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# taz.de -- Debatte Ökologisch Aufräumen: Finger weg von meinen Stehrumchen!
> Besser leben ohne Marie Kondo. Warum eine mit schönen Dingen
> vollgestopfte Wohnung eine echte Bereicherung sein kann.
Bild: „Does it spark joy?“ Egal! Es sieht hübsch bunt und dekorativ aus
Fangen wir mit einer ganz unglücklichen Formulierung an: „Ich will ja nicht
… ABER!“
Ich gehe – wie wahrscheinlich viele Leser*innen dieser Zeitung ebenfalls –
davon aus, dass die Verfasser solcher Sätze in Wirklichkeit vom Gegenteil
der ersten Hälfte ihres Satzes überzeugt sind. Möglicherweise bin ich das
auch. Mein Satz lautet: „Ich habe ja nichts gegen Leute, die ganz toll
ausmisten können und ordentlich sind und mit drei Gegenständen in ihrem
Leben klarkommen, aber: ich kann es nicht.“ Und ich will mich nicht länger
dafür schlecht fühlen, dass ich es weder kann noch will.
Vor kurzem schrieb meine Kollegin Svenja Bergt [1][an dieser Stelle] von
der Schwierigkeit des Ausmistens, so man es denn umweltschonend angehen
will. Sie tut sich schwer damit, immerhin. Dennoch steht für sie außer
Frage: Ausmisten ist gut. Minimalismus ist gut. Decluttering (Neudeutsch
für Entrümpeln) ist gut.
## Die Königin des Aufräum-Hypes
Es gibt unzählige Ratgeber zu dem Thema. Jeden Tag ein Teil verschenken
oder wegwerfen, nichts Neues mehr anschaffen, nur noch Dinge besitzen, die
mensch liebt. Und da kommen wir schon zur Königin des (nicht ganz neuen)
Aufräum-Hypes: [2][Marie Kondo]. Sie hält seit Jahren durch ihre Bücher und
seit Kurzem durch ihre Netflix-Serie Millionen von Menschen deren
Besitztümer vor die Nase und fragt: „Does it spark joy?“
Ihren Weltbestseller „Magic Cleaning: Wie richtiges Aufräumen Ihr Leben
verändert“ habe ich mir das erste Mal 2014 gekauft. Er ist mir dann – bevor
ich ihn praktisch anwenden konnte – in diversen Bücherstapeln abhanden
gekommen. Das zweite Mal bekam ich ihn 2017 von der Schwester meines
Exfreundes geschenkt. Dieses Exemplar besitze ich noch. Ungelesen reiht es
sich in eine große Bücherschar ein. Ein drittes Exemplar bekam ich dieses
Jahr zum Geburtstag, mit dem wohlmeinenden Hinweis meiner Freundin Nina:
„Ich dachte, das ist doch was für dich.“
Nein, ist es nicht! Seit Jahr und Tag wollen mich Menschen (privat aus der
Familie oder dem Freundeskreis, professionell durch diverse Vox-Serien oder
Bücher) zum Ausmisten animieren. Jedes Zuhause soll aussehen wie eine
perfekte Instagram-Installation. Eine graue, schlichte Couch vor einer
weißen Wand. [3][Eine einzelne Pflanze] (Monstera!), eine goldene Lampe.
Sonst nichts. Marie Kondo hat auf Instagram fast drei Millionen
Follower*innen, unter den Hashtags #konmari, #declutter und #decluttering
findet man zusammen über eine Million Fotos von Nutzer*innen, die stolz
ihre farblich sortierten, gefalteten Unterhosen präsentieren.
## Fast wird man ins soziale Abseits befördert
Ich bin ein relativ ordentlicher Mensch, noch mehr jedoch reinlich. Ich
neige vielleicht zum Messietum (zu viel zu behalten und zu sammeln), aber
es muss alles sauber sein. Ich verstehe nicht, warum in unserer
Gesellschaft heutzutage viel zu besitzen (nicht auf der Bank, zu Hause),
gleichgesetzt wird mit Schrulligkeit und Sein-Leben-nicht-im-Griff-Haben –
fast schon wird man ins soziale Abseits befördert. Aber ich gehöre nun mal
zu den Menschen, die gerne im Non-Food-Bereich des Supermarktes einkaufen.
