| # taz.de -- Kleinstadtleben in Niedersachsen: Im Schatten der Luxuswerft | |
| > Berne kämpft um seine Zukunft und steht in Konkurrenz zu den Nachbarn in | |
| > Lemwerder. Die profitieren mit Jacht-Werften vom Geld Superreicher. | |
| Bild: Versucht sich gegen die Nachbargemeinden zu behaupten: Berne | |
| Bremen taz | Der Tante-Emma-Laden am Rande des frisch gepflasterten | |
| Marktplatzes hat gerade dicht gemacht, aus gesundheitlichen Gründen. Nur | |
| der Bäcker ist noch geblieben. Es ist der vorletzte, hier in Berne, einer | |
| Kleinstadt an der Weser, gegenüber von Bremen. Womöglich mache dieser | |
| Bäcker aber auch bald zu, heißt es im Ort. Dann entsteht ein neues Monopol; | |
| der Blumenladen hat schon eines. | |
| Vor dem alten Rathaus gibt es neuerdings ein paar Parkplätze weniger, dafür | |
| neue Bänke aus Holz und eine junge Eiche am Gefallenendenkmal für die Toten | |
| aus dem Siebziger-Krieg, auch die historischen Lampen haben sie wieder | |
| aufgehübscht. Seit 1601 hat Berne das Marktrecht, seit 1750 fanden hier | |
| Viehmärkte statt. Mittlerweile hat die Gemeinde rund 7.000 EinwohnerInnen. | |
| Doch auf dem Breithof, wie der Platz offiziell heißt, treffen sich schon | |
| lange keine HändlerInnen mehr. Nicht mal in der Vorweihnachtszeit. | |
| Ein paar ältere Herrschaften sitzen an diesem Montag zusammen vor dem | |
| Gasthaus Schütte, das direkt an die mittelalterliche Backsteinkirche und | |
| ihren Friedhof grenzt. „Der Wunsch der Gemeinde ist, den Breithof mit Leben | |
| zu füllen“, sagte der stellvertretende Bürgermeister Michael Heibült im | |
| vergangen Jahr, als er ihn wieder eröffnete. 840.000 Euro investierte die | |
| Gemeinde. | |
| Nun ist der Marktplatz eine Spielstraße, nur Kinder sieht man hier noch | |
| immer selten. Etwa 300 BernerInnen sind noch keine sechs Jahre alt, und | |
| auch in zehn Jahren werden es nicht viel mehr sein, prognostizieren die | |
| StatistikerInnen. Dafür wird die Kleinstadt mehr Alte haben: Etwas über | |
| 1.400 Menschen hier sind schon heute über 65, in zehn Jahren werden fast | |
| 1.800 zu dieser Altersgruppe gehören. | |
| ## Angst vor Geisterstädten | |
| Diese Zahlen sind recht typisch für Niedersachsen. 2060 werden, offiziellen | |
| Schätzungen zufolge, dort gerade noch so viele Menschen leben wie kurz nach | |
| dem Zweiten Weltkrieg. Zwar steigt die Bevölkerungszahl im Hamburger | |
| Umland, in Hannover, Braunschweig oder Oldenburg perspektivisch, fährt man | |
| aber in den Süden oder Osten des Landes, oder hierher in die Wesermarsch | |
| und weiter an die Küste, werden es umso weniger. „Das Schreckgespenst | |
| verlassener Orte geht um“, schrieb der Weser-Kurier schon im vergangenen | |
| Jahr. | |
| Bürgermeister Hartmut Schierenstedt aber ist optimistisch. „Es ist schön, | |
| hier zu leben“, sagt der 59-jährige, „wir sind eine aufstrebende Gemeinde. | |
| Dann spricht er von der steigenden Geburtenrate, von einem neuen | |
| Gewerbegebiet, und von einer Firma am Ort, die Spezialdichtungen | |
| handfertigt und gerade 7,5 Millionen Euro in Berne investiert hat. Der | |
