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# taz.de -- Missbrauch in der Tantra-Szene: Kommunen ohne Grenzen
> Unsere Autorin recherchierte zu Sexsekten und bewegte sich auch privat in
> der Tantra-Szene. Heute weiß sie um die Schattenseiten vieler Gruppen.
Bild: Publikationen der Centrepoint-Sekte
An einem schwülen Sommerabend stehe ich auf dem Balkon des Gemeindezentrums
von Byron Bay und strecke meine Arme in den tropischen Regen. Es ist
Februar 2012, ich bin auf dem „Taste of Love“-Festival in Australien. Im
Raum hinter mir tanzen Frauen und Männer jeden Alters in Pluderhosen,
Bikini-Tops und Seidenkaftans.
Nach einer Stunde ekstatischen Tanzes – eine rauschhafte Erfahrung, ohne
jegliche Stimulanzien – bin ich euphorisch und verschwitzt. Ich muss mich
abkühlen. Aber nicht nur mein Puls rast. Mein Inneres vibriert. „So will
ich mich immer fühlen“, denke ich, während die Blickkontakte mit anderen
Tanzenden in mir nachwirken. Es ist ein Erweckungsmoment. Etwas in mir ist
aufgebrochen.
Das jährliche Festival ist die größte Versammlung von
[1][Tantra-Lehrer:innen] und schamanisch-sexuellen Heiler:innen in
Australien, auch heute noch. Wofür diese Begriffe stehen, wusste ich damals
nicht. Es war so gar nicht meine Szene. Ich hielt sie stets für die
verkappte Swingerecke der Esoteriker.
Ich arbeitete damals als Auslandskorrespondentin in Neuseeland und ein
Magazin war an einem ironischen Bericht darüber interessiert. Doch an jenem
heißen Tag legte sich ein Schalter um, der mich auf eine zehn Jahre
währende, zutiefst persönliche Entdeckungstour schickte. Gleichzeitig
begann [2][meine Recherche] in Gruppen, in denen manipuliert und Macht
missbraucht wurde und es zu sexualisierter Gewalt kam.
Hunderte von Frauen und Männern reisen 2012 zu jenem Festival an. Tagsüber
nehmen sie an Vorträgen teil und nachts feiern sie – ohne Alkohol oder
Drogen. Die Vorträge auf der Bühne mit lila Samtsofa und plüschigem
Boudoir-Dekor drehen sich um Ganzkörperorgasmen und körperliche Ekstase.
## „Nektar der Götter“
Noch vor der Mittagspause lerne ich, dass weibliches Ejakulat in dieser
Welt der „Nektar der Götter“ ist und der Anus ein heiliges Portal. Am Abend
gehe ich im sexy Kostüm zum Lovers Ball, wo wir uns beim Eröffnungsreigen
gegenseitig minutenlang tief in die Augen schauen. Am nächsten Morgen ist
meine Skepsis verflogen. Ich bin angefixt von dem, was die strahlenden
Menschen auf dem Festival als „Lebensenergie“ bezeichnen.
Es folgen zwei weitere Tage, an denen ich tanze, lache, massiere, laut im
Kreis mit „Ommm“ ausatme und spüre, was Menschen erleben, die von einer
Gruppe, einer Ideologie oder einer charismatischen Persönlichkeit so
angetan sind, dass sie ihr Leben ändern wollen. Es ist das Gefühl, auf
etwas Großes, etwas Elementares, etwas geheimnisvoll Neues gestoßen zu
sein.
Ganz ohne Rekrutierung gibt mir das „Taste of Love“ den ersten Geschmack
bewusster Sexualität. Sie spricht etwas in mir als Feministin mittleren
Alters an, das lange brach lag – eine andere Form von Weiblichkeit, die ich
bisher abgelehnt oder belächelt hatte. Ich fühle mich plötzlich kraftvoll,
jünger, sinnlicher.
Die Veranstalter:innen des Festivals gehören zur International School
of Temple Arts, kurz ISTA, einer weltweiten Organisation. Die Bewegung
dahinter, die mich plötzlich so fasziniert, bezeichnet sich selbst als
„Tribe“, Stamm. Mit dem Begriff „Sekte“ verbinde ich zu diesem Zeitpunkt
vor allem gefährliche Psychokulte wie Scientology, eine moderne
Seelenfängerkirche. So kommt es, dass mein landläufiges Schreckensbild von
Sekten den Blick darauf verstellt, dass sie sich besonders anfangs sehr gut
anfühlen können.
