# taz.de -- Zum Tod von Ben Wagin: Der Welt-Baum- Kunst-Mensch | |
> Ben Wagin galt als schrulliges Original – und war doch weit mehr als das | |
> ernst zu nehmender politischer Künstler. Ein persönlicher Nachruf. | |
Bild: Ben Wagin im Mai 2021 | |
Es muss 1987 gewesen sein, als ich zum ersten Mal etwas von Ben Wagin und | |
seiner Kunst wahrnahm. Ich war ein Teenager und besuchte einen Freund in | |
Westberlin. Was mir ins Auge fiel, war eine Ansammlung von Abbildungen, | |
Schrifttafeln und Reliefs, all das hing an einer dieser Brandmauern, | |
zwischen denen die S-Bahn-Gleise verliefen. | |
Viel später lernte ich, dass es sich bei der Collage vis-à-vis dem Bahnhof | |
Savignyplatz um das von Wagin koordinierte Gemeinschaftswerk „Weltbaum II“ | |
handelte. Damals fielen mir hauptsächlich ein paar Zeilen auf, die heute | |
wie fast alle beweglichen Elemente entfernt worden sind: das | |
Brecht-Fragment vom „Gespräch über Bäume“, und der eingängige Spruch �… | |
trinken, was WIR pinkeln“. | |
Ab Anfang der Neunziger lebte ich in Berlin, und auf die eine oder andere | |
Art war der merkwürdige Mann mit dem Mützchen immer präsent. Er pflanzte | |
ständig Bäume, hatte eine Ausstellung in einem alten Tunnel Unter den | |
Linden und machte etwas mit Mauerresten, so viel wusste ich. Irgendwann | |
lernte ich, dass die Installation am Savignyplatz ebenso auf ihn zurückging | |
wie das stadtbildprägende Wandgemälde „Weltbaum I“ am S-Bahnhof Tiergarten | |
(es verschwand vor wenigen Jahren hinter einem Neubau). | |
Auch eine Kupfertafel auf dem Breitscheidplatz entdeckte ich, mit Goethes | |
Ginkgo-Gedicht und der Buchstabenfolge „B-E-N-W-A-R-G-I-N-K-G-O“ am unteren | |
Rand – so nämlich, „Wargin“, hieß der 1930 in Westpreußen Geborene auf | |
seinen Dokumenten, aber irgendwann fand er, der Friedliebende, das Wort | |
„WAR“ habe in seinem Namen nichts verloren. Das wusste ich damals aber noch | |
nicht, denn mich interessierten andere Dinge als dieser schrullige | |
Künstler, von dem in Berlins Museen oder Galerien ohnehin nie etwas zu | |
sehen war. | |
## Hierarchien waren ihm schnuppe | |
Das änderte sich in den vergangenen Jahren langsam, als ich hier und da | |
mehr über Wagin las, und dann schlagartig, als ich ihn, keine vier Jahre | |
ist es her, am Telefon hatte. Was, bitte, war das denn? Eine tiefe, | |
irgendwie knorrige und warme Stimme, ein herzliches „Komm doch morgen mal | |
in die Haydn-Straße“ (wo er lebte). Kannte der mich? Nein. Aber das war | |
eben Ben Wagin, wie ich schnell lernte, der Mann, der jeden duzte, auch den | |
Bundespräsidenten, dem Hierarchien schnuppe und dessen networking skills | |
phänomenal waren. | |
Wie man heute so sagen würde. Wagin selbst wäre so ein Begriff völlig fremd | |
gewesen, er netzwerkte aus dem Bauch heraus und völlig analog. Seine | |
einzige technologische Unterstützung war das Festnetztelefon. Ich kannte | |
bald seine Nummer und wusste: Aufs Abheben würde die knorrige Stimme etwas | |
wie „Ja, ja, ja, und was machen wir jetzt damit?“ murmeln, scheinbar ohne | |
jeden Kontext. Den hatte man sich selbst zu erarbeiten. | |
Wer ihn noch nicht lange kannte, dem war es oft fast unmöglich, Wagins | |
Gedankengängen zu folgen. Nicht nur die erratischen Sätze, die seine | |
Installationen begleiteten, musste man auf sich wirken lassen, auch in | |
Gesprächen benutzte er oft Anspielungen aus seinem ganz persönlichen | |
Kosmos, die beim ersten Hören wirr klangen und erst später Sinn ergaben. | |
Gespickt mit Vornamen – „die Moni“, „der Michael“, der „Klaus“ �… | |
zu PolitikerInnen gehörten. | |
Ben Wagin als „Original“ zu bezeichnen, gar als „Westberliner Original“, | |
ist wahrscheinlich nicht völlig falsch, aber es wird ihm und seinem | |
unermüdlichen Einsatz für Kunst, Natur und Mensch natürlich nicht gerecht. | |
„Er war seiner Zeit weit voraus“, meinte eine befreundete Künstlerin vor | |
Kurzem in Bezug auf Wagins Mission, Bäume zu pflanzen, ob Ginkgo, Linde | |
oder Apfel. Vielleicht waren es am Ende europaweit 50.000, wie kolportiert | |
wird, auch wenn längst nicht alle überlebt haben. | |