| Parteilose ist einer von jenen Bürgermeistern, die ihre Stadt und die | |
| BewohnerInnen sehr gut kennen, mit vielen von ihnen per Du ist. | |
| Bei der Wahl im vergangenen Jahr setzte er sich mit einer einzigen Stimme | |
| Mehrheit gegen seinen Kontrahenten durch, den sowohl SPD als auch CDU | |
| unterstützt hatten. „Ich dachte, bevor einer von außen kommt, mach ich es | |
| als Berner lieber selbst“, sagte er damals, und organisierte den Wahlkampf | |
| zusammen mit seiner Familie. Nebenbei ist er noch „Hobby-Landwirt“, wie er | |
| das nennt, und stellvertretender Kreisbrandmeister der Feuerwehr ist er | |
| auch. Die Bild nannte seinen Wahlsieg „Das Wunder von Berne“. | |
| Schierenstedt ist ein „Ur-Stedinger“, wie er selbst sagt, seine Familie | |
| lebt schon seit dem 15. Jahrhundert hier – „mindestens!“ Stedingen, das i… | |
| der Süden der oldenburgischen Wesermarsch, also die heutigen Gemeinden | |
| Berne und Lemwerder, beide nebeneinander am Ufer der Weser gelegen, mit | |
| Blick auf Bremen. | |
| Im 13. Jahrhundert war Stedingen die erste Bauernrepublik: Sie lehnte sich | |
| gegen das feudale Regime ihres Landesherrn auf, des Erzbischofs Gerhard II. | |
| von Bremen, der daraufhin ein Kreuzfahrerheer losschickte und die Bauern in | |
| der Schlacht von Altenesch 1234 grausam niedermetzelte. Als Sieger nahmen | |
| die Bremer das Land in Besitz und die wenigen Überlebenden wurden vielfach | |
| zu Knechten. Die Kirche, in der die als Ketzerei ausgelegte Aufmüpfigkeit | |
| der Stedinger einst begonnen hatte, das ist jene in Berne, am Marktplatz. | |
| ## Stadt-T-Shirts hat Berne nicht | |
| Diese Geschichte ist aber nicht nur irgendeine aus dem Mittelalter. Der 27. | |
| Mai 1234 ist ein wichtiges Datum. Es ist bis heute wesentlich, um die Leute | |
| hier zu verstehen. Auch Lemwerders parteilose Bürgermeisterin Regina Neuke | |
| erwähnt es, gleich als erstes, bei einem Pressetermin, bei dem es | |
| eigentlich um ihr Stadtmarketing geht. | |
| An die Preisträger, die sie an diesem Tag auszeichnet, übergibt sie | |
| T-Shirts. „Lemwerder“ steht darauf, in großen Lettern, dazu der Längen- u… | |
| Breitengrad und der Schriftzug „Genuine Authentic Comfort Clothing“. Man | |
| kann sie auch für 18 Euro bei der Gemeinde kaufen. Berne hat so was nicht. | |
| Wenn der dortige Bürgermeister von Bremen redet, dann ist das „drüben“. D… | |
| klingt dann ein bisschen wie damals, wenn vom Osten die Rede war. Die Weser | |
| trennt sie, die Bremer und die Stedinger, seit eh und je – kulturell, | |
| politisch, geografisch. Die Menschen in der Wesermarsch orientieren sich | |
| eher nach Oldenburg. Vielleicht noch nach Hude, das mit über 16.000 | |
| EinwohnerInnen mehr als doppelt so groß ist wie Berne und Lemwerder, und | |
| zehn Kilometer von da, 15 von dort entfernt ist. | |
| Wenn man in Berne davon spricht, ihre Stadt liege im Schatten Bremens, dann | |
| hören die das nicht so gern. Nicht eine Brücke verbindet Bremen und | |
| Stedingen, nur drei Fähren, die Tag und Nacht fahren, und auf die sie | |
| „stolz“ sind, wie Hartmut Schierenstedt sagt. | |
