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# taz.de -- Esoterik und Religion: Die Spiritualisierung des Abendlandes
> Mit Kirche können viele nichts anfangen. Aber die großen Fragen nach dem
> Sinn des Lebens bleiben. Können Yoga, Kakaozeremonien und Meditation
> helfen?
Bild: Ein Massageworkshop auf dem Colourfest-Festival im englischen Dorset
Berlin/München taz | Nathalie Geßlers Wohlfühlabstand liegt bei etwa einem
Meter. Weiter will sich die junge Frau nicht auf ihr unbekanntes Gegenüber
zubewegen. Sie bleibt stehen, spürt nach, ob sie richtig steht. Dann stemmt
sie die Fäuste in die Taille, lächelt und nickt: Ja. Hier ist gut. Davon,
dass andere Zweiergruppen neben ihr weiterhin aufeinander zutippeln, lässt
sie sich nicht beirren. Nathalie Geßler hat ihren Platz gefunden, obschon
sie später sagen wird: „Gar nicht so einfach, sich selbst zu spüren.“
Es ist Sonntagvormittag in einem Hotel in der Münchner Innenstadt. Die
Sonne scheint in einen leeren, mit Teppichboden ausgelegten Raum unterm
Dach. „Speaking Truth“ heißt der Workshop, für den sich Geßler zu Beginn
des Tages entschieden hat. „Die Wahrheit sprechen“.
Sieben Veranstaltungen an einem Wochenende wird die 32-Jährige, die mit
ihren schwarzen Yogaleggings und dem brünetten Pferdeschwanz aussieht wie
sehr viele hier, am Ende des Tages absolviert haben: zweimal 90 Minuten
Yoga, einen Atem- und Singworkshop, einen Meditationskurs, einen Vortrag
über Hochsensibilität in Beziehungen und eine schamanistische
Kakaozeremonie mit Musik und Anrufung der „Spirits“, deren 30 Plätze derart
begehrt sind, dass kurz die Stimmung zu kippen droht, als einige
Zuspätgekommene den Raum wieder verlassen müssen.
Außerdem im Festivalprogramm: Lichtatmung, Trommelreisen, Herz-Klang-Yoga,
Ecstatic Dance, ein Workshop mit dem Titel „Der sinnliche Draht zur
außersinnlichen Welt“ und jede Menge Mitsingkonzerte, bei denen
Sanskritmantren geschmettert werden.
Am Ende wird Nathalie Geßler sagen, dass sie Aktivitäten wie diese von
jetzt an mehr in ihr Leben integrieren wolle, „auch wenn ich nicht mit
allem gleich viel anfangen konnte.“
## Eine zweite Hippie-Welle?
„Agápe Zoe“ – „Die Liebe zum Leben“, heißt das Festival, für das s…
Geßler etwa 400 größtenteils junge, eher sportlich als esoterisch
aussehende Menschen angemeldet haben. 140 Euro kostet das Ticket für beide
Tage.
Spiritualität, Schamanismus und Selbsterforschung sind anschlussfähig an
den einigermaßen gut situierten urbanen Mainstream geworden. „New Age“, die
Esoterikbewegung der Hippies aus den sechziger Jahren, und alles, was zu
diesem schwammigen Begriff gehört, scheinen das Spinner-Image abzustreifen.
Immer mehr Menschen sind auf der Suche nach dem Hier und Jetzt. Nach der
Stille und dem, was in ihr entstehen kann. Ist das eine neue, eine zweite
Hippie-Welle?
Nathalie Geßler mutet in ihrem schwarzen Microfaser-Sportleibchen nicht
sehr hippiesk an. Ihren Lebensunterhalt verdient sie festangestellt in der
Marketingabteilung der Motorradsparte von BMW. In ihrer Freizeit macht sie
am liebsten mehrtägige Touren mit ihrer Reiseenduro. „Dass ich auf dieses
Festival gehe, habe ich nur zwei guten Freundinnen erzählt“, sagt sie. Zwar
würde sie ihre Teilnahme nicht verheimlichen, wenn sie jemand danach
fragte. Aber sie wolle sich auch nicht jeder x-beliebigen Kritik aussetzen.