Ich gucke in jede Kiste auf der Straße, auf der „zu verschenken“ steht. Ich
mag Flohmärkte, und das Haus meiner Großmutter, das entrümpelt werden muss,
übt auf mich eine magische Anziehungskraft aus.
Ich liebe einfach meine Besitztümer. Sie geben mir Sicherheit. Halt. Die
Dinge müssen nicht fabrikneu in meinen Besitz wandern, und es muss auch
nicht jede Woche ein neues Ding sein. Aber das, was ich habe, will ich
behalten. Das Schwert an der Wand hat ein deutscher Missionar meinem Vater
aus Mexiko mitgebracht (er war Patient meines Psychiater-Vaters und hat
später Suizid begangen), die riesige Pflanze habe ich einer Bürokollegin
abgeschwatzt (indem ich ihr das Doppelte des ursprünglichen Preises – 10
Euro bei Lidl – bot!), die Couch stammt von einem russischen Model, das
einfach so das sauteure Teil ihres Ehemannes auf eBay verkaufte (für 66
Euro!), der Teppich von meiner Mutter, als sie eine [4][Indo-Gabbeh]-Phase
hatte, das Sofakissen mit dem aufgestickten Eisvogel von einem Flohmarkt in
Dänemark … und so weiter und so fort.
Und von solch wunderbaren Dingen soll ich mich trennen?
Es wird ja behauptet, dass man seine „überflüssigen“ Sachen in eine (oder
zehn) Kisten in den Keller packen soll, und was man ein Jahr lang nicht
gebraucht hat, kann weg. Um Gottes willen! 2017 zum Beispiel hat mich ein
schrecklicher Wasserschaden ereilt. Mein gesamter Besitz wurde in Kisten
gepackt und bei einer Firma zum Trocknen untergestellt. Ich habe bis heute
etwa zehn der Kartons noch nicht wieder ausgepackt.
## Lieber wohnlich statt cool
Wenn ich mir ab und zu einen davon in meine Wohnung hole, freue ich mich
jedes Mal wie an Weihnachten und Geburtstag zugleich! Was ich da Tolles im
Karton habe: einen kniehohen Holzelefanten, den ich mit fünf Jahren im
Preisausschreiben eines Supermarktes gewonnen habe. Meinen alten
Bree-Schulranzen, der jetzt als Umhängetasche total praktisch ist. Den
goldglitzernden Escada-Pulli einer Kollegin, die diesen von ihrer Mutter
bekommen hat, aber nicht mag.
Wenn ich im Urlaub in einer Ferienwohnung bin, sieht diese nach einer Woche
wohnlicher aus als so einige Wohnungen „cooler“ Leute. Es hängen Dinge an
der Wand, es liegen Muscheln auf dem Fensterbrett, meine Kleider sind
überall verteilt und auf dem Bett liegt ein buntes Tuch.
Es gibt Kalendersprüche, die gehen so: „Die Menschen ertrinken an äußerer
Fülle und ersticken an innerer Leere.“ Mag sein. Aber ich fühle mich nun
mal nicht so. Die Stigmatisierung der Sammelleidenschaft, des wohlgefüllten
Kleiderschranks, der unendlich vielen und wunderbaren Stehrumchen und
Souvenirs – woher kommt sie nur? Ich freue mich, wenn meine
Mitbewohner*innen zu mir kommen und sagen: Hast du einen Kleber für
Keramik? Hast du extralange Streichhölzer? Hast du sechs unterschiedliche
Serviettenringe (geschnitzt und aus Holz und in Obstform)? Jaaaaa,
natürlich. Habe ich. Kommt alle zu mir, ich helfe euch aus.
Denn Dinge zu besitzen, zu lieben, sich gern mit ihnen zu umgeben, sich mit
ihnen sicher und daheim zu fühlen – das ist nicht schlimm. Es ist
vielleicht nicht à la Kondo, aber es gibt mir ein urgutes Gefühl.
4 May 2019
## LINKS
[1] /!5585491
[2] /!5567176/
[3] /!5577867
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Gabbeh_(Teppich)
## AUTOREN
Nicola Schwarzmaier
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