Beim „Taste of Love“-Festival komme ich indirekt auch mit einem sehr viel
radikaleren Tribe in Berührung als dem der sanften Suchenden, von denen ich
in Byron Bay umgeben bin. Und damit beginnt mein nicht geplanter Eintritt
in den Sektenjournalismus.
## Die Recherchereise
Es ist der letzte Tag des Festivals. Im Hof des Gemeindebaus treffe ich auf
Angie Meiklejohn, eine lockige Frau aus Wellington, Neuseeland, 45 Jahre
alt, in engem weißem Kleid. Wir trinken eisgekühlten Chai in der
Mittagssonne und kommen ins Gespräch. Unvermittelt verrät sie mir: „Ich war
in einer Art Sexkult“.
Angie hatte 30 Jahre zuvor als Teenager in Centrepoint gelebt, einer
Landkommune nördlich von Auckland in Neuseeland. Diese war bis zu ihrer
Schließung im Jahr 2000 Neuseelands größte alternative Gemeinschaft. Ein
ehemaliger Kammerjäger namens Bert Potter hatte sie 1977 gegründet. Sein
Handwerk als Verführer hatte er zuvor in Bhagwans Ashram in Indien gelernt.
Er war es, der sogenannte „Encounter-Gruppen“ und Gestalttherapie von der
damaligen Avantgarde aus Kalifornien nach Neuseeland brachte.
Potters Workshops hatten zum Ziel, sexuelle Blockaden bei Frauen zu lösen
und alle zwischenmenschlichen Schranken zu überwinden. Das bedeutete nicht
nur, dass die Toiletten keine Türen hatten, sondern auch, dass
Teilnehmende zum Sex mit möglichst vielen anderen genötigt wurden. Auch
in Österreich etablierte sich zu dieser Zeit eine solche Sekte: die
Otto-Mühl-Kommune, mit ähnlicher Philosophie, und den gleichen verheerenden
Konsequenzen.
Erst in den 90er Jahren, als Angie Mitte 20 war, wurde Centrepoint, wo
zeitweise bis zu 300 Menschen lebten, erstmals von der Polizei gestürmt.
Bei zwei Razzien wurden ein Dutzend Mitglieder verhaftet, wegen der
Herstellung von Ecstacy und LSD, die in Gruppenexperimenten mit Teenagern
genommen wurden. Und wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern.
Bert Potter, der sich von seinen Anhängern „Gott“ nennen ließ, sowie
weitere Männer und Frauen kamen ins Gefängnis. Bis zu seinem Tod beharrte
Potter darauf, dass er nichts falsch gemacht habe, dass „intime
Erfahrungen“ zwischen Kindern und Erwachsenen natürlich und befreiend
seien.
2010 brachte die Massey Universität in Auckland eine Studie heraus, die ein
düsteres Bild der ehemaligen Kommune zeichnete: Ein Drittel der
Centrepoint-Kinder war sexuell missbraucht worden, nicht nur von Potter.
Die meisten Kinder hatten emotionale Vernachlässigung erlebt. Die Folgen:
Suchtverhalten, Identitätskrisen, Suizidversuche und zerrüttete Familien.
All das ist mir nicht bekannt, als Angie und ich 2012 unseren Chai trinken.
Auch wenn es die Kommune nicht mehr gibt, kann Angie ihr Schweigen erst
langsam brechen. Sie sagt mir nur: „Ich war die Konkubine der Kommune“.
Angie und ich bleiben in Kontakt. Bert Potter stirbt noch im selben Jahr
und Angie beginnt, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Sie begreift, dass sie
in einer Therapiesitzung vom Guru unter Drogeneinfluss vergewaltigt wurde
und als Überlebensstrategie in der Gemeinschaft promiskuitiv wurde. Dass
sie sich deshalb danach prostituiert hat und alkoholabhängig wurde. Der
Schatten von Neuseelands Sexsekte hängt über Angies Leben und dem vieler
anderer Ex-Kommunen-Mitglieder, eine große unverheilte Wunde, ohne jede
Vergangenheitsbewältigung.