Die Akzeptanz für solche Veranstaltungen mag zwar generell wachsen,
gleichwohl werden allzu spirituelle Herangehensweisen ans Leben oft
belächelt.
Das zeigt auch die Sprache, mit der JournalistInnen oft über Esoterisches,
Übersinnliches und ganz generell nicht rational Belegbares berichten. Von
Quacksalbern, Hokuspokus und Scharlatanen ist da die Rede. Auch in der
[1][taz].
Was aber, wenn man das Bedürfnis von Menschen nach Spiritualität mal ernst
nimmt und fragt: Was suchen sie in Kakaozeromonien und beim Yoga? Und was
finden sie da?
Nathalie Geßler sagt am Abend nach dem Festival bei einem Salat und einer
Weinschorle in einem italienischen Schnellrestaurant: „Ich möchte
selbstbestimmt und bewusst leben, in meiner eigenen Realität – und nicht
nur alles von der Gesellschaft abgucken, was die einem vorgibt.“
## „Wir wollten Millionäre werden“
Was sie um sich herum beobachtet, beschreibt Geßler mit eher düsteren
Attributen: Prestige, Hierarchie, Fremdbestimmung, Stress, Aufopferung,
Erschöpfung. „Manchmal habe ich den Eindruck“, sagt sie, „alle Menschen …
mich herum rennen denselben vorgefertigten Idealen hinterher: Man hat zu
heiraten, eine Familie zu haben, Kinder zu bekommen, ein Haus zu bauen,
viel zu arbeiten und Geld zu verdienen.“ Was aber, wenn man merkt, dass
einen dieser Weg nicht glücklich macht?
Das Agápe-Zoe-Festival, für das sich Geßler auf der Suche nach Antworten
angemeldet hat, stammt aus Berlin, findet dort alle paar Monate statt und
ist seit drei Jahren regelmäßig gut besucht. Sein Initiator, Tony
Sarantopoulos, 50 Jahre, kinnlange Locken, Dreitagebart, Typ Sonnyboy,
stellte sich 2013 ganz ähnliche Fragen wie Geßler.
„Burn-out, schwere Depression, Midlife-Crisis, nenn es, wie du willst“,
sagt er in einer Nische des Münchner Hotels, in dem das Festival
stattfindet. Sarantopoulos kommt aus Mülheim an der Ruhr, früher war er
Barbesitzer. Dann rackerte er sich zwölf Jahre lang im Vertrieb des
Outdoor-Modelabels seines jüngeren Bruders ab.
„Wir hatten einen Traum“, erinnert er sich. „Wir wollten Millionäre werd…
und uns dann ein Haus in Griechenland kaufen.“ Das sei zwar nach einigen
Jahren möglich gewesen, aber der Bruder wollte dann doch nicht aufhören.
„Es lief so gut, und er wollte nicht loslassen.“ Das trieb Sarantopoulos in
die Depression: „Weil ich etwas gemacht habe, was ich eigentlich gar nicht
mehr wollte. Ich habe nur noch funktioniert.“
Mit dem Bruder verstand er sich immer schlechter, die Beziehung zu seiner
Partnerin ging in die Brüche. Auf einer Tauchsafari in Ägypten lag er
nachts an Deck und blickte voller Fragen in den Himmel. „Ich habe eine
Antwort von den Sternen bekommen“, sagt Sarantopoulos und lacht, weil er
weiß, dass das ein bisschen seltsam klingt. „Die Antwort war: Du hörst mit
allem auf und machst ab sofort nur noch Dinge, die dich glücklich machen.“
Es war wie ein Pakt, den er mit sich selbst abschloss.
## „Alter, genieß dein Leben!“
Drei Jahre lang ging er danach auf Reisen, hielt Ausschau nach neuen Werten
und alternativen Heilmethoden für sein Ausgebranntsein und die Depression.