| Ohnehin leben sie bis heute überwiegend von der Schifffahrt – fast 30 | |
| Werften gab es einst in Stedingen, drei haben bis heute überlebt: Zwei | |
| davon, Lürssen sowie Abeking & Rasmussen sitzen hauptsächlich in Lemwerder; | |
| ihr Geld verdienen sie mit der Kriegsmarine, aber auch mit Motorjachten | |
| für jene, die zumindest Multi-Millionäre sind: Eine Motorjacht, heißt es, | |
| kostet hier schon ohne Extras mindestens eine Million Euro – pro Meter. | |
| Als das US-Magazin Vanity Fair einmal eine Landkarte mit wichtigsten Orten | |
| für die Superreichen druckte, waren die karibische Insel St. Martin und das | |
| Skiparadies Aspen darauf verzeichnet, aber nur ein deutscher Ort: | |
| Lemwerder. | |
| Weltweit werden jährlich rund 25 Mega-Jachten in Auftrag gegeben, viele | |
| davon bei Abeking & Rasmussen oder eben der Lürssen-Werft, die allein über | |
| 2.700 Menschen beschäftigt und zuletzt auch die Hamburger Schiffbauer Blohm | |
| + Voss übernommen hat. Elf der 20 größten Motorjachten der letzten 20 Jahre | |
| hat Lürssen gebaut. Nebenan gibt es die Fassmer-Werft in Berne, die man vor | |
| allem wegen ihrer Seenotrettungsboote und Fähren kennt, 1.200 | |
| MitarbeiterInnen hat sie weltweit. | |
| Und auch in Berne hat Lürssen einen Ableger, dort wird gerade die | |
| Bundeswehr-Fregatte „Brandenburg“ überholt. Es ist ein kleines Stück vom | |
| Kuchen, das sie in Berne abbekommen haben. Sie sind froh darum. | |
| ## Die Nachbarn haben weniger Schulden | |
| „Wir haben eine Industriearbeitsplatzquote in Lemwerder, da träumt manche | |
| Stadt von“, sagt Bürgermeisterin Neuke. „Lemwerder verfügt über mehr | |
| Einnahmen“, gibt Hartmuth Schierenstedt unumwunden zu – und sagt, dass es | |
| da „überhaupt keinen Neid“ gebe. Doch während Berne knapp 1.000 Euro an | |
| Steuern pro Einwohner bekommt, hat Lemwerder mehr als das Doppelte. | |
| Und die Pro-Kopf-Verschuldung ist in Berne sechs Mal so hoch wie in der | |
| Nachbargemeinde, die Wachstumsrate bei der Zahl der | |
| sozialversicherungspflichtig Beschäftigten lag in Lemwerder zuletzt bei | |
| knapp 17 Prozent, in Berne aber nur kurz über Null, nach mehreren Jahren | |
| des Rückgangs. | |
| „Uns geht es auch nicht so schlecht“, sagt Hartmuth Schierenstedt, wenn das | |
| Gespräch auf diese Fakten kommt. Vielleicht bekommen Berne und Lemwerder | |
| irgendwann wieder eine gemeinsame Verwaltung, so wie es sie bis 1948 schon | |
| gab – aber davon redet offiziell noch niemand. | |
| Vom Büro des Bürgermeisters aus kann man über den kleinen S-Bahnhof Berne | |
| hinüber zu all den Pferdeweiden und in die Weite des Marschlandes blicken; | |
| in der Ferne stehen ein paar Windräder. „Unsere Gemeinde erzeugt selbst | |
| mehr Strom als sie verbraucht“, sagt er stolz, dank Biogas, Windenergie und | |
| Photovoltaik. Gerade eben hat der Bahnhof eine eigene Ladesäule für | |
| Elektromobile bekommen, einmal in der Stunde kann man mit der Nordwestbahn | |
| von hier nach Bremen, in Richtung Oldenburg oder nach Brake und Nordenham | |
| fahren. | |