Die ehemalige Psychosekte, die einem utopischen Ideal freier Liebe folgen
sollte, aber zum kollektiven Alptraum wurde, lässt nun auch mich nicht mehr
los. In den darauffolgenden Jahren wird sie meine Obsession. Ich bekomme
einen Buchvertrag und beginne, nach weiteren früheren
Centrepoint-Mitgliedern zu suchen. Es sind die persönlichen Schicksale und
desaströsen Spätfolgen, die mich beschäftigen.
Mein Interesse stammt auch daher, dass ich mich zu der Zeit selbst neu zu
einer Bewegung hingezogen fühle, in der radikale Hau-Ruck- und
Schrei-Therapie, Seelenwäsche, sexuelle Befreiung und offene Beziehungen
zum Repertoire gehören. Und Kommunen haben mich immer fasziniert. Auch
deshalb will ich die Pioniere, die einst für ihren Traum jeden Besitz
aufgaben, nicht grundsätzlich verdammen. Hätte ich nicht eine ebensolche
Idealistin sein können?
„Centrepoint bestand aus durchschnittlichen, normalen Menschen“, sagte
Angie einmal zu mir, „keine Monster oder Freaks.“ Statt die Parallele zu
mir und meiner plötzlichen Faszination für die Neo-Tantra-Bewegung zu
sehen, will ich wissen: Was ist in Centrepoint schiefgelaufen? Was dachten
die vielen Frauen, die um einen Platz in Bert Potters Bett konkurrierten?
Und die Eltern, die dem 60-Jährigen ihre Töchter zur Entjungferung
überließen? Wie konnten Familien daran nicht zerbrechen?
Ich spreche mit Dutzenden von Überlebenden und Geschädigten auf der einen,
und Mitläufern, Vertuschern und verurteilten Sexualstraftätern auf der
anderen Seite. Darunter auch eine Frau, die Teenager in Potters Arme
getrieben hat und ins Gefängnis kam. Sie weint und will sich bei Angie
entschuldigen. Doch das Interview zieht sie später zurück.
Anfang 2014 treffe ich Louise Winn. Ich hatte über sie nur gehört, dass sie
das „Mädchen im Caravan“ gewesen sei, wegen der jemand schließlich die
Polizei alarmierte – allerdings erst viel zu spät, nachdem sie jahrelang
missbraucht worden war. Sie galt danach als verschollen. Es brauchte viele
Anrufe bei abweisenden Familienmitgliedern, bevor ich ihre Nummer bekam.
Ich machte mir keinerlei Hoffnung und es dauerte weitere Wochen, bis sie
abnahm. Doch im Gegensatz zu anderen Überlebenden war sie nicht
misstrauisch oder erschrocken. „Bist du sicher, dass du das machen
willst?“, fragte sie mich mitfühlend am Telefon.
Als ich an ihre Tür in Auckland klopfe, tritt eine unscheinbare Frau mit
praktischen Halbschuhen und Katzenhaaren auf dem Pulli heraus. Louise sagt,
sie habe gerade ein Beruhigungsmittel genommen. Wir setzen uns draußen auf
eine Bank. Die nächsten zwei Stunden sind verstörend.
Louise erzählt, dass sie mit zehn Jahren nach Centrepoint kam, ihre Mutter
suchte dort therapeutische Hilfe. Ab dann war das Mädchen allein, ihre
Eltern waren mit sich selbst und anderen beschäftigt. Sie wurde von ihnen
getrennt und sah sie selten. Drei Monate nach der Ankunft wurde das
schmächtige Mädchen in Bert Potters Bett gelockt. Meist war seine Frau
dabei. Louise wusste nicht, dass das nicht normal ist. Später begann sie,
sich mit Müll im Wohnwagen auf dem weitläufigen Centrepoint-Gelände zu
verbarrikadieren, damit die Männer sie dort nachts in Ruhe ließen. Louise
versteckte sich im Gebüsch, machte sich unsichtbar, wusch sich nicht mehr.
„Ich habe alles versucht“, sagt sie.