In Guatemala spürte er zum ersten Mal die Wirkung von Rohkakao, die er als
„herzöffnend“ beschreibt. Tatsächlich enthält Rohkakao Wirkstoffe, die m…
Botenstoffen im Gehirn wie Serotonin oder Dopamin, den sogenannten
Glückshormonen, interagieren.
Auf einem Atoll in Belize, umgeben von fluoreszierendem Plankton und einem
Sternenhimmel, wie man ihn nur dort sieht, wo es keine Lichtverschmutzung
gibt, erlebte er die Natur in einer Schönheit, die er als mystisch und
lebensverändernd verstand.
„Ich hatte sofort eine Verbindung zum Universum und dachte: Wie schön ist
diese Welt! Wir leben im Paradies und kriegen es kaum mit. Gleichzeitig
habe ich mich so klein gefühlt: Ich, mit meinen ach so großen Problemen.
Und ich dachte: Alter! Genieß dein Leben!“
Schließlich landete er in Arambol, am bekanntesten Hippiestrand im
indischen Goa. „Dort habe ich mich zum ersten Mal barfuß in Trance getanzt
– ohne Bierchen“, sagt Sarantopoulos. „Ich habe mich so frei gefühlt.“…
Zustand, den er behalten wollte. Statt aber wie andere auszusteigen und in
Indien zu bleiben, beschloss er, in Berlin zu organisieren, was ihn auf
seinen Reisen fasziniert hatte.
Wie man Events plant, wusste Sarantopoulos aus seiner Zeit als Barbesitzer
und Partyveranstalter. Zu seinem ersten Festival im Juli 2015 in
Berlin-Neukölln kamen 40 Referent:innen und 400 Gäste. „Das hat so eine
Welle geschlagen“, sagt er, „als hätten alle nur darauf gewartet.“
## Spiritualität als Antidepressivum
Dass es nun auch Ableger in München und Hamburg gibt und eine weitere
Veranstaltung in Köln vorgesehen ist, ist nur eines von zahlreichen
Indizien: Hier breitet sich eine Szene aus, deren Methoden und
Überzeugungen zwar an die New-Age-Bewegung der sechziger Jahre angelehnt
sein mögen, aber längst massentauglich sind.
Die Szene selbst lässt sich nur schwer definieren. Davon, „in Verbindung zu
gehen“, ist oft die Rede, mit sich selbst, und dem, was um einen herum
geschieht, auch mit der Natur, die unter menschengemachten Belastungen
leidet. Davon, „dass alles eins“ sei, zusammengehalten von einer
umfassenden Kraft. Und dass für inneren Frieden „innere Arbeit“ und
„Selbstliebe“ notwendig seien, weil man sonst nicht in der Lage sei, den
eigenen „Seelenauftrag“ zu erfüllen.
Vieles hat mit dem Bedürfnis zu tun, den eigenen Geist dazu zu erziehen,
den nie enden wollenden Strom aus Beurteilungen und Konditionierungen zu
unterbrechen. Man will für Ruhe sorgen, „zu sich kommen“. Fühlen statt
denken, „achtsam“ sein und damit „im Hier und Jetzt“.
Könnte Spiritualität also auch eine Antwort darauf sein, dass Depressionen
mittlerweile zu den weltweit häufigsten Krankheiten gehören und
Hauptursache von Berufsunfähigkeit sind? Spiritualität als Heilmittel für
die Leiden einer modernen Gesellschaft?
Die Möglichkeiten, sich auf die ein oder andere Art „selbst zu erfahren“,
sind heute unendlich: Reisen in einen indischen Aschram, die zu Zeiten von
John Lennon und Timothy Leary noch einer avantgardistischen Elite
vorbehalten waren, sind heute all inclusive zu haben.
## Türen in unbekannte Bewusstseinssphären
Vielleicht hat die neue Sinnsuche im Ungewissen auch mit der
flächendeckenden Therapieerfahrung zu tun. Es ist eingeübt: Für jedes
Problem gibt es eine Lösung, und man kann dazu auch das eigene Innenleben
heranziehen. Man ist Selbstreflexion gewohnt. Wer noch weiter gehen will,
wendet sich womöglich – über den Umweg von Yoga oder Meditation –
irgendwann der Spiritualität oder dem Schamanismus zu.
