. Es bewegt
mich, als ich abwechselnd in ängstliche, traurige oder lächelnde Gesichter
blicke, wenngleich nicht so sehr wie andere, denen dabei die Tränen kommen.
In der Vorstellungsrunde wird deutlich: Wir – alle zwischen Anfang 20 und
Mitte 30 – opfern unseren freien Sonntag, weil wir uns im unterschiedlichen
Ausmaß gestresst, ausgebrannt und verloren fühlen. Es wird von
bevorstehenden Kündigungen, Zukunftsängsten, Konflikten mit der Familie und
der Unzufriedenheit mit konventionellen Therapeuten gesprochen. Eine der
Frauen hat bereits einen Klinikaufenthalt hinter sich.
Die Trauer und Verzweiflung um mich herum verschlägt mir die Sprache. Hier
geht es nicht um die Suche nach ein bisschen Seelenwellness, sondern um
handfeste Probleme. Wenn eine zu weinen anfängt, nimmt Kathi Lena sie in
den Arm. Ich glaube, dass unser Coach – egal wie empathisch und positiv sie
auch ist – sich mit dieser Aufgabe höllisch übernimmt.
Daran ändert auch die an sich angenehme Massageübung nichts, bei der wir
laut Kathi Lena „dienen“ und „empfangen“ lernen sollen. Ebenso wenig wie
die „Komplimenterunde“, bei der wir uns gegenüberstehen und uns nette Dinge
sagen sollen, die situationsbedingt ziemlich erzwungen klingen. Oder unser
gemeinsamer Gesang, ein Mantra über Wind, Feuer, Wasser und die Göttin
Kali, zu dem wir Rasseleier im Takt schütteln.
Später stellt Kathi Lena Fragen, die wir für uns selbst beantworten sollen.
„Wer bin ich heute?“ – „Wie war ich in meiner Kindheit?“ – „Wie s…
es, mich selbst zu lieben und mich sein zu lassen, wie ich bin?“ Alles
wichtige Fragen, die ich in der Kürze der Zeit kaum beantworten kann. Aber
wenigstens denke ich mal wieder drüber nach. Am Ende sollen wir uns
versprechen, zwei, drei Dinge in unserem Leben zu verändern, die auch
wirklich umsetzbar sind. Jede setzt handschriftlich ihren eigenen Vertrag
auf, den sie unterschreibt.
## Bier tut's auch
Nach ihrem Workshop hätten Teilnehmerinnen sogar ihren Job gekündigt, hat
Kathi Lena uns erzählt. Mich erinnert die Übung an Neujahrsvorsätze, an die
ich mich leider auch selten halte, obwohl es leichter ist, eine schlechte
Angewohnheit loszuwerden als den eigenen Minderwertigkeitskomplex.
Je länger der Nachmittag dauert, desto suspekter wird mir die
Veranstaltung. Klar, sich selbst zu lieben hilft dabei, sich vor
überzogenen Ansprüchen, ungesunden Hierarchien und ausbeutender Arbeit zu
schützen. Aber ich bezweifle, dass hier mal ein Podcast und da mal ein
Seminartag nachhaltig etwas bewirken können. Statt wirklich zu analysieren,
wo das Problem liegt, doktert man halbherzig an sich herum, und hilft damit
vor allem der florierenden Coachingszene, dem Ratgebermarkt und der
Esoterikbranche. Wer mit sich ins Reine kommen will, muss tiefer graben, im
besten Fall mit einer Psychotherapie.
Meine Einstellung zu mir und meinem Leben verändert dieser okkulte
Kindergeburtstag mit Meditation, Schamanismus, Tantra und
Selbstverwirklichungstipps jedenfalls nicht. Stattdessen entwickele ich
einen Überdruss, mich noch eine Minute länger mit meiner inneren Gesundung
zu beschäftigen. Ich bin für jede Pause dankbar, es macht mir einfach mehr
Spaß, an der frischen Luft zu sein, Zigaretten zu rauchen, und mich mit den
anderen darüber zu unterhalten, wie es uns wirklich geht.
Außerhalb der Übungen lässt es sich nämlich viel tiefgründiger über Sorge…
Nöte und Überlebensstrategien austauschen. Das nächste Mal aber lieber ganz
simpel bei einem Bier.
10 Oct 2018
## AUTOREN
Anna Fastabend
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