Als Louise mit 14 endlich Centrepoint verließ, legte sie sich einen neuen
Namen zu, um nicht mehr das schmutzige Kind zu sein, als das sie sich
empfand. „Nicht die ideale Kindheit“, sagt sie mit rauer Stimme. „Anderen
erzählte ich, ich hätte auf einer Farm gelebt.“
Ihre Vergangenheit hat sie stets für sich behalten, mit einer Ausnahme, als
sie vor Gericht aussagte. Ich bin die erste, die ihre Geschichte persönlich
erfährt. Über Stunden erzählt sie, ich höre zu. Jetzt ist sie 47, lebt
allein, hat Angststörungen. Die hat sie, seit Bert Potter beschloss, dass
ihr Jungfernhäutchen medizinisch entfernt werden sollte. Sie raucht, ich
weine. Es ist ein Wendepunkt, für uns beide.
## Der Kreuzzug
Nach diesem Treffen bin ich nicht mehr bloß auf Recherche, sondern auf
einem Kreuzzug. Ich will, dass die Beschöniger kapieren, für was sie
mitverantwortlich sind. Ich schlage Louise ein Treffen mit einer ehemaligen
Centrepoint-Mutter vor, die die Kommune später als Aktivistin mit zu Fall
brachte. Vielleicht kann sie helfen.
Einen Monat später sitzen wir zu dritt im Wohnzimmer von Barri Leslie. Die
Stimmung ist erst herzlich, dann immer angespannter. Louise sitzt auf dem
Sofa, ihr Körper gebeugt, ihr gegenüber Leslie, die viel redet und die Zeit
damals aus ihrer Sicht erklärt. „Ich habe mich so furchtbar allein
gefühlt“, presst Louise schließlich heraus, „Vier Jahre lang. Niemand kam
mir zur Hilfe.“
Mit elf Jahren hätte Louise versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden,
sagt sie. Daraufhin habe Bert Potter sie gezwungen, eine Woche lang täglich
zu ihm zu kommen, um mehr „Liebe“ zu erfahren. Als sie das knapp erwähnt
und dabei Tränen der Wut unterdrückt, zuckt die ältere Frau zusammen. „Das
wusste ich nicht“, murmelt sie. Es quält sie sichtbar, aber eine
Entschuldigung kommt ihr nicht über die Lippen.
Am nächsten Tag rufe ich Louise an. „Ich will alle Erwachsenen von
Centrepoint zusammen in einen Raum stecken“, sagt sie mit brüchiger Stimme
und zieht an ihrer Zigarette. „Und ich will ihnen ins Gesicht schreien:
‚Wie konntet ihr nur?‘ Und sie es fühlen lassen.“ Ich zittere. Ich habe
meine professionelle Distanz verloren.
Die Jahre, in denen ich mich tiefer und tiefer in das Geflecht aus
Verdrängung, Widersprüchen und Horrorerlebnissen verstricke, hinterlassen
Spuren bei mir. Ich verliere mich in einer Parallelwelt, die nur die
Centrepoint-Opfer verstehen, und ich spüre eine wachsende Überforderung.
Alle Geschichten und Gerichtsfälle scheinen miteinander verwoben, ein
undurchdringbares Dickicht. Immer wieder ecke ich mit meinen Recherchen an:
Ein prominentes Opfer, das bereits im Fernsehen war, will plötzlich anonym
bleiben und beauftragt einen Anwalt, der gegen meinen Verlag vorgeht. Auch
andere drohen. Immer öfter fühle ich mich überwältigt, verstört und allein.
2014 gebe ich auf. Mein Buchprojekt ist vorerst gescheitert.
## Die Selbsterfahrung
2012 beginnt auch eine weitere Reise, die länger andauert als jene
abgebrochene Recherche. Nachdem ich auf dem „Taste of Love“- Festival
Ekstase erlebte, will ich mehr davon. Bewusstseinserweiterung und
authentische Verbindungen – all das spricht mich plötzlich an.
In den nächsten Jahren begebe ich mich auf Selbsterfahrung rund um die
Welt. Ich besuche vor allem Kurse von ISTA, jener Organisation, die auch
das Festival dominiert hatte. Beruflich stößt mich ab, was ich über die
Folgen vermeintlicher sexueller Befreiung in der einstigen
Centrepoint-Kommune erfahre, privat finde ich in der neuen Szene jedoch
Bereicherung.