Zur Indienerfahrung kommen seit einigen Jahren die Rituale und Lehren des
Schamanismus aus Nord- und Südamerika. Während die buddhistische
Erleuchtung nur auf dem steinigen Pfad der Meditation und Egoüberwindung zu
erreichen ist, bietet die südamerikanische Variante konsumierbare und daher
käuflich zu erwerbende Abkürzungen an. Mithilfe von Ayahuasca, einer stark
DMT-haltigen „Heilpflanze“, die ähnlich wie LSD, Magic Mushrooms und Peyote
Türen zu anderen Bewusstseinssphären aufstößt, wird eine schnellere
Befreiung von seelischem Leid in Aussicht gestellt.
Früher suchte man diese Befreiung vielleicht in traditioneller
Religiosität, bei Jesus, Gott und dem Heiligen Geist. Religion hat
allerdings für weite Teile der Bevölkerung stark an Bedeutung verloren.
Die Fragen nach dem Sinn des Lebens, auf die die Wissenschaft keine Antwort
hat, wollen jedoch partout nicht verschwinden. Aber was genau ist
Spiritualität überhaupt?
Heinz Streib ist Professor an der Uni Bielefeld und leitet die Abteilung
„Biografische Religionsforschung“. 2009 veröffentlichte er zusammen mit
seiner Kollegin Barbara Keller eine Studie zum Thema Dekonversion in den
USA und Deutschland, also zu der Frage, warum Menschen ihre
Religionsgemeinschaft verlassen.
## Ein jahrhundertealtes Konzept
Die Studienteilnehmer:innen sollten – zum ersten Mal in Deutschland – in
einem Fragebogen nicht nur selbst einschätzen, wie religiös sie sind,
sondern auch, wie spirituell. Dabei trat eine neue Kategorie zutage:
Menschen, die angaben, „mehr spirituell als religiös“ zu sein; die also
durchaus an etwas glauben, so die Interpretation, deren Glaube jedoch ohne
Bindung an klassische Religionen funktioniert.
„Plötzlich finden es die Leute schick, spirituell zu sein, Religion ist
nicht mehr in“, sagt Streib, der selbst evangelischer Theologe ist, am
Telefon. „Das ist für Theologen und Religionswissenschaftler auch ein
theoretisches Problem.“
Spiritualität, eigentlich ein jahrhundertealtes Konzept, sei lange Zeit nur
innerhalb der Religion denkbar gewesen, in der christlichen oder
islamischen Mystik etwa.
Streib und sein Forschungsteam fanden aber heraus: Auch Menschen, die nicht
im klassischen Sinne religiös sind, suchen bisweilen nach etwas, das hinter
aller Rationalität liegen mag, und machen sogenannte
Transzendenzerfahrungen – Tony Sarantopoulos’ ehrfürchtiges Staunen in den
Nächten auf dem karibischen Atoll kann als solche gelten. Sie deuten diese
Erfahrungen nur außerhalb institutionell-religiöser Kategorien.
„Diese Menschen haben häufig kein Gottesbild“, sagt Streib, „jedenfalls
kein personalisiertes.“ An die Stelle Gottes trete beispielsweise die Natur
oder die Suche nach dem inneren Selbst. Skeptisch sei er zunächst gegenüber
dieser Gruppe gewesen, gibt Streib zu. Mittlerweile aber habe er
dazugelernt: „Da finden Menschen, die sich mit Religion nicht
identifizieren können und von der Kirche nichts halten, eine
Sprachmöglichkeit für ihre Erfahrungen, die sie sonst nicht hätten.“
## Das Göttliche in der Natur und in einem selbst
Ein Mitarbeiter Streibs zog in einer gesonderten Untersuchung weitere Daten
aus dem Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung aus den Jahren 2008 und
2013 heran. Er stellten fest: JedeR Fünfte in Deutschland schätzt sich als
„eher spirituell als religiös“ ein. Besonders interessant sind in dieser
Hinsicht die sogenannten Konfessionslosen, also jene, die entweder nie
einer Kirche angehört haben oder die getauft, aber ausgetreten sind. 32
Prozent von ihnen sind zwar einerseits Atheisten, glauben also nicht an
Gott, bezeichnen sich aber dennoch als spirituell.
