# taz.de -- Künstler Ben Wagin wird so um die 90: Baumpate sucht Paten | |
> Das „Parlament der Bäume“ von Umwelt- und Aktionskünstler Ben Wagin ist | |
> wohl gerettet. Aber es fehlt noch eine nachhaltige Finanzierung. | |
Bild: Ben Wagin | |
Die Februarsonne hat Krokusse an die Oberfläche gelockt. Lila und gelb | |
leuchten sie auf dem toten Gras vom vergangenen Jahr, die noch kahlen Bäume | |
werfen ein scharfes Schattenmuster über sie und auf das narbige, mit | |
frischem Weiß getünchte Stück Mauer, vor dem zwei gut gelaunte Menschen in | |
Malerkitteln stehen und mit schwarzer Farbe eine naive Szene pinseln: Ein | |
Schiff, mit lebendigen Bäumen beladen, ist in der Mitte | |
auseinandergebrochen, einer der Bäume ist herausgefallen. Offenbar auf | |
fruchtbare Erde, denn er wächst und gedeiht. | |
Der Ort, an dem das passiert, wirkt wie ein angenehm unaufgeräumter Garten. | |
Vorn führt eine wenig befahrene Straße vorbei, hinter der die Spree fließt. | |
Hinten schließt eine rund sechzig Meter lange, mit schwarzweißen Bildern | |
und Schrift verzierte Mauer das Gelände ab, links und rechts wird es von | |
hohen Glas- und Betonfassaden umrahmt: Wir sind mitten im | |
Regierungsviertel. Die Straße ist der Schiffbauerdamm, die Nachbargebäude | |
sind die Bundespressekonferenz und das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus des | |
Bundestags. | |
„Das war ja alles viel größer, bis sie den Karnickelstall da hingebaut | |
haben“, sagt ein kleiner Mann in Handwerkerblau und mit schwarzer Mütze auf | |
dem kahlen Kopf. Ben Wagin zeigt auf die Bundespressekonferenz. Der | |
Künstler, der diesen aus der Zeit gefallenen Ort, das [1][„Parlament der | |
Bäume“], geschaffen hat, sagt oft solche schnoddrigen Sätze, in denen | |
Behördenvertreter und Politiker auch mal als „Pfeifen“ oder schlicht | |
„Arschlöcher“ auftreten. | |
## Er duzt ausnahmslos jeden | |
Richtig bitter klingt das aber nie. Meist geht so eine kleine Tirade | |
nahtlos in ein breites Grinsen oder glucksendes Lachen über, und dann folgt | |
Wagins raue, warme Stimme schon wieder einem anderen Gedankenstrang, | |
während sein Zuhörer aufpassen muss, den Anschluss nicht zu verlieren. Wie | |
um das zu kompensieren, sucht Wagin immer den körperlichen Kontakt zu den | |
Menschen, mit denen er spricht, und knetet ihnen beiläufig am Arm oder am | |
Knie herum. | |
[2][Ben Wagin] – für alle, die mit ihm zu tun haben, einfach Ben, er duzt | |
selbst ausnahmslos jeden –, geht hart auf die 90 zu. Laut seinem Pass ist | |
er im März 1930 geboren, er selbst hält sich darüber bedeckt und feiert | |
ohnehin lieber den Sommeranfang. Es gibt aber auch Freunde von ihm, die | |
behaupten, er sei noch ein paar Jahre älter. Dass die Zeit keine Spuren in | |
seinem Gesicht und an den ständig aktiven Händen hinterlassen habe, kann | |
man nicht behaupten. Gleichzeitig strahlt dieser kleine, drahtige Mensch | |
etwas Jugendliches, ja Kindliches aus. Seine Bewegungen sind zielsicher und | |
beschwingt, die hellen Augen glasklar, und auch wenn seine Rede ein | |
Bewusstseinsstrom ist, auf dem vieles vorbeitreibt, was Uneingeweihte auf | |
den ersten Blick nicht deuten können, wirkt sie nicht wirr. | |
Beides – das hohe Alter und die Vitalität – drängen die Parallele geradezu | |
auf: Ben Wagin, der Aktionskünstler, Bastler, Umweltaktivist, | |
Zeichensetzer, ist selber so etwas wie ein Ginkgo, dieses lebende | |
Baumfossil mit den quastenförmigen Blättern, das irgendwo in den | |
chinesischen Bergen die letzten Eiszeiten überdauert hat. Wagin, der | |
spätere „Baumpate“, sah seinen ersten Ginkgo Anfang der 50er Jahre, ein | |
stattliches Exemplar, das noch heute vor dem Hauptgebäude der Humboldt-Uni | |
steht. Seitdem hat er Hunderte Ginkgos und noch mehr andere Bäume in Berlin | |
gepflanzt und pflanzen lassen, unter anderem im „Parlament der Bäume“ am | |
Schiffbauerdamm. | |
Eigentlich würde er es heute lieber „Parlament aller Bäume“ nennen, sagt | |
Wagin, das treffe es besser. Rund hundert sind noch übrig, seit das | |
