| # taz.de -- Berliner Partydroge Kakao: Man wird davon high! | |
| > Weil Kakao Glücksgefühle auslöst, trinken ihn Menschen hochkonzentriert | |
| > bei spirituellen Zeremonien. Und tatsächlich: Es wirkt. | |
| Bild: Lassen die Welt verschwimmen: Kakaobohnen | |
| Die Haut meines rechten Armes verschwindet, verschmilzt mit der Decke, die | |
| auf mir liegt. Ich löse mich auf. Ein Gong ertönt, ein tiefer, summender | |
| Ton. Ich spüre die Vibration über den Boden, auf dem ich liege. Tief sinke | |
| ich in ihn hinein und fühle mich doch leicht. Der Gong erklingt noch mal, | |
| diesmal ein zarter, höherer Ton. Vor meinen geschlossenen Augen sehe ich | |
| Formen, sie sind blau-violett und wabern zur Vibration des Gongs, tanzen. | |
| Ich bin bei einer Kakaomeditation. Das ist eine Zeremonie, bei der zuerst | |
| gemeinsam roher Kakao getrunken und dann meditiert wird. Wir sind dreizehn | |
| Teilnehmer*innen und liegen auf Yogamatten im Kreis auf dem Boden eines | |
| kleinen Raums irgendwo in Berlin-Kreuzberg. Unsere Körper sind zugedeckt, | |
| unsere Köpfe einander zugewandt. Um uns herum stehen Kerzen, an der | |
| Stirnseite des Raums hängt ein großer metallener Gong. Darunter sitzen die | |
| Leiterin der Meditation, Serap Kara, und die Frau, die den Gong spielt. | |
| Vor ihnen liegt ein Tuch mit einigen Gegenständen: eine Rassel, eine Figur, | |
| ein glühendes Stück des Räucherholzes Palo Santo. Es riecht ein bisschen | |
| nach Sandelholz, ein bisschen nach Weihrauch. | |
| Kakaorituale wie dieses finden in Berlin immer öfter statt. Beinahe jede | |
| Woche kann man einem beiwohnen. Bei manchen wird meditiert, bei anderen | |
| Yoga gemacht oder sogar die Nacht durchgetanzt. In Onlinemedien und auch | |
| beim Deutschlandfunk wurde deswegen schon diskutiert, ob Kakao die neue | |
| Partydroge Berlins ist. Kakao? Ja Kakao. Denn die Bohne ist nicht nur etwas | |
| für Kinder an kalten Wintertagen. Sie ist auch ein Stimmungsaufheller. | |
| Die Kakaopflanze stammt aus Mittelamerika. Bei den Maya war sie | |
| Zahlungsmittel und galt als Medizin. Und nicht nur das. „Für die Maya war | |
| der Kakao eine heilige Pflanze“, sagt Serap Kara, die sich selbst „Cacao | |
| Mama“ nennt. Sie nimmt ihre langen, dunkelbraunen Haare in beide Hände, | |
| dreht sie etwas ein und legt sie so, dass sie über ihre linke Schulter | |
| fallen. Sie trägt eine schwarze Pluderhose und Handschmuck mit bunten | |
| Perlen. „Er galt als etwas Göttliches, das Mensch und Gott verbindet.“ | |
| Heute ist Kakao zwar noch beliebt – aber als Genussmittel, nicht als | |
| göttliche Medizin. Bis jetzt. | |
| ## Der Puls beschleunigt | |
| An diesem Sonntag in Kreuzberg erzählen vier von ersten Erfahrungen, von | |
| regelmäßiger Teilnahme eine, die anderen sieben sind Neulinge wie ich. Die | |
| meisten haben schon meditiert oder Yoga praktiziert. Vage und verlockend | |
| zugleich klingen die Beschreibungen der Wirkung der Pflanze. Die Spannung | |
| bei den Neuen auf die neue Erfahrung ist spürbar. Ich selbst bin skeptisch, | |
| kann mir nicht vorstellen, dass Kakaotrinken mich high machen könnte. | |
| Kakao führe einen zu sich selbst, heißt es, mache einen offenherzig, | |
| empfindsam für spirituelle Erfahrungen. Ein Mythos der Maya besage, der | |
| Kakao spüre, wenn das Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur verloren | |