ISTA, 2007 in Arizona entstanden, dehnte sich über Australien und Europa zu
einer weltweiten Organisation aus. Seitdem haben rund 13.000 Menschen in 48
Ländern einwöchige Trainings durchlaufen, die bis zu 2.000 Euro kosten. Ein
lukratives Geschäft. Die Struktur der Organisation, die sich selbst als
„Organismus“ bezeichnet, ist fluide, der Umgang herzlich.
Der erste ISTA-Kurs, den ich 2013 in Australien nach dem Festival besuche,
ist eher entladend als erotisch. Wir trommeln auf Kissen ein oder brüllen
in die Hand, um aufgestaute Gefühle loszuwerden. In
Psychodrama-Rollenspielen geben wir uns gegenseitig, was wir von unseren
Eltern nicht bekommen haben. Ich bemale meinen Körper mit rotbrauner Farbe,
die wie Blut aussieht, und robbe mit verbundenen Augen auf dem Bauch durch
den Regenwald – ein wildes, animalisches Spiel. Jeden Morgen sitzen wir in
“sharing circles“ zusammen, um unsere Ängste, Verletzungen und Sehnsüchte
auszudrücken.
Mein neues Ich fühlt sich nach dem seelischen Extremsport fantastisch an.
Ich bin süchtig nach der Intensität der Begegnungen, der Flucht aus dem
Alltag, und hole mehr und mehr Freunde dazu. Die Führungsfiguren um mich
herum finde ich inspirierend. Noch. Bei den anstrengenden
Rund-um-die-Uhr-Trainings über mehrere Tage schlafe ich im Mehrbettzimmer,
ohne Verschnaufpause, werde mitgerissen von Ritualen, vom Tanzen, von
Gefühlsausbrüchen. Mein Gehirn entlädt einen Cocktail aus Dopamin,
Serotonin, Oxytocin und Endorphinen, ohne Unterlass. Die amerikanische
Sektenforscherin Margaret Singer hat die Psychowirkung und manipulative
Beeinflussung in solchen Large Group Awareness Trainings (LGATs),
Großgruppen-Bewusstsein-Trainings, bereits in den Neunzigern erforscht und
davor gewarnt. Zu dem Zeitpunkt aber kenne ich ihre Texte noch nicht.
Irgendwann biete ich mich als Workshop-Assistentin an. Meine Aufgabe ist
es, Kleingruppen zu leiten, in denen man sich aussprechen kann. Ich biete
Hilfestellung für jene, die sich mit dem Programm schwertun. Einmal
verlässt eine Teilnehmerin während eines schamanischen Abendrituals, bei
dem die meisten nackt sind, den Raum. Es ist ihr zu viel. Ich laufe ihr
hinterher und versuche, sie zur Rückkehr zu überreden. Dass das übergriffig
sein könnte, ist mir nicht bewusst. Ich bin ein Rad im ISTA-Getriebe, mit
besten Intentionen, die Gruppe zusammenzuhalten.
Manchmal beobachte ich, wie sich Kursleiter arrogant und anmachend
verhalten. Der US-amerikanische Gründer Robert Nichols, Baba Dez genannt,
hat eine Art Harem aus jüngeren Geliebten um sich geschart. Er sieht wie
ein ewiger Surfer aus – gebräunter Körper, lange Haare, charmant – und
brüstet sich damit, mit 2.000 Frauen geschlafen zu haben. Andere eifern ihm
nach. Es ist ein offenes Geheimnis, dass es zu Sex zwischen Kursleitern und
der Kundschaft kommt – im Gegensatz zu vielen Tantra- und Bodywork-Schulen
bei ISTA kein Tabu. Die interne Richtline besagt, dass körperliche
Intimität jedoch nur von den Teilnehmenden initiiert werden kann. Wie
problematisch das angesichts des Machtgefälles, der Heilungsversprechen und
des charismatischen Sogs dieser Männer ist, verdränge ich. Fünf Jahre vor
MeToo habe ich blinde Flecken. Und der Drang, weiter dabei zu sein, ist zu
groß. Da mir selbst bisher nichts Böses widerfahren ist, ignoriere ich die
Schattenseiten und will mehr vom Guten. Denn für meine Beziehung ist
vieles, was ich an Neuem lerne, positiv. Auch mein Mann kommt mit auf die
Abenteuerreise.