## „Straßenpetersilie“ | |
Auch nicht die beiden Schwarzkiefern, die Wagin 1976 an die Neue | |
Nationalgalerie pflanzte und die vor einigen Jahren bei der Sanierung des | |
Gebäudes gefällt wurden. Den „Baumpaten“, so sein selbstgewählter nom de | |
guerre, machte das vermeintliche Versehen, für das sich die Stiftung | |
Preußischer Kulturbesitz entschuldigte, fuchsteufelswild, und er ließ keine | |
Gelegenheit aus, auf die „Trockenpflaumen“, „Trillerpfeifen“ oder | |
„Hirnamputierten“ zu schimpfen, die das zu verantworten hatten (und erst | |
vor ein paar Monaten in seinem Beisein dort wieder Bäume pflanzten, | |
allerdings die falschen: „Straßenpetersilie“, wie der Baumpate ungnädig | |
befand). | |
Kam man Wagin ein bisschen näher, kannte man bald diese Zornesausbrüche, | |
die ernst gemeint und gleichzeitig irgendwie satirisch waren, beim | |
Vokabular angefangen. Sie waren auch nie von Dauer, sondern signalisierten | |
wohl nur: Ich kann auch anders. Üblicherweise setzte der kleine Mann in | |
Arbeiterkluft und offenen, ausgelatschten Stiefeln seinen Charme ein, seine | |
Stimme, seine wasserblauen Augen und seine großen, verwitterten Hände, mit | |
denen er gerne Hände, Arme oder Knie seines Gegenübers – egal wie prominent | |
– knetete. | |
Diese Körperlichkeit war nicht allen geheuer, und vielleicht zückten manche | |
ihre Brieftasche für eines von Wagins Projekten nur, um möglichst schnell | |
die Flucht antreten zu können. Auf jeden Fall war es vor allem Sponsoring | |
(noch ein Wort, das Ben Wagin in 91 Lebensjahren vermutlich nie | |
ausgesprochen hat), das die künstlerische Arbeit eines Mannes ermöglichte, | |
der seit Jahrzehnten nichts mehr verkaufte und dessen oft auf Trouvaillen | |
basierende bildnerische Arbeiten nie den Weg in eine Galerie fanden. | |
Vielleicht weil ihm, einst selbst erfolgreicher Galerist, das alles nicht | |
mehr viel bedeutete. | |
Mit der Kunstszene der vergangenen dreißig Jahre hatte Ben Wagin nicht mehr | |
viel zu tun, er erschuf und bewohnte sein eigenes Universum aus Orten, | |
Menschen und Bäumen. Fixpunkte seiner Topografie waren neben der bis zur | |
Decke mit Kunst vollgestopften Wohnung in der Joseph-Haydn-Straße (das | |
Gründerzeitgebäude mit dem einzigartigen gusseisernen Treppenhaus hatte er | |
einst vor dem Abriss bewahrt) das „Parlament der Bäume“ im | |
Regierungsviertel, sein Atelier in der alten Ladestraße des Anhalter | |
Güterbahnhofs, aber auch die „Skulpturenwiese“ am Haus der Kulturen der | |
Welt. | |
Die von einer internationalen Gruppe Bildhauer auf Wagins Initiative 1961 | |
behauenen Steine wurden später versetzt – ursprünglich standen sie genau | |
dort, wo Wagin im Sommer 1947 bei seinem ersten Berlinbesuch die Ruinen der | |
Kroll-Oper entdeckte. In dem Gebäude, das den Nazis nach dem | |
Reichstagsbrand als Pseudoparlament diente, sah er Menschen zu Musik | |
tanzen, ein paradoxes Bild inmitten der Zerstörung, das ihn wie andere | |
frühe Erinnerungen nie wieder losließ. | |
Zur „Skulpturenwiese“ hatte er unlängst noch einmal die Presse und ein paar | |
treue Freunde wie den Grünen-Politiker Michael Cramer und den Schauspieler | |
Hermann Treusch eingeladen – er wollte Aufmerksamkeit für das im Protest | |
gegen den Mauerbau entstandene und weitgehend vergessene Ensemble. Außerdem | |
– bei Ben Wagin kam meist einiges zusammen – forderte er, eine über 200 | |
Jahre alte Eiche an der Scheidemannstraße solle als Naturdenkmal geschützt | |
werden. Der Baum steht im Gegensatz zu allen anderen direkt am Straßenrand, | |
Wagin hatte auch ihn bereits 1947 entdeckt und später vor der Fällung | |
bewahrt. | |
Als ich Ben Wagin nach etlichen Monaten wiedersah, war sofort klar, dass da | |
etwas zu Ende ging. So klein und runzlig er längst war, bis in sein 90. | |
Jahr strahlte Wagin etwas beinahe Kindliches aus. An diese Stelle war nun | |
Müdigkeit getreten, und wenn er die Stimme erhob, um über die Untätigkeit | |
der Politik zu schimpfen, war es statt des bekannten Röhrens eher ein | |
Krächzen. Es strengte ihn sichtlich an, seinen geliebten | |