| geht, und komme dann aus dem Regenwald, öffne die Herzen und bringe dem | |
| Planeten wieder Harmonie. | |
| Dass der Kakao so starke körperliche Gefühle hervorruft, liegt an seinen | |
| Inhaltsstoffen. Die Bohne enthält unter anderem viel Theobromin, das | |
| ähnlich wie Koffein wirkt, also den Puls beschleunigt und aufputscht. | |
| Dazu kommt die Aminosäure Tryptophan, die im Körper zu Serotonin | |
| umgewandelt wird, dem Neurotransmitter, der die Stimmung hebt, Appetit und | |
| Schmerz hemmt, aphrodisierend wirkt, die Körpertemperatur beeinflusst und | |
| auch beim Konsum von Drogen wie MDMA ausgeschüttet wird. Außerdem enthält | |
| die Bohne Phenetylamin, das in der Wissenschaft mit Lust- und | |
| Glücksempfinden in Verbindung gebracht wird. | |
| ## Seine weibliche Seite entfalten | |
| Die Zeremonie beginnt. Serap Kara erzählt: „Der Kakao kann entweder seine | |
| weibliche Seite entfalten, also eine ruhige, emotionale. Oder eine | |
| männliche, die uns mit Energie versorgt und aktiv werden lässt.“ Sie lasse | |
| den reinen Kakao wirken, ohne große äußere Einflüsse. „Ich eröffne einen | |
| leisen Sacred Space, einen heiligen Raum. Das Außen wird hier so leise, | |
| dass man den Kakao sprechen hören kann.“ Wir tanzen, setzen uns, riechen an | |
| dem Getränk. | |
| Mit dem, was man konventionell unter Kakao versteht, hat dieser hier wenig | |
| gemein. Das Kakaopulver ist roh, also nicht geröstet. Statt mit Milch ist | |
| es mit Wasser verdünnt, statt mit Zucker mit ein wenig Kokosblütenzucker | |
| gesüßt und mit Zimt und Chilipulver gewürzt. Circa 35 Kakaobohnen hat | |
| jede*r im Glas. | |
| Serap Kara, die „Cacao Mama“ arbeitete mit Gold, bevor sie ihre, wie sie | |
| sagt, „Liaison mit dem Kakao“ einging. Kara studierte die Industrie um das | |
| Edelmetall. Doch dann habe die Ausbeutung der Erde durch Bergbau begonnen, | |
| sie zu stören. Sie wurde Senior Advisor bei der Earthbeat Solutions | |
| Foundation, die sich für ethisch und ökologisch korrekten Goldabbau | |
| einsetzt, und absolvierte eine energetische Heiler*innenausbildung. So kam | |
| Kara auch zum Kakao. Bei der Ausbeutung der Erde für Gold und für Kakao | |
| gebe es Parallelen, sagt sie. Serap Kara sieht sich als als Botschafterin | |
| des Kakaos und als Sprecherin der Erde. | |
| Wir trinken die Flüssigkeit, die sich dickflüssig, fast schon zäh anfühlt. | |
| Beim Schlucken hinterlässt sie einen öligen Film auf Zähnen und Zunge. Und | |
| bitter schmeckt sie, wie die bitterste Zartbitterschokolade. Wir legen uns | |
| hin, decken uns zu. Kara begleitet die Meditation. Obwohl es warm ist im | |
| Raum, bekomme ich eine Gänsehaut. Mein Herz schlägt schneller. Eine Frau | |
| mir gegenüber beginnt zu schluchzen. Ich fühle mich wie in dem | |
| Dämmerzustand, kurz bevor man einschläft: leicht und weggetreten, aber | |
| trotzdem noch da. Dann beginnt das Gongspiel. Ich löse mich auf. Werde eins | |
| mit meiner Umgebung. Der Kakao wirkt. | |
| ## War's doch zu viel? | |
| Nach ungefähr 90 Minuten endet die Meditation. Eine große Erkenntnis hatte | |
| ich nicht, aber ich fühle mich offen, entspannt und wohl. Und: Ich bin | |
| angefixt, habe Lust auf mehr von diesem Gefühl. Am selben Abend gehe ich zu | |
| einer weiteren Kakaozeremonie, einer sogenannten Lucid Party, in einer | |
