# taz.de -- Dekorationswahn: Pflanzen sind keine Beistelltische | |
> Zimmerpflanzen sind wieder unumgänglich, sowohl im Büro als auch zu | |
> Hause. Man kann sie aber nicht wie Möbel behandeln. Sie leben. | |
Bild: Blumen im Topf haben auch Gefühle | |
Weiß doch jeder, dass wir und sämtliche Tiere Sauerstoff einatmen und | |
Kohlenstoffdioxid ausatmen, während die Pflanzen umgekehrt CO2 aufnehmen | |
und Sauerstoff abgeben. Sie sind somit die Grundlage unserer Existenz. In | |
Wohnungen und Büros verbessern Topfpflanzen die Luft. Als die taz vor vier | |
Monaten [1][in ihr neues Haus zog] – bestehend im Wesentlichen aus Beton, | |
Stahl und Glas –, schafften die Mitarbeiter erst einmal viele Pflanzen an. | |
Ein Großteil der Yuccapalmen, Birkenfeigen, Monstera und Aloen, die im | |
Konferenzsaal standen, zog mit in das neue Haus – in einen Mehrzwecksaal | |
für Tischtennis, Yoga und Abschiedsfeiern. | |
Ich freute mich schon, dass sie dort nicht mehr ständig Stuhllehnen ins | |
Kreuz bekämen, die ihnen Blätter, Zweige und Blüten abrissen. Stattdessen | |
wurden sie nun aber bei größeren Partys umgestellt – und verloren dabei | |
ebenfalls Blätter und Zweige, eine Pflanze ging sogar ein. Der Umzug hatte | |
sie bereits gebeutelt. Hinzu kamen jetzt noch die trockene Neubauluft und | |
ein anderer Lichteinfall. Da sie sich nach der Sonne ausrichten, bedeutet | |
jede Standortveränderung, die für Pflanzen sowieso widernatürlich ist, | |
„Stress“, wie man ein Übermaß an Zumutungen heute nennt. | |
## Sibirische Schamanen | |
Ein sibirischer Schamane versicherte einem Ethnologen einmal: Wenn man | |
einen Stein nimmt und woanders hinlegt, braucht er 15 Jahre, um sich zu | |
beruhigen. Bei den Pflanzen dauert das zwar nicht so lange, aber ihr | |
Wachsen – Blühen und Gedeihen – verzögert sich doch auch jedes Mal um | |
einige Zeit. | |
Bei vielen Mitarbeitern habe ich den Eindruck, dass sie die Pflanzen wie | |
Möbel und/oder Lifestyle-Attribute behandeln. Da die taz sich die Ökologie | |
auf ihre Fahne geschrieben hat und von vielen Vegetariern gemacht wird, ist | |
das fast unverzeihlich. Man machte mich auf Kataloge für moderne | |
Wohnungseinrichtungen aufmerksam: Auch dort hat man die Möbel mit | |
Topfpflanzen aufgehübscht, die Tische mit echten Blumen bestückt und die | |
Regale mit Buchrücken. Alles Deko. | |
Dies setzt sich fort in Banken, Versicherungen und Einkaufscentern, die | |
ebenfalls nicht auf lebende Pflanzen verzichten wollen, wahrscheinlich, um | |
sich auch den Anschein zu geben, ein Herz für alles Lebende zu haben. Viele | |
Firmen mieten ihre Repräsentationspflanzen von Gärtnereien, gelegentlich | |
sogar die Topfpflanzen für die Büros ihrer Mitarbeiter. Diese dürfen dann | |
das Grün an ihrem Arbeitsplatz jedoch nicht anfassen. Begießen, Düngen, | |
Umtopfen, Beschneiden – für all das ist die Vertragsgärtnerei bzw. ihr | |
Servicepersonal zuständig. Von der freundlichen Serviererin bis zum | |
optimierten Server – für alles hat man heute Diener (auch in der taz). | |
Als das noch nicht der Fall war, in den sechziger Jahren, konnte man mit | |
Büropflanzen großartige Erkenntnisse gewinnen: wie etwa der für | |
Spesenabrechnungen zuständige FBI-Mitarbeiter Cleve Backster, der aus | |
Langeweile ein Blatt seines Drachenbaums auf dem Schreibtisch an die | |
Elektroden eines Lügendetektors anschloss: Nichts rührte sich, auch nicht, | |
als er das Blatt in Kaffee tauchte und die Pflanze schüttelte. Dann kam ihm | |
die Idee, Feuer unter das Blatt zu halten. Schon bei dieser Absicht schlug | |
die Nadel des Detektors heftig aus. Seitdem spricht man vom | |
„Backster-Effekt“ – begeistert oder skeptisch. | |
Immerhin: Als die Autorin [2][Hilal Sezgin] auf dem taz lab 2014 ihren | |
Veganismus damit begründete, dass Pflanzen ja keine Gefühle hätten, erntete | |
sie Hohn und Spott vom Publikum. Zufällig lief zur selben Zeit in der | |
HdKW-Ausstellung „Animismus“ ein sowjetischer Dokumentarfilm, der zeigte, | |
wie von zwei nebeneinander in Töpfen stehenden Rotkohlpflanzen eine | |
zerschreddert wurde und die andere laut einem elektronischen | |
Aufzeichnungsgerät vor Angst fast wahnsinnig wurde. | |
## Bonner Pflanzenneurologen | |
Inzwischen gibt es auch an vielen Universitäten im Westen eine derartige | |
Pflanzenforschung, an der Universität Bonn sogar Pflanzenneurologen: „Für | |
uns gibt es zwischen Tieren und Pflanzen kaum Unterschiede“, so Professor | |
Dieter Volkmann. So dachten, nebenbei bemerkt, auch meine Eltern. Aber ich | |
wollte von Florianne Koechlin reden, der Schülerin des Basler Biologen | |
Adolf Portmann, die Jahr um Jahr Interviews mit Pflanzenforschern | |
veröffentlicht, Theoretikern und Praktikern. Ihre Sammelbände haben Titel | |
wie „Zellgeflüster“, „Pflanzenpalaver“ und handeln von der „List der | |
Hirse“, von „schwatzhaften Tomaten“, „wehrhaftem Tabak“ und „Was Er… | |
hören“. Zusammen mit dem ehemaligen taz-Redakteur Benny Härlin, heute | |
Büroleiter der „Zukunftsstiftung Landwirtschaft“, hat sie die „Rheinauer | |
Thesen zu Rechten von Pflanzen“ zusammengestellt, die Grundlage dafür sind, | |
dass der Schweizer Ethikrat beschließen möge: Pflanzen sind nicht länger | |
eine „Sache“ – ein seelenloser Gegenstand. | |
Der Wissenssoziologe Bruno Latour ist optimistisch: „Irgendwann wird man es | |
genauso seltsam finden, dass die Tiere und Pflanzen kein Stimmrecht haben – | |
wie nach der Französischen Revolution, dass bis dahin die Menschenrechte | |
nicht auch für Frauen und Schwarze galten.“ | |
19 Mar 2019 | |
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## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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