Streib und Keller haben in einer weiteren semantischen Erhebung auch nach
einer Definition von Spiritualität gefragt und insgesamt 740 Antworten
ausgewertet. Spiritualität ist demnach für die „mehr spirituellen als
religiösen Atheisten“ unter anderem ein Gefühl von „(All-)Verbundenheit u…
Harmonie mit dem Universum, der Natur und dem Ganzen“, eine „innere Suche
nach einem (höheren) Selbst, nach Sinn, Frieden und Erleuchtung“, „eine
Erfahrung von existenzieller Wahrheit, (einem) Ziel oder (einer) Weisheit
jenseits rationalen Verstehens“, zum Teil auch ein „Bewusstsein für eine
nichtmaterielle, unsichtbare Welt, übernatürliche Energien und Wesen (z. B.
Geister)“, sowie das „Festhalten an und Einhalten von Werten und Moral in
Bezug zur Menschlichkeit“.
Streib und Keller sprechen hier von „horizontaler Transzendenz“, die das
Göttliche nicht vertikal, sondern in der Natur oder im eigenen Selbst
wahrnimmt.
„Diese ‚mehr spirituellen Nichtreligiösen‘ sind eine ernst zu nehmende
Gruppe“, sagt Streib. 2012 lag ihr Anteil bei 5 beziehungsweise 13 Prozent
– je nachdem, welche Umfrage man auswertet. „Das ist nicht sehr viel, aber
auch nicht marginal“, so der Wissenschaftler. Neuere Erhebungen zu dieser
Frage gibt es nicht. Nach 2013 wurde im Religionsmonitor nicht mehr nach
Spiritualität gefragt.
In Berlin kann man mittlerweile fast wöchentlich eine Kakaozeremonie
besuchen. Besonders zu Voll- und Neumond häufen sich die Veranstaltungen:
Kakao und Kuscheln, Kakaomeditation, Kakaosingkreis, Kakao und Ecstatic
Dance. Immer gehört ein schamanisch inspiriertes Ritual dazu, das darin
mündet, gemeinsam eine „rituelle Dosis“ unbehandelten Rohkakaos zu trinken,
der entspannend und stimmungsaufhellend wirkt. In der Vorstellung dabei:
„Mama Kakao“ oder „Pacha Mama“, Mutter Erde, die über allem wacht, die…
um Schutz und Hilfe für die Zeremonie bittet und die sich, so der Mythos,
aufgemacht hat in die urbanen Zentren dieser Welt, um vor der Zerstörung
des Lebensraums, des Regenwalds oder des Planeten zu warnen.
## Panflöten, Urwaldvögel, Räucherwerk
Weniger bekannt, weil illegal, aber auch sehr begehrt sind
Ayahuasca-Zeremonien. Dabei wird, eingebettet in ein südamerikanisch
inspiriertes schamanistisches Ritual, ein Sud aus DMT-haltigen Pflanzen
konsumiert, der zu Erbrechen und Zuständen erweiterten Bewusstseins führt.
Festivalgründer Sarantopoulos hat bereits damit experimentiert. „Reisen,
Psychotherapie und Ayahuasca haben mich von meiner Depression geheilt“,
sagt er. Eine These, an der durchaus etwas dran sein könnte, wie
[2][aktuelle Studien über halluzinogene Substanzen ergaben].
Fast jedes Elektrofestival bietet mittlerweile eine „Healing Area“ an; auch
dort gibt es Rohkakao zu trinken, man kann Yogastunden besuchen, unter
Anleitung meditieren und in Workshops etwas über sein schamanisches
Krafttier erfahren. Auf „Sacred Raves“ in Berlin-Kreuzberg wird statt
Alkohol und anderen Drogen Rohkakao konsumiert. In die Elektrobeats mischen
sich Panflötenklänge, spanische Vocals und die Rufe tropischer Urwaldvögel.