| Etwa 500 Pendlerbewegungen gibt es pro Tag, viele davon nach Bremen. In | |
| Lemwerder wurde der Bahnhof schon 1995 stillgelegt, danach fuhr ein paar | |
| Jahre lang noch eine Museumsbahn. Dort, wo damals die Gleise lagen, ist | |
| heute ein Parkplatz für die MitarbeiterInnen der beiden Werften. Und wer | |
| zum Bahnhof will, muss eben über den Fluss, nach Bremen-Vegesack. | |
| Der Bus, hier „Deichläufer“ genannt, fährt inzwischen einmal in der Stunde | |
| von Berne südostwärts über Lemwerder nach Delmenhorst, manchmal sogar am | |
| Wochenende – und das ist schon ein echter Fortschritt. Bis vor Kurzem fuhr | |
| er nur alle zwei Stunden. Wer hier wohnt, hat eben ein Auto, auch im Alter | |
| noch. Carsharing gibt es erst wieder in Bremen, im anderen Bundesland. | |
| „Die Berner bezeichnen ihre schöne Gemeinde auch als Venedig der | |
| Wesermarsch“, schreibt die örtliche Maklerin an jene, die sich hier für | |
| eine Immobilie interessieren. Das sagen sie zwar nicht wirklich, die | |
| Berner, aber viele Flüsse gibt es schon: Allein durch die kleine Innenstadt | |
| der weitläufigen Gemeinde fließen gleich zwei, die namensgebende Berne und | |
| die Ollen, und zwischen den Häusern sieht man noch weitere Gewässer und | |
| Kanäle. Die Berne wollten sie gern wieder befahrbar machen, sagt der | |
| Bürgermeister, an der Ollen gebe es immerhin alle zwei Jahre ein Fest mit | |
| Drachenboot-Rennen. | |
| ## Niedrige Immobilienpreise | |
| In der „Deutschland-Studie“ des ZDF und des Prognos-Instituts hat es für | |
| die Wesermarsch, in der Berne und Lemwerder liegen, gleichwohl nur für | |
| Platz 370 von 401 untersuchten Städten und Landkreisen gereicht. Damit | |
| liegt man zwar noch vor Delmenhorst (397), aber hinter Bremen (351), | |
| Wolfsburg (127) und Braunschweig (102). Gewonnen hat wieder einmal München. | |
| „Das weicht von der gefühlten Lebensrealität der Gemeinde völlig ab“, sa… | |
| Schierenstedt dem Weser-Kurier, und Amtskollegin Neuke sieht das ähnlich. | |
| Misst man die Lebensqualität einer Stadt aber an ihren Immobilienpreisen, | |
| kommt Berne schlecht weg. Weit und breit wohnt man nirgendwo so billig wie | |
| hier. 58 Euro kostet der Quadratmeter auf einem voll erschlossenen | |
| Grundstück in Berne – in Hude zahlt man schon das Doppelte, in Oldenburg | |
| eher das zehnfache, auch für unerschlossene Grundstücke. Auch Lemwerder ist | |
| teurer – und näher an der Bremer Innenstadt. | |
| Dafür gibt es in Berne dann aber auch nur einen Supermarkt am Ort. Im | |
| einwohnermäßig ähnlichen, aber kompakteren Lemwerder sind es schon drei, | |
| und einen Wochenmarkt haben sie auch, immer freitags. Von der Fläche her | |
| ist die Gemeinde Berne mehr als doppelt so groß, deswegen fehlen ihr in der | |
| Innenstadt für einen weiteren Discounter die Einwohner, sagt Schierenstedt. | |
| Aber nur etwa 150. Er hofft, dass sie das noch schaffen, denn die | |
| Grundversorgung in Berne, ja, die sei nicht so gut: „65 Prozent unserer | |
| Kaufkraft fließt in die Nachbargemeinden ab.“ | |
| Warum das so ist, merkt man schlagartig, sobald man vom Breithof hