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# taz.de -- Ausschreitungen in Chemnitz: Klassenkampf vorm Marx-„Nischel“
> Nach einer tödlichen Attacke in Chemnitz brechen sich rechte Aggressionen
> Bahn. Beim Aufmarsch am Montag war der Mord aber nur Stichwortgeber.
Bild: Rechte Demonstrant*innen vor dem Karl-Marx-Monument am Montag, 27. August…
CHEMNITZ taz | Die Kameras der zahlreichen Fotografen klickten heftig.
Waren doch die Motive an diesem Montagabend an Groteske kaum zu überbieten.
Der in Bronze gegossene riesige Karl-Marx-Kopf, in der DDR auf sächsisch
nur „der Nischel“ genannt, blickte stumm auf eine stetig wachsende Menge
aufgebrachter Bürger, denen er eigentlich verhasst ist. Bis zu 3.000
könnten es am Ende gewesen sein. Um den Sockel der zweitgrößten
Porträtbüste der Welt hatten die Demonstranten in Fraktur eine Banderole
mit dem Refrain des Erzgebirgsliedes „Doitsch und frei woll´mer sei“
gebunden.
Als Chemnitz noch Karl-Marx-Stadt hieß, fanden hier auf der Karl-Marx-Allee
die großen SED-Aufmärsche und Maikundgebungen statt. Hier hielt Oskar
Lafontaine vor WASG-Anhängern 2005 aber auch seine missverständliche
„Fremdarbeiter“-Rede, die die später mit der PDS zur Linken vereinigte
Wahlalternative plötzlich in ein rechtes Licht rückte.
Hinter dem „Nischel“ prangt am Gebäude der ehemaligen SED-Bezirksleitung in
riesigen Lettern und verschiedenen Weltsprachen noch immer die Aufforderung
aus dem Kommunistischen Manifest: Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!
Was sich hier vereinigte, war am Tag zwei nach der Ermordung eines
Deutschkubaners die alte und die neue Rechte, verstärkt durch „besorgte
Bürger“ aus Chemnitz.
Die im Stadtrat mit drei Sitzen vertretene ausländerfeindliche
Bürgerbewegung „Pro Chemnitz“ hatte den „Trauermarsch“ angemeldet.
Pegida-Gesichter aus Dresden waren unschwer zu entdecken, der frühere
PDS-Anwalt Jens Lorek zum Beispiel oder Heiko Müller, der im Wahlkampf den
Anti-Merkel-Tourismus organisierte. Die nationalsozialistische Partei „Der
dritte Weg“ stand mit einem Plakat in der ersten Reihe.
## Anlass, um Generalfrust auszutoben
Nazigrößen wie Tommy Frenck oder der Konzertveranstalter Patrick Schröder
tauchten in der Menge unter. Eine zunächst eifrig geschwenkte AfD-Fahne war
nach einer halben Stunde verschwunden. Deren sächsische Landesspitze hatte
per Pressemitteilung versucht, sich von den spontanen Ausschreitungen am
Sonntag zu distanzieren und eine friedliche Trauerkundgebung am kommenden
Sonnabend angekündigt.
Der Ermordete, um den man hätte trauern können, spielte bei diesem rechten
Aufmarsch nur als Stichwortgeber im makabersten Wortsinn eine Rolle. In der
Nacht zum Sonntag war er erstochen und zwei seiner Begleiter schwer
verletzt worden, mutmaßlich von einem jungen Iraker und einem Syrer.
„Aufstehen gegen Messer-Gräuel“ fordert ein Plakat, „Asylflut stoppen“…
anderes.
Die Mordtat lieferte nur den Anlass, Generalfrust auszutoben. Denn die Rufe
folgten den von Pegida und anderen rechten Aufzügen bekannten Ritualen.
Selbstverständlich muss Merkel weg, wird der „Widerstand“ beschworen und
die „Lügenpresse“ beschimpft.
Redner, die wegen der Störrufe der linken Gegendemo kaum zu verstehen sind,
heizen eine Bürgerkriegsstimmung an. Die spontanen Hetzjagden auf Ausländer
am Sonntag seien nicht Selbstjustiz, sondern Selbstverteidigung gewesen.
„Die nächste Wende muss erheblich gründlicher werden“, ruft einer unter
Gebrüll. Der britische Brexit wird zum Vorbild für einen nationalen Weg
Deutschlands genommen. Es geht nicht nur gegen Ausländer, es geht gegen das
System.