Statt Zigarettenrauch schwebt über alldem der süßliche Geruch von
Räucherwerk wie weißem Salbei oder Palo Santo, einem tropischen Holz, das
bei schamanischen Ritualen in Lateinamerika entzündet wird, um den Ort von
„negativer Energie“ zu befreien.
Ist das alles wirklich neu?
Fragt man Hubert Knoblauch, lautet die Antwort: In der Erscheinungsform
vielleicht, inhaltlich jedoch nicht. Der Soziologieprofessor an der TU
Berlin empfängt im Rahmen seiner Sprechstunde für Studierende und bittet in
ein von Bücherwänden eingefasstes Büro im neunten Stock eines schmucklosen
Universitätsneubaus.
Knoblauch hat bereits 2009 ein Buch geschrieben, das sich mit moderner
Spiritualität befasst. „Populäre Religion“ heißt es. Untertitel: „Auf …
Weg in eine spirituelle Gesellschaft.“ Darin räumt Knoblauch schon in der
Einleitung mit der Behauptung auf, Religion und Religiosität seien im
aufgeklärten Abendland vom Aussterben bedroht. „Es gibt bestimmte
menschliche Fähigkeiten, die die Grundvoraussetzung für menschliche
Religiosität sind“, sagt Knoblauch. „Die wichtigste ist die Fähigkeit zum
Transzendieren.“ Zur Erklärung nimmt er einen Stoß Papiere und hält ihn
sich vors Gesicht. „Sie wissen, dass auf der anderen Seite etwas ist, ohne
denken zu müssen“, sagt Knoblauch. „Der nichtsichtbare Gott hat zunächst
auch keine andere Qualität.“
Mit anderen Worten: Menschen sind auch deshalb geneigt, an etwas zu
glauben, schlicht weil sie in der Lage sind, es sich vorzustellen, so der
Soziologe. Seine These: Religion verschwindet nicht – auch nicht in der von
Wissenschaft und Rationalität geprägten Moderne. Sie verändert sich nur.
Genauer: Sie passt sich der Gesellschaft an.
## Das Individuum als Sinn-Ressource
„Der Boom der Alternativmedizin“ titelte der Spiegel im August 2018 und
wertete die Gesundheitsprogramme von rund 350 Volkshochschulen aus. Das
Ergebnis: In fast jedem vierten Volkshochschulkurs im Bereich Gesundheit
wird ein alternativmedizinisches Verfahren gelehrt, dessen Wirksamkeit
nicht wissenschaftlich erforscht ist. Darunter: Ayurveda, Bachblüten,
Kinesiologie, Edelsteinheilkunde, Klangschalenmassage, Aromatherapie,
Chakrentanz und hawaiianische Lomi-Lomi-Massage, sowie „Yoga- und
Qigongkurse, sofern diese nicht als reine Fitnessgymnastik im Programm
angekündigt sind.“ Rund 35 Prozent der Volkshochschulkundin:innen belegen
Kurse in diesem Bereich. Für Hubert Knoblauch, den Soziologen, sind auch
dies Anzeichen einer „Popularisierung der Religion“.
„Was wir heute wahrnehmen, begann im 19. Jahrhundert“, sagt der Soziologe.
Der Westen entdeckte den Hinduismus und den Buddhismus für sich. Dieses
Wissen und auch das über bewusstseinserweiternde Drogen wurden zunächst von
den Eliten aufgenommen und diffundierte dann allmählich. Dass es in den
letzten Jahren vermehrt Interesse findet, führt Knoblauch auf die
Beschaffenheit unserer Gesellschaft zurück: „Heute mehr denn je gilt das
Individuum als Ressource für den Sinn des Lebens“, sagt er. Das „große
Andere“, also das Göttliche, werde nicht mehr notwendigerweise gebraucht,
um dem Leben Bedeutung zu verleihen.
„Einerseits werden wir von Anfang an, also schon mit zwei, drei Jahren, als
Hauptverantwortliche unseres Lebens fortwährend adressiert, ohne uns hinter
Familie oder anderen verstecken zu können“, führt Knoblauch aus.
