Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ben Wagin zum Geburtstag: Frisch gehäutet
> Ben Wagin ist 90. Oder doch 91? Der Künstler und Baumpate macht da seine
> eigene Rechnung auf. Und wünscht sich, dass sein Werk erhalten bleibt.
Bild: Ben Wagin 2017 in seiner Wohnung. Mittlerweile lässt der Künstler die H…
Irgendwo im kreativen Chaos von Ben Wagins riesiger Altbauwohnung am
S-Bahnhof Tiergarten, zwischen Unmengen von Plastiken und Gemälden, Kladden
und Plakaten, Sammlungen von Türklinken, Tierknochen und Kiefernzapfen,
liegt eine aus Brotteig gebackene „91“. Ist Wagin, der umtriebige Künstler,
Baumpate und Netzwerker, der jungenhafte Weißhaarige, wirklich schon 91?
Zuletzt war zu hören gewesen, der kleine Mann im Overall sei im März 1930,
also vor 90 Jahren, geboren, begehe seinen Geburtstag aber traditionell am
21. Juni, dem Sommeranfang. Wagin, der auch im hohen Alter ganz klar ist
und trotzdem gerne in Rätseln spricht, rechnet dann doch noch mal etwas
anders: Seine „91. Häutung“ sei das, erklärt er. Natürlich: Die erste hat
ja schon bei seiner Geburt stattgefunden.
Der Mann ist längst ein Gesamtkunstwerk, das wird bei jedem Besuch von
neuem klar. Gleichzeitig gibt es kaum einen unprätentiöseren Menschen als
ihn. Die taz hat er an seinem Häutungstag zum Frühstück eingeladen, bevor
er sich aufmacht, Gäste in seinem „Parlament der Bäume“ und im „Anhalter
Garten“, seinem Atelier, zu empfangen. Es gibt guten Kaffee aus einer alten
Espressokanne, ein paar Kuchenstückchen, Butter, Käse und altbackenes Brot,
wie er es liebt.
An einem kleinen Tischchen zwischen der ganzen Kunst kommt er ins Reden,
verbindet wie immer nahtlos Gegenwärtiges mit längst Vergangenem, nennt
beiläufig Bundespräsidenten bloß mit dem Vornamen, kommt vom Hundertsten
ins Tausendste, und die BesucherInnen versuchen sich, wie immer, einen Reim
darauf zu machen.
Gerade hat ihn das Land Berlin in Gestalt des RBB mit einer Dokumentation
beschenkt: [1][„Der Mann, der mit den Bäumen spricht“] heißt sie, und
tatsächlich wird Wagin darin gezeigt, wie er eine „alte Freundin“, die
Lenné-Eiche im Tiergarten, umarmt. Was einerseits klischeehaft das Bild vom
liebevoll-spinnerten Naturkünstler bedient, andererseits tatsächlich Teil
seiner Annäherung an die Welt ist: „Wie wir mit den Bäumen und den Tieren
umgehen, so gehen wir mit uns um“, sagt er im taz-Gespräch, oder: „Ich
will, dass die Brennnessel das gleiche Lebensrecht hat wie wir.“
## Tastendes Anordnen
Aber auch wenn das Wachsenlassen, das Wuchernlassen von Natur zentraler
Bestandteil von Wagins Kunst ist, sich wiederspiegelt im tastenden Formen,
Anordnen, Kleben und Krümeln, in Wurzelstücken, Eierschalen oder
Kaffeesatz: Sein zutiefst humaner Ansatz, das Recht auf Leben mit der
Pflicht zum Erinnern zu verbinden, hat genauso viel mit Menschen und
menschlicher Geschichte zu tun, mit dem Anprangern menschlicher
Destruktivität.
Seit vielen Jahrzehnten arbeitet er sich nun schon an den Bildern ab, die
sich ihm 1947 einbrannten. Damals reiste er aus Niedersachsen nach Berlin,
wo er später an der Hochschule für Bildende Künste, der heutigen UdK,
studierte. Die Stadt lag in Trümmern, überall waren Gräber, aber in der
Ruine der Krolloper, dem Pseudoparlament der Nazis, wurde schon wieder
getanzt.
Das „Parlament der Bäume“, ein Stück Mauerstreifen mitten im heutigen
Regierungsviertel, ist Ben Wagins assoziative Verdichtung beider Welten:
der von Krieg, Zerstörung, Spaltung, Verdrängung und der des Lebenlassens,
des Wachsens, das sich in den vielen, durch Prominente von Michail
Gorbatschow bis Michael Douglas gepflanzten Bäumen zeigt, den Blumen und
den Tieren, die hier ein Habitat zwischen dem vielen Beton finden.
„Das muss man sich mal vorstellen: Ohne Ben gäbe es keine Mauerreste im
Regierungsviertel, würde dort nirgendwo an die Spaltung der Stadt
erinnert!“, begeistert sich der ehemalige Grünenabgeordnete Michael Cramer,
ein alter Freund Wagins, in der RBB-Dokumentation, die auch den ehemaligen
UdK-Präsidenten Martin Rennert, den Direktor der Mauerstiftung, Axel
Klausmeier, und Kulturstaatsministerin Monika Grütters (für Wagin „die
Moni“) ausführlich zu Wort kommen lässt.
Womit der Geehrte nicht so richtig glücklich ist. Dass andere, auch
Freunde, dem Publikum erklären müssen, wer er ist, kränkt ihn dann doch ein
wenig: „Anscheinend habe ich nicht geschafft zu vermitteln, was ich will.