## „Von uns geht keine Eskalation aus!“
„Ich bin extra aus Bayreuth hergekommen“, bekennt ein junger Mann stolz.
Schon die Marschkolonnen von Bus und Bahn lassen auf Demo-Touristen
schließen. Chemnitzer, mit denen sich ein Wortwechsel entspinnt, wollen
keinesfalls Nazis genannt werden. Auf erwartbare fatale Folgen der
Machtergreifungs-Parolen wie die Liquidation politischer Gegner
angesprochen, geraten sie in Rage. „Du bist der erste“, rücken sie mit
Drohgebärden dem Reporter nahe.
Jenseits der etwa 30 Meter breiten Karl-Marx-Allee, die heute wieder
Brückenstraße heißt, beginnt der kleine Stadthallenpark. Ein Szenetreff
Jugendlicher, freies Stadt-WLAN gibt es hier, aber auch Drogen. Ganz in der
Nähe liegt der Tatort der Messerattacke. Auf einer Parkbank warten drei
Jugendliche auf die angekündigte Linken-Demo. Weil Nazis in der Nähe sind,
zeigt einer eine angeblich schussbereite Pistole, die er mitgebracht hat.
An diesem späten Montagnachmittag haben „Chemnitz Nazifrei“ und die
Stadtlinke zu einer stationären Kundgebung in den Park eingeladen. Etwa
tausend überwiegend junge Leute sind gekommen. „Die schlimme Tat wird
instrumentalisiert“, warnt der Linken-Stadtvorsitzende Tim Detzner. „Von
uns geht keine Eskalation aus!“
Stimmt, auch wenn sich über die Straße auf vielleicht 50 Metern Distanz ein
ritualisierter Kampf der Stimmbänder und Megafone entspinnt. Nazis
provozieren mit Eiertänzen die Antifa hinter dem Zaun, beschimpfen sie als
Faulenzer, die erst einmal arbeiten sollten. „Eure Eltern sind
Geschwister“, skandieren sie. „Wir wollen keine Nazischweine“, kommt es
formelhaft zurück, ebenso das „Nie wieder Deutschland“, und einer ruft:
„Nazis töten ist kein Mord!“
## Nicht auf solche Dimensionen vorbereitet
Die Aggressionen aber brechen sich auf der Naziseite Bahn. Als es nach den
Reden auf eine Runde um die Innenstadt gehen soll, stürmen einige Hundert
plötzlich über die Straße auf eine Gruppe Ausländer und Linke los, die sich
bis an den gegenüberliegenden Straßenrand vorgewagt haben und nun panisch
die Flucht ergreifen. Flaschen, Gegenstände und Böller verletzen sechs
Demonstranten, eine Leuchtrakete trifft glücklicherweise niemanden.
Die überrannten Polizisten können mit Mühe eine zweite Kette aufbauen,
wenig später rücken zwei Wasserwerfer und Einsatzwagen heran, die eine
Schutzwand bilden. Die Nazis aber dürfen auch nach dieser Eskalation ihre
Runde laufen, nur von wenigen Polizisten eskortiert. Ein Polizeisprecher
wirkt verwirrt, später räumt die Direktion ein, auf solche Dimensionen
nicht vorbereitet gewesen zu sein. Den aggressiven Mob an der Brückenstraße
einzukesseln, hätte offensichtlich viel mehr Einsatzkräfte erfordert. Aber
auch beobachtete Hitlergrüße blieben vorerst ohne Folgen – mittlerweile
ermittelt die Polizei Chemnitz diesbezüglich gegen zehn Menschen.
Und doch lief in der umrundeten Innenstadt das Einkaufsgeschehen scheinbar
unbeeindruckt weiter, ärgerten sich Passanten nur über vorübergehende
Straßensperrungen. Ein hochbetagter Rentner muss erst einmal verstehen, was
los ist. Wo es doch so lange ruhig blieb in Chemnitz.
Nur um die Flüchtlings-Erstaufnahme gab es 2015 die damals üblichen
Proteste. Beim Pressestatement wirkte SPD-Oberbürgermeisterin Barbara
Ludwig versteinert. Sie sprach von einer „furchtbaren Tat“ und hoffte auf
die „Besonnenheit der Trauernden“. Die aber wollten an diesem Montag nicht
trauern, sondern sich empören. Gegen alles, was anders als sie ist.
28 Aug 2018
## AUTOREN
Michael Bartsch
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