„Andererseits müssen wir, weil das passiert, in uns selbst die Ressourcen
für alles Mögliche finden – Innovation, Kreativität, aber eben auch Sinn.�…
Individuen seien jedoch oft nicht so originell wie erhofft oder von der
Gesellschaft erwartet. „Deshalb suchen sie nach Erklärungen und Formaten,
die heute marktförmig vertrieben werden.“ Um dafür Anhaltspunkte zu finden,
müsse man nur mal vor die Tür gehen, sagt Knoblauch. „Dass im Bereich
Spiritualität eines Tages Dienstleister auftreten und dass da auch Kunden
kommen, um diese Angebote wahrzunehmen, das war in den Neunzigern noch
unvorstellbar.“ Und heute? „Yogastudios überall.“
Rebecca Randak sitzt auf einer Decke auf dem Parkettboden, klappt das
Harmonium auf und beginnt, zu den akkordeonähnlichen Lauten des indischen
Instruments zu singen: „Shariram surupam tatha va kalatram“ intoniert sie
mit lauter Stimme den Beginn eines Sanskritverses. Die etwa dreißig
Yogaschüler:innen vor ihr singen ihn ihr nach.
## Talks, Chants, Sonnengrüße
Randak, 35, Ponyfrisur, schwarze Leggings, graues Supermanshirt, ist seit
fünf Jahren Yogalehrerin und unterrichtet in einem Studio namens „Peace
Yoga“ in Berlin-Kreuzberg. Jivamukti heißt der Stil, in dem sie ausgebildet
ist, „Befreiung im Diesseits“ auf Deutsch, gegründet von zwei New Yorkern
im Jahr 1984. Eine schweißtreibende, auf westliche Schüler:innen
zugeschnittene Praxis, die fast immer mit Musik, oft begleitet von
elektronischen Clubbeats, unterrichtet wird. Dennoch gehören auch
spirituelle Elemente dazu. Es wird geommt, meditiert, es werden „Chants“
gesungen, und es gibt sogenannte „Talks“, die stets einem mehr oder weniger
spirituellen Thema gewidmet sind.
Um Konsum gehe es in dieser Stunde, erklärt Randak, während die
Schüler:innen auf der Matte eine Yogaposition halten. Randak liest die, wie
sie sagt, „relativ freie Übersetzung“ des Chants vor: „Selbst wenn du gut
aussiehst, wenn du einen schönen Partner hast, wenn du berühmt bist und
Berge von Geld besitzt: Wenn du nicht in der Lage bist, dich vor deinem
Lehrer zu verneigen – wozu ist das dann alles gut?“
Unter Randaks Anleitung wechseln die Schüler:innen in die Hocke, drücken
die Knie mit den Ellenbogen auseinander und verschränken die Hände in
Gebetshaltung vor der Brust.
Was mit diesem Vers gemeint sei, erklärt Randak, sei die Notwendigkeit, in
Verbindung zu gehen. „Zu sich selbst, zu dem, was ist, zu Mutter Erde.“
Jeder Mensch und jede Situation, die ihm im Leben begegne, könne als Lehre
verstanden werden; nachdem sie ihren „Talk“ beendet hat, leitet Randak die
Schüler:innen zu den ersten Sonnengrüßen an.
Nach der Stunde zieht sie sich einen überdimensionalen Hoody über den Kopf.
„Holy Shift“ steht darauf. Nach der Bedeutung gefragt, muss sie lachen.
„Zunächst mal ist das natürlich ein Scherz“, sagt sie. Holy Shift statt
Holy Shit. Aber ja, es stecke auch Wahrheit darin. Es lasse sich
tatsächlich ein wachsendes Bedürfnis in der Gesellschaft beobachten – ein
Bedürfnis nach Spiritualität.