In den sozialen Medien bemerke ich jedoch, wie Kritik an ISTA als Hexenjagd
bezeichnet oder „Klatsch“ abgetan wird. Wer offen Vorwürfe gegen Baba Dez
und andere äußert, bekommt zu hören, es sei eine „Projektion“. Diese Form
von Manipulation, auch als „Victim blaming“, Opfer-Bezichtigung, bekannt,
steht für mich mehr und mehr im Widerspruch zu all dem Reden über Liebe und
Wahrheit.
## Die Wende
Nach der MeToo-Welle vergeht ein weiteres Jahr, bis sich mein Blick auf
ISTA schlagartig verändert. Es ist 2018, als in Thailand eine international
bekannte Yoga- und Tantra-Schule namens Agama von einem Missbrauchsskandal
erschüttert wird. 31 Frauen haben Übergriffe gemeldet – inklusive
Vergewaltigungsvorwürfen gegen den rumänischen Leiter der Schule und andere
Lehrer. Als ich davon erfahre, findet meine Sektenrecherchepause ein jähes
Ende.
Ich fliege nach Thailand auf die Insel Koh Phangan, besuche Agama und finde
weitere Opfer. Der Guru ist indes vorerst von der Insel geflohen. Die
Recherche öffnet mir die Augen über den Druck, der Frauen und Männer in
Praktiken trieb, die sie später bereuten, oder wegen denen sie bis heute in
psychia-trischer Behandlung sind. Von der „Meditation“, die der Guru privat
bei sich anbot, die aber erzwungenen Sex mit ihm bedeutete. Eine Frau soll
nach verordnetem Gruppensex eine Psychose erlitten haben. Eine andere
sollte die Sklavin des Gurus werden, sich ihm ausliefern, um dadurch zu
„heilen“.
Mit einem Mal sehe ich Parallelen zu Centrepoint – aber auch zu dem Umfeld,
in dem ich mich selbst die letzten Jahre über bewegt habe. Genau wie bei
Centrepoint war auch Agama voller netter, kluger, offener Menschen:
spirituell Suchende, die „fernöstliches Wissen“ vertiefen oder eine
Yogaausbildung machen wollten. Agama nannte sich Yoga-Universität, die
Studierenden kamen von überall her. Ich erfahre, dass es auch bei Agama
wie damals bei Centrepoint Versuche gab, die Schule von innen zu verändern
– von denen, die sich am patriarchalischen System und der misogynen
Machokultur stießen. Sie liefen auf. Manche Agamis waren geblieben, bis es
zu spät war, zu gehen – tief verstrickt in ein System, das über Jahre ihr
Leben bestimmt hat. Oder sie blieben so lange, bis sie nicht länger
weggucken konnten. Nun ist die gesamte Community in Aufruhr. Auch in
anderen Ländern fallen Sexualstraftäter und Scharlatane spiritueller
Gemeinschaften vom Sockel. Die Wellness-Welt erlebt ihren MeToo-Moment.
Die kalifornische Sektenforscherin Janja Lalich hat 1997 in ihre Studie
„The Psychosexual Exploitation of Women in Cults“ erforscht, dass 40
Prozent aller Frauen in Sekten, ob christlich oder esoterisch, sexuell
missbraucht werden. In allen totalitären Gruppen, nicht nur denen, die wie
Agama international Schlagzeilen machten, spielt Sexualität eine zentrale
Rolle. Sie wird entweder unterdrückt, verzerrt, amplifiziert oder
vorgeschrieben. Sexuelle Kontrolle ist ein Teil der Machtausübung. Als ich
das Standardwerk „Cults in our midst“ lese, das Lalich mit der Expertin
Margaret Singer geschrieben hat, habe ich Aha-Momente, die meine früheren
Workshop-Highs entmystifizieren: Wer im Strudel eines Kurses auf den
gleichen Durchbruch wie die anderen Teilnehmer hofft – erst recht, wenn
viel Geld bezahlt wurde – wird kaum vor anderen die Stimme erheben, wenn
sich etwas in der Gruppendynamik falsch anfühlt. Erst recht nicht, wenn man
dann zu hören bekommt, dass man im „Opferbewusstsein“ feststecke oder
seinen eigenen „Schatten“ noch nicht bearbeitet habe. Die Botschaft: Dein
Problem bist immer du selbst.