Vollkorn-Streuselkuchen der Wilmersdorfer Bäckerei Weichardt vom Blech zu | |
schaufeln und ihn – wie üblich – den Anwesenden anzudienen: „Komm, und f… | |
den Bernd nimmste auch noch ein Stück mit.“ | |
„Ich glaube, ich habe meine Zeit schon ein bisschen überschritten“, sagte | |
er bei unserem letzten Treffen vor wenigen Wochen in seiner Wohnung. Er | |
hatte schon Mühe gehabt, die gewaltige Haustür zu öffnen, im Übrigen bis | |
auf eine Boxershorts und eine Arbeitsschürze unbekleidet. Es war ein heißer | |
Tag, es gab einen Kaffee und ein paar Kirschen an einem Tischchen im | |
Treppenhaus, manchmal kamen MieterInnen aus oberen Stockwerken vorbei und | |
schauten leicht befremdet. | |
Ihm war klar, dass die Sicherung seiner Orte plötzlich so dringlich wie nie | |
zuvor war. Das „Parlament der Bäume“ war noch das geringste Problem: Die | |
wilde Enklave auf dem ehemaligen Mauerstreifen am Bundestag war vom Senat | |
nach langem Hin und Her unter Denkmalschutz gestellt und vom Bund an das | |
Land übertragen worden. Die Stiftung Berliner Mauer kümmert sich um den | |
Erhalt und die Kultur-Beauftragte der Bundesregierung – „die Moni“ – hat | |
70.000 Euro jährlich bereitgestellt. Wagin wollte das Geld lieber selbst | |
verwalten, aber immerhin. | |
Mehr Sorgen bereitete ihm der „Anhalter Garten“, seine Atelierräume und das | |
von ihm gestaltete Freigelände. Sie gehören dem Deutschen Technikmuseum, | |
das sie ihm seit Langem zur Verfügung stellte. Es solle da Gespräche geben, | |
deutete er an, und fürchtete Begehrlichkeiten für andere Nutzungen. So viel | |
Ungeklärtes und so wenig Zeit. | |
Dann nahm er mich mit in sein Schlafzimmer. Aus einem Karton holte er ein | |
Dutzend kleine Plastiken und baute sie vor dem Fenster – die „Türen von | |
Berlin“ nannte er sie, sie waren offenbar aus Tierknochen und | |
Werkzeugteilen modelliert und mit gelblichem Material überzogen. „Zehn | |
Jahre hab ich an denen geknetet“, erklärte er, jetzt wolle er sie | |
großformatig gießen lassen, um zum ersten Mal seit Ewigkeiten etwas zu | |
verkaufen. Das sollte noch einmal Geld einbringen für sein Vermächtnis, | |
auch wenn er es so konkret nicht ausdrückte. | |
Ben Wagin war müde, sein Redefluss verlangsamt, aber er verstummte nicht. | |
Er saß neben mir auf der Kante seines Betts, während ich mitschrieb, dann | |
legte er sich einfach hin, rollte sich auf die Seite und sprach mit | |
geschlossenen Augen weiter. Erzählte noch einmal von seiner Flucht nach | |
Westen in den letzten Kriegsmonaten, vom Großvater, der ihn auf gut Glück | |
in einen Güterzug setzte, davon, wie ein Baum sein Leben rettete, indem er | |
die meisten Splitter einer Granate abfing. Ihm, der für den Frieden immer | |
ebenso heftig warb wie für den Respekt vor der Natur, wurden diese | |
Geschichten im Laufe seines Lebens immer wichtiger. | |
„Dann kam der Panzer, und ich bin auf ihn zugegangen“, erzählte er und | |
richtete sich wieder halb auf, „was hätte der auch davon gehabt, mich zu | |
Matsch zu fahren?“ Ein englischer Soldat mit seiner Maschinenpistole sei | |
ihm, dem 15-Jährigen, entgegenkommen, „und meine Wunde am Kopf tröpfelte | |
ein bisschen. Er hat das mit einem Desinfektionsmittel abgewischt, und | |
weißt du, was er dann gemacht hat?“ Wagin wurde so laut, wie es eben noch | |
ging: „Er hat mir eine Tafel Schokolade gegeben!“ Längere Pause. „Ich we… | |
das nicht noch mal erzählen.“ | |
Ben Wagin ist am 28. Juli nach kurzer Verschlechterung seines Zustands im | |
Virchow-Krankenhaus gestorben, friedlich und umgeben von Freunden, wie ich | |
erfuhr. Der Baumpatenverein, den er vor langer Zeit gegründet hatte, wird | |
versuchen, so viel wie möglich von seinem Vermächtnis zu bewahren. Eine | |
Erklärung, die Wagin einem über ihn erschienenen Buch zufolge einst abgab, | |
wird dabei wohl nicht zum Tragen kommen: „Für alles, was ich durch meine | |
Arbeit hinterlasse, setze ich meine beiden Schildkröten als Alleinerben | |
ein.“ Er hat die Tiere überlebt. | |
1 Aug 2021 | |
## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
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