## Yoga ist inzwischen an der Börse
Rebecca Randak betreibt den Yoga-Blog „Fuck Lucky Go Happy“. Zwischen
60.000 und 70.000 Besucher:innen habe die Seite monatlich, so Randak. Die
gebürtige Münchnerin, die zuvor in einer PR-Agentur gearbeitet hat,
beschäftigt zwei feste Mitarbeiterinnen und hat Dutzende Autor:innen, die
für sie schreiben. Als Bloggerin beobachtet sie die Entwicklung der
Yogaszene sehr genau.
„Vor fünf Jahren ging es noch darum, Yoga von seinem uncoolen
Räucherstäbchenimage zu befreien“, sagt Randak. „Wir wollten den Leuten
zeigen, dass sich Yoga mit einem urbanen Lebensstil vereinbaren lässt, aber
auch, dass Yoga sehr viel mehr ist als nur Sport – nämlich Philosophie; ein
tiefes Sich-selbst-Kennenlernen und die Verbindung zu der Welt um einen
herum.“
Während Yoga mittlerweile fest im Leben vieler – vor allem mehr oder
weniger privilegierter – Menschen etabliert sei, sei derzeit ein neuer
Trend zu erkennen. Nämlich das, was Randak durchaus kritisch „den
Ausverkauf des Schamanismus“ nennt. „Plötzlich tragen alle Ponchos und
Federohrringe und hängen sich Panflöten um den Hals, weil sie so spirituell
sind.“ Eine Begleiterscheinung, die sie vom Yoga kennt.
Die Yogabranche ist zu einem Milliardenmarkt herangewachsen. Der
Bekleidungshersteller Lululemon, der in erster Linie Yogaleggings und
Sportleibchen verkauft, ist seit 2007 ein börsennotiertes Unternehmen.
„Aber um dieses ganze dekorative Beiwerk geht es halt nicht“, sagt Randak.
Die Bloggerin kann den Trend herleiten: „Ich glaube, dass der Schamanismus
den Menschen ein bisschen mehr in seiner Not sieht mit seinen alltäglichen
Problemen als Yoga “, sagt sie.
## Auf der Suche
Yoga bringe die Menschen zwar ins Fühlen zurück, zum Atem, ins Hier und
Jetzt. Was dann aber aufkomme, die Fragen, die Gefühle, die Traumata, das
alles werde im Yoga nur sehr allgemein beantwortet.
„Schamanismus dagegen bietet konkrete Tools und Praktiken, und auch
Rituale, die es ermöglichen, sich den ganz Seelenmüll anzugucken.“
Gründe, warum sich Menschen spirituellen oder schamanistischen Methoden
zuwenden, gibt es also viele. Eine generelle Unzufriedenheit wie bei
Nathalie Geßler und Burn-out-Erfahrungen, wie Festivalgründer Tony
Sarantopoulos sie erlebt hat, können jemand dazu veranlassen, nach tiefer
gehenden Antworten zu suchen. Viele unterteilen ihr Leben dann, ähnlich wie
Konvertiten in klassischen Religionen, in ein Vorher und ein Nachher.
Andere finden über die Religion zu einer Spiritualität, die abseits der
klassischen Religionen liegt. Das belegt auch Heinz Streibs biografische
Religionsforschung. Neben der Gruppe der spirituellen Atheist:innen tauchen
„gleichermaßen religiöse, wie spirituelle“ Menschen in seiner Erhebung au…
Wieder andere schließlich befanden sich schlicht „schon immer“ auf der
Suche nach Antworten, wie Yogalehrerin Rebecca Randak. „Meine Mutter ist
Psychotherapeutin. Ich bin in einem Umfeld aufgewachsen, in dem man auch
große metaphysische Fragen gestellt und über die Dinge gesprochen hat“,
sagt sie.
Besonders der Tod ihres Stiefvaters und der ihres Großvaters haben Randak
nachhaltig beeindruckt. „Jeder, der schon mal einen toten Menschen gesehen
hat, weiß: Das ist zwar noch der Körper des Menschen, den man gekannt hat,
aber der Mensch selbst ist nicht mehr da.“
Sie wollte wissen: Wo geht dieser Mensch hin und was ist es eigentlich, was
da geht?
22 Apr 2019
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Marlene Halser
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