## Die Aufarbeitung
Ernüchtert fliege ich zurück nach Neuseeland, aber mit Zwischenstopp in
England. Ein letztes Mal bin ich dort Assistentin bei ISTA. Die beiden
Leiterinnen, die ich mag und respektiere, sind für meine Warnungen, dass
ihre Schule irgendwann wie Agama enden könne, nicht offen. Der Kurs ist bis
auf den letzten Platz gefüllt und wir Helfer am Limit. Der Geräuschpegel
der vielen Schreie, die Dramen und Eruptionen ermüden mich. Vieles kommt
mir jetzt performativ und erzwungen vor. Doch dann gibt es wieder magische
Momente und ich schwelge in Ekstase.
Meine Selbsterfahrungsreise, die 2012 in Byron Bay begonnen hatte, sollte
auch dort enden. Ich melde mich wieder für einen Kurs an, [3][diesmal das
„Wheel of Consent“, oder Konsens-Rad], das auch am Anfang jedes ISTA-Kurses
gelehrt wird. Ich lerne, was im Nervensystem passiert, wenn jemand
traumatisiert ist. Und dass man ein inneres „Ja“ oder „Nein“ kaum auf
Achterbahnfahrt im Erlebnisrausch spüren kann, wenn durch mangelnde
Privatsphäre und pausenlose Intensität Grenzen missachtet werden.
Der Konsens-Kurs ist eine Offenbarung. Keiner meiner ehemaligen Kursleiter
war in diesen Fragen kompetent gewesen. Während der Tage in Byron Bay
kommen im Internet neue Skandale über andere Tantra-Schulen wie TNT in den
Niederlanden ans Licht. Und auch über einen ehemaligen prominenten
ISTA-Lehrer vom „Taste of Love“-Festival. Am Rande einer ähnlichen
Veranstaltung in Europa war er in Einzelsitzungen, die er Frauen anbot,
sexuell übergriffig gewesen. Die Neo-Tantra-Szene, der ich erst so
skeptisch und später offen begegnet war, ist für mich verdorben. Ich höre
auf, die ISTA-Kurse zu empfehlen, in die ich mich einst gestürzt hatte.
Erst mal brauche ich Abstand. Dann Aufarbeitung.
In den folgenden Monaten und Jahren habe ich viele Fragen an mich selbst:
Wie konnte ich mich in dieser Bewegung verlieren? War ich nur süchtig nach
den intensiven Begegnungen, der Flucht aus dem Alltag? Und welche Rolle
habe ich als Assistentin in dem verwobenen Machtgefüge des ISTA-Tribes
gespielt? Vielleicht war der Wunsch, zu den Coolen zu gehören, größer als
der Respekt vor den persönlichen Grenzen anderer. Plötzlich kann ich mich
mit denen identifizieren, die die Schattenseiten von Agama und Centrepoint
zwar erkannten, aber ihre Freundschaften und das Gruppengefühl nicht
verlieren wollten. Mir wird klar, dass es kein Zurück mehr gibt. Das löst
auch Trauer aus.
Ich bin nicht ausgebeutet oder missbraucht worden, habe weder Freunde noch
Familie aufgegeben, konnte mir die Kursgebühren leisten. Niemand drängt
mich, weiterzumachen oder überschüttet mich wegen des Ausstiegs mit Hass.
Dennoch fühle ich mich wie eine Verräterin.
Auf einer Sektenkonferenz lerne ich, dass jeder und jede anfällig dafür
sein kann, verführt und manipuliert zu werden. Wer in eine sektenähnliche
Gruppe gerät, ist weder dumm noch schwach. Im Gegenteil. Oft sind es
erfolgreiche, sozial engagierte, offenherzige Suchende, getrieben vom
Wunsch nach einer besseren Welt. Sektenexperten sagen, diese Suche
könne ewig andauern, bis man das verlorene Paradies in neuer, scheinbar
besserer Umgebung findet. Das wird in der Branche „Cult hopping“ genannt.
Auch mein Blick auf Centrepoint und Agama verändert sich mit Loslösung von
ISTA. Je mehr ich realisiere, was mich an diese Szene gebunden hat, desto
weniger verurteile ich jene pauschal, die in einer abgeschlossenen Umgebung
sehr viel extremere Dinge hatten geschehen lassen. Wo hätte ich mich –
unter deutlich mehr Druck – wohl auf der Mitläuferskala bewegt?