Regierungsviertel näher gerückt ist und große Teile der ursprünglichen | |
„Parlaments“ hier an der ehemaligen Berliner Mauer aufgefressen hat. Die | |
meisten haben Prominente in die Erde gesetzt – eine Silberlinde von | |
Hanna-Renate Laurien, ein Nussbaum von Rolf Eden, ein Apfelbaum von Richard | |
von Weizsäcker, ein Ginkgo von Michael Douglas. Das ist jetzt schon eine | |
Weile her, viele der Spender leben nicht mehr. | |
## Die Kunstwelt fremdelt | |
Was die Botschaft des „Parlaments“ sei, wird Wagin manchmal von | |
BesucherInnen gefragt, aber eine klare Antwort gibt es darauf nicht, | |
jedenfalls nicht eine einzelne. Gleich nach dem Mauerfall begann der in | |
Westberlin Geborene, der erst Galerist war und dann die Natur mit ihren | |
Formen als kongeniale Künstlerin entdeckte, den von allem Lebendigen | |
bereinigten Grenzstreifen als Denk-Ort für die Opfer von Krieg und Teilung | |
zu inszenieren; aber auch, darauf legt er Wert, für die Opfer des Krieges, | |
den die Menschen gegen ihre Umwelt führen. | |
Das Ergebnis ist ein kleiner, bunt gemischter Wald, gespickt mit | |
historischen Relikten und Andeutungen, originalen Mauerteilen und | |
räumlichen Inszenierungen aus alten Fenstern, Panzersperren, Gießkannen und | |
Sarkophagen. | |
Wer sich auf diese Vielschichtigkeit nicht einlassen will, wird den Ort | |
nicht recht verstehen. „Er ist alles gleichzeitig: Friedhofsanlage, | |
Gedenkstätte, Mauerkunst, Wandmalerei, Land Art, Bio Art, Happening und | |
Performance Kunst, Community Gardening, Skulpturengarten“ – solche Begriffe | |
könne man für das „Parlament der Bäume“ anwenden, „je nachdem, aus wel… | |
Perspektive und mit welcher Fragestellung man es betrachtet“, sagt die | |
Kunsthistorikerin Nicola Wündsch, die ihre Bachelorarbeit über Wagins | |
Dauerprojekt verfasst hat. Es ist die erste Arbeit, die sich | |
wissenschaftlich mit der Anlage auseinandersetzt, die etablierte Kunstwelt | |
gibt sich mit dem hybriden Werk eher ungern ab. Und auch die großen | |
Touristenströme ziehen vorbei: Das „Parlament der Bäume“ so Wündsch, sei | |
„kein ‚hipper‘ Ort und nicht wirklich fototauglich“. Was es von anderen | |
Mauerfragmenten, etwa der East Side Gallery, unterscheidet. | |
Der rechtliche Status des „Parlaments der Bäume“ war immer prekär, und es | |
ist wohl nur Wagins Qualitäten als Netzwerker zu verdanken, dass der Bund | |
als bisheriger Eigentümer die Fläche zwar stark beschnitten, das | |
verbliebene Teilstück aber bis heute nicht bebaut hat. Langjährige Freunde | |
wie der grüne Berliner Europaabgeordnete Michael Cramer – „der Michael“ … | |
haben immer wieder für Wagins Projekt getrommelt und tun das auch | |
weiterhin. | |
Tatsächlich sind mittlerweile wichtige Schritte getan, damit das kleine | |
„gallische Dorf“ – ein gerne bemühter Vergleich – erhalten bleiben kan… | |
Nachdem die Baukommission des parlamentarischen Ältestenrats 2002 den | |
Weiterbestand „auf absehbare Zeit“ zugesichert hatte und 2009 der damalige | |
Bundestagspräsident Norbert Lammert die Frist noch einmal um zehn Jahre | |
verlängerte, stellte die Senatskulturverwaltung das „Parlament“ 2017 unter | |
Denkmalschutz. Im November 2018 entschied dann wieder die Baukommission, | |
das Gelände aus dem eigenen Flächenportfolio herauszulösen und an das Land | |
Berlin zu übertragen. | |
## Keine „museale Sache“ | |
Wie genau das vonstatten gehen wird, ist noch nicht klar, die Beteiligten | |
halten sich bedeckt. Die Senatsverwaltung für Finanzen bestätigt auf | |
Anfrage nur, man habe sich mit dem Bundesfinanzministerium und der | |
Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (BimA) „grundsätzlich über den Ankauf | |
verständigt“ und kläre nun die „Modalitäten“ ab. Möglich ist, dass die | |
Senatskulturverwaltung versuchen wird, das „Parlament“ in die Stiftung | |
Berliner Mauer einzugliedern, immerhin handelt sich um den einzigen am | |
ursprünglichen Standort erhaltenen Mauerabschnitt mitten im Stadtzentrum. | |
Die Stiftung will das weder bestätigen noch dementieren. Es sei jetzt erst | |
mal „eine sehr gute Nachricht, dass das Parlament der Bäume dauerhaft | |