Da strampelste dich über 70 Jahre ab, und dann kommt da so ein
illustriertes Hörspiel bei raus“, grummelt er. Ihm hätte ein Beitrag ohne
Worte gereicht, mit seinen Werken und seinen Orten in der Hauptrolle: „Ich
will, dass man die Inhaltlichkeit der Dinge an den Dingen selbst ablesen
kann.“
## Wer gibt den Bäumen zu trinken?
Was Ben Wagin umtreibt, ist die Bewahrung seiner Orte. Das Parlament der
Bäume ist vergangenes Jahr nach langem Hickhack unter Denkmalschutz
gestellt und vom Bundestag dem Land Berlin überschrieben worden. „Ja gut“,
sagt er, „aber wer schützt das? Wer hat den Schlüssel, wer gibt den Bäumen
zu trinken?“ Vorläufig er selbst, er macht es mit Geld, für das er „auf d…
Strich geht“, wie er es nennt. Er wirbt Spenden in seinem weitläufigen
Netzwerk ein, auch einen kräftigen Schluck aus der Lottomittel-Pulle gab es
zuletzt.
Ab 2021 werde „die Moni“ aus ihrem Etat den Unterhalt des Parlaments der
Bäume sichern, weiß Wagin – über den Umweg der Mauerstiftung. Das freut ihn
sehr. Genauso wie die Aussicht, dass er erst einmal weiter im „Anhalter
Garten“ werken und gießen kann. Das Gelände in den Ruinen des ehemaligen
Anhalter Güterbahnhofs gehört dem Technikmuseum, und auch wenn dessen
Leitung gerade ausgetauscht wird, hat er Signale erhalten, dass die Neuen
ihn erst mal weitermachen lassen. Zur „93. Häutung“ will er den wilden Ort
voller Trouvaillen und Objekte „fertig“ übergeben. Natürlich nicht als
„gepflegte Struktur“, die gebe es ja schon im Gleisdreieckpark nebenan,
„wäre doch bekloppt, wenn wir das drinnen auch noch machen“.
Ja, ein bisschen mehr als die RBB-Doku hätte Wagin sich dann doch
gewünscht. Eine Ausstellung, eine Retrospektive? Darauf geht er nicht ein.
Was ihn wirklich schmerzt, was ihn wütend macht, wo er Wiedergutmachtung
will, das sind die Bäume auf dem Kulturforum. Die beiden Schwarzkiefern,
die er vor Langem neben der Neuen Nationalgalerie gepflanzt hatte, und die
bei deren Sanierung unabgesprochen gefällt wurden. Und die ebenso
stattliche wie vitale 150-jährige Platane, an die das 400-Millionen-Projekt
„Museum des 20. Jahrhunderts“ gefährlich nah heranrücken wird.
Das Land, der Bezirk Mitte und die Stiftung Preußischer Kukturbesitz
schöben sich die Verantwortung hin und her. Der Staat scheue bei der
„Kulturscheune“ keine Kosten, aber „das eigentliche Lebendige wird nicht
zur Kenntnis genommen. Warum hat die Platane noch kein Wasser?“ Wagin, der
so friedliebend wie konfliktfähig ist, schreit die Frage fast heraus.
Immerhin am Anhalter Garten sprudelt es jetzt, für alle, jederzeit: Im
Beisein „vom Klaus“ – Kultursenator Klaus Lederer (Linke) – haben die
Wasserbetriebe vor wenigen Tagen einen Trinkbrunnen in der ehemaligen
Ladestraße des Güterbahnhofs errichtet, Wagin hat das angeleiert. Für ihn
passt sich das ganz selbstverständlich in seine Kunst ein. Mit lautem,
knarrendem Lachen erzählt er, was er einem geantwortet habe, der ihn
letztens nach der Bedeutung des Brunnens fragte: „Mann, wir sind zu 80
Prozent Wasser! Hast du heute noch nicht gepisst?“
21 Jun 2020
## LINKS
[1] https://www.ardmediathek.de/ard/video/rbb-kultur/ben-wagin-der-mann-der-mit…
## AUTOREN
Claudius Prößer
## TAGS
Ben Wagin
Aktionskunst
Bäume
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg
Monika Grütters
Ben Wagin
Kunst Berlin
Ben Wagin
## ARTIKEL ZUM THEMA
Zum Tod von Ben Wagin: Der Welt-Baum- Kunst-Mensch
Ben Wagin galt als schrulliges Original – und war doch weit mehr als das
ernst zu nehmender politischer Künstler. Ein persönlicher Nachruf.
Besuch bei Künstler Ben Wagin: Einfach bei Ben klingeln
Der Künstler und Baumpate Ben Wagin präsentiert eine neue Ausstellung – in
den Räumen seines Wohnhauses.
„Baum-Wahllokale“: Ein Kreuzchen für den Ahorn
Grün wählen mal anders: Künstler Ben Wagin lädt am Sonntag zur „Baumwahl�…
Die Auserkorenen sollen einen Europa-Hain im Spreebogenpark bilden.
Künstler Ben Wagin wird so um die 90: Baumpate sucht Paten
Das „Parlament der Bäume“ von Umwelt- und Aktionskünstler Ben Wagin ist
wohl gerettet. Aber es fehlt noch eine nachhaltige Finanzierung.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.