## Das Nachspiel
2021 bekomme ich einen neuen Buchvertrag und greife meine früheren
Recherchen wieder auf. Jetzt interessiert mich weniger, welche Rolle die
loyalen Anhänger einst in ihrer Minidiktatur spielten, sondern, wie sie
sich nach dem Zusammenbruch des Systems verhielten. Halten sie nach wie vor
an der alten Ideologie fest – oder sind sie in einen Aufarbeitungsprozess
involviert, der den Betroffenen hilft?
In Neuseeland haben sich bisher nur wenige aus der Centrepoint-Gemeinschaft
für einen Wiedergutmachungsprozess engagiert. Erst vor zwei Jahren gab es
anlässlich einer TV-Dokumentation einen Appell der ehemaligen Sektenkinder
an das Gewissen der Älteren. Agama Yoga in Thailand existiert nach wie vor,
als sei der Missbrauchskandal von 2018 nie passiert – mit dem
Hauptverantwortlichen an der Spitze der Schule anstatt vor Gericht. Die
Vergewaltigungen wurden zu spät angezeigt, nach drei Monaten waren sie in
Thailand bereits „verjährt“.
Als ich 2022 mein Buch im zweiten Anlauf zu Ende bringe, erreicht
schließlich auch ISTA ein Shitstorm. Ein Jahrzehnt lang war die
Organisation unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit weltweit expandiert,
auch in Europa, USA, Asien und Israel gibt es Festivals. Doch plötzlich
vernetzen sich über 600 Leute in einer Facebook-Gruppe, wo mehr und mehr
problematische bis schockierende Vorfälle ans Licht kommen – bis hin zu
Vergewaltigungs- und Selbstmordvorwürfen. Das ist auch für mich neu.
In den folgenden Monaten werden über 60 Berichte von einer unabhängigen
Gruppe namens Safer Sex-Positive & Spiritual Communities (3SC) gesammelt.
Darin geht es um Sex zwischen Lehrenden und Teilnehmenden, um das
Verschleiern von schweren Vorwürfen, um Manipulation und Machtmissbrauch.
Aktivisten kontaktieren Veranstaltungszentren, um Kurse zu canceln.
ISTA reagiert mit juristischen Drohungen, aber auch mit ersten
Veränderungen wie Traumafortbildung für die „Fakultät“ und einem
verbesserten Feedback-System für Beschwerden. Geschädigten wird Mediation
angeboten. Intimer Körperkontakt zwischen Kursleitung und Teilnehmerschaft
ist seit November 2022 vorübergehend unterbunden, eine endgültige
Entscheidung darüber sei in Arbeit, heißt es. Es sei „oberste Priorität“,
dass man in ISTA-Räumen sicher „Nein“ sagen könne, schreibt mir ein Lehrer
auf Anfrage. Auf seiner Website distanziert sich ISTA vom umstrittenen
Gründer.
Doch ein Hauptbeschuldigter ist nach wie vor in der Führungsspitze: Ohad
„Pele“ Ezrahi, ein ehemaliger Rabbi, der Anfang des Jahres versucht hat,
trotz angekündigter Pause heimlich einen Kurs abzuhalten – ausgerechnet auf
Koh Phangan, der Insel des Agama-Dramas. Im April wurde er in Israel wegen
eines sexuellen Übergriffs angezeigt.
Unabhängig davon, ob sich der Tribe von seinen Tätern trennt, ist meine
Recherchereise vorbei. Betroffenen helfe ich weiter, und ich versuche, eine
Sektenberatungsstelle in Neuseeland mit aufzubauen. Meine Sehnsucht nach
fremden Ufern und echter Gemeinschaft aber bleibt.
Anke Richter lebt als Korrespondentin und taz-Kolumnistin in Neuseeland.
Ihr Buch Cult Trip: Inside the world of coercion & control (HarperCollins,
2022) stellt sie am 4. Juli in der taz-Kantine vor.
20 May 2023
## LINKS
[1] /Sexualtherapeutinnen-ueber-Tantra-Szene/!5885320
[2] /Sektenkonferenz-in-Manchester/!5605838
[3] /Zu-Besuch-in-einem-Kurs-zu-Konsens/!5598114
## AUTOREN
Anke Richter
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