erhalten bleiben soll“, teilt Direktor Axel Klausmeier lediglich mit. | |
Ben Wagin ist von der Idee weniger begeistert: „Ich will nicht, dass das so | |
'ne museale Sache wird“, sagt er. Kein Wunder: Jede Musealisierung wäre ein | |
schreiender Widerspruch zu seiner Art, Kunst zu machen. Fertig ist im | |
Wagin-Kosmos nie etwas, irgendwo entsteht immer eine neue Form, verändert | |
sich etwas oder kommt hinzu. | |
So wie das baumspendende Schiff, das sein Künstlerfreund Wolfgang Loewe und | |
eine spontan dazugestoßene Kunststudentin gerade auf die Mauer malen und | |
das noch ein paar „Buchstaben“ (auch so ein Wagin-Ausdruck) dazubekommen | |
soll, als Bekenntnis zu Europa. | |
Ganz authentisch ist übrigens nur die Hälfte der Mauerreihe: Als die | |
benachbarten Grundstücke bebaut wurden, integrierte man den südlichen Teil | |
des von Wagins jahrelang bewahrten Mauerabschnitts nach langen Diskussionen | |
in das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus. Den nördlichen baute der Künstler ab | |
und verdoppelte damit die verbleibenden sechzig Meter. Dazwischen | |
eingeschlossenen ist jetzt eine kleine Werkstatt-Galerie. Bis auf diese ist | |
das Gelände zwar von der Straße aus komplett einsehbar, aber nur auf | |
Anfrage zugänglich. | |
## Noch fünf Jahre | |
Dass es sich stärker zur Stadt hin öffnen soll, das will auch Ben Wagin. Er | |
hat einen Förderantrag an die Berliner Lottostiftung gestellt, damit sein | |
„Parlament“ eine minimale Infrastruktur bekommen kann, Beleuchtung, Klos. | |
Vielleicht ließen sich auch ein paar Leute bezahlen, die regelmäßige | |
Führungen übernehmen. | |
Ob das Geld kommt, erfährt er Mitte März. Dass es reichen wird, glaubt er | |
nicht. „Ich bin bereit, das hier noch mal fünf Jahre zu machen“, sagt der | |
beinahe 90-Jährige und meint das völlig ernst. „Aber ich kann da nicht | |
jeden Sommer den Schlauch halten und am Ende nicht mal 'ne Tafel Schokolade | |
dafür kriegen.“ Wie Wagin, der seine Kunst praktisch nicht vermarktet, | |
alles finanziert, grenzt für viele Beobachter an ein Wunder. Alte Freunde | |
wie Rolf Eden haben ihn immer wieder großzügig gefördert, aber der einstige | |
Westberliner Playboy, fast so alt wie Wagin, ist schwer krank. | |
Im Grunde braucht der Baumpate selber ein paar neue Paten, damit er das | |
„Parlament der Bäume“ so lange weiterentwickeln kann, wie er kann. Es wäre | |
nicht nur eine Genugtuung für ihn, sondern auch ein Bekenntnis zu einer mit | |
der Stadt seit langem verwachsenen Künstlerpersönlichkeit, deren | |
vielfältige Spuren im öffentlichen Raum die Zeit, die Ignoranz und der | |
Kapitalismus schon jetzt fleißig verwischen. | |
Das emblematische Wandbild „Weltbaum“ auf einer Brandmauer am S-Bahnhof | |
Tiergarten (Wagin wohnt gleich nebenan) wurde gerade nach gut vier | |
Jahrzehnten zugebaut, eine Kopie, die Street-Artists 2018 in der Lehrter | |
Straße angelegt haben, ist schon teilweise von Graffiti verdeckt. Was für | |
den Künstler leichter zu verschmerzen ist als die vielen von ihm | |
gepflanzten Bäume, die Bautätigkeiten zum Opfer gefallen sind. Nicht | |
zuletzt an der Neuen Nationalgalerie, wo die Stiftung Preußischer | |
Kulturbesitz 2016 zwei Schwarzkiefern absägte, die er dort 1976 gepflanzt | |
hatte. Um das „Versehen“ wieder gutzumachen, hatte die Stiftung Wagin den | |
Druck eines Kunstbuchs zugesichert. Ihm reicht das nicht: | |
„Unverantwortlich, was sich die Trillerpfeifen da geleistet haben.“ | |
Zum Tag des Baumes am 25. April hat sich Stadtentwicklungssenatorin Katrin | |
Lompscher (Linke) – „die Katrin“ – angekündigt. Sie unterstützt das P… | |
und will gerne selber einmal symbolisch zur Schaufel greifen. Aber wenn die | |
Finanzierung bis dahin nicht halbwegs gesichert sei, „werfe ich den | |
Schlüssel in die Spree“, grummelt Wagin. Dann lacht er wieder, kneift | |
seinem Gesprächspartner in den Arm und denkt sich etwas Neues aus. | |
27 Feb 2019 | |
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Claudius Prößer | |
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