| ehemaligen Brauerei am Volkspark Friedrichshain. | |
| Der „Sacred Space“ ist hier deutlich größer, etwa 200 Menschen sind da. Es | |
| ist wie auf einem überdachten Minifestival: Die Räume sind geschmückt mit | |
| Teppichen, Kerzen, Artefakten aus Stöcken und bunten Fäden. Im rechten Raum | |
| ist eine Tanzfläche, ein DJ legt sphärische elektronische Musik auf. Es | |
| gibt eine mit Tüchern abgehängte Ecke mit Kissen, Matratzen und Decken. | |
| Daneben Stände mit allerlei bunten Kleidungsstücken oder Schmuck aus | |
| schnörkelig geschwungenem Metall oder Holz. Außerdem Stände mit Essen: | |
| Chili sin Carne, rohvegane Kuchen, Smoothies. Mittig im Raum liegen | |
| Teppiche. | |
| Vorne ist die Kakaobar. Als die Zeremonie beginnt, holt sich jede*r einen | |
| Plastikbecher mit dem braunen Getränk ab. Wir setzen uns auf die Teppiche. | |
| Menschen in schlichten Jeans und T-Shirt, mit bunt gemusterten Leggings, in | |
| Kleidern oder Tuniken, mit Bindis auf der Stirn. Wir formulieren Gebet und | |
| Intention, trinken den Kakao, dann gehen wir zusammen zur Tanzfläche. | |
| Dort singen und tanzen die Teilnehmer*innen, einige ekstatisch, die Augen | |
| geschlossen, lächelnd, schnell. Sie wirken high. Kommt das alles vom Kakao? | |
| „Ich merke ihn immer schon nach ein paar Schlucken“, sagt eine Frau mit | |
| glitzerndem Stirnband und geröteten Wangen. „Ich weiß nicht, ob es der | |
| Kakao oder einfach die Stimmung hier ist“, sagt eine andere, die die Haare | |
| zu einem strengen Zopf gebunden hat. | |
| Wird hier respektvoll mit dem Brauch um die heilige Pflanze der Maya | |
| umgegangen, oder eignet man ihn sich bloß an, um eine ausgefallene Party zu | |
| feiern? Ein bisschen sieht es danach aus. Andererseits: In der Sage heißt | |
| es, der Kakao finde seinen Weg aus dem Regenwald zu den Menschen. Hier eben | |
| im Umfeld einer Party. Das Erleben von Gemeinschaft, das Auflösen der | |
| Anonymität stehen hier im Vordergrund. | |
| Zwei Stunden bleibe ich, habe Spaß und tanze. Vom Kakao merke ich nichts, | |
| kein Kribbeln, keinen erhöhten Puls, keine übermäßige Ekstase. Nur | |
| stechende Kopfschmerzen kriege ich plötzlich. Vielleicht war es zu viel | |
| Kakao für einen Tag. Genau wie Koffein kann auch Theobromin Kopfweh | |
| auslösen. Eine Teilnehmerin hatte mich schon davor gewarnt. Sie nannte es | |
| Kakaokater. | |
| 5 Feb 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Maike Brülls | |
| ## TAGS | |
| Kakao | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Drogen | |
| Selbsthilfe | |
| Kolumbien | |
| Elfenbeinküste | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Workshop zur Selbstliebe: Schamlos glücklich | |
| Ein Women's Circle soll helfen, die eigene Göttin in sich zu entdecken – | |
| inklusive trantrischer Meditationen. Wahre Erleuchtung sieht anders aus. | |
| Biokakao aus San José de Apartadó: Erst die Bohnen, dann die Bananen | |
| Kollektiv, fair und bio – so werden die Kakaobohnen der kolumbianischen | |
| Friedensgemeinde geerntet. Die Gepa bringt sie auch in hiesige Supermärkte. | |
| Schokolade – „Made in Ivory Coast“: Von der Bohne zur Praline | |
| Die Elfenbeinküste ist beim Kakaoanbau führend in der Welt – für den | |
| Export. Die Herstellung von Schokolade vor Ort steht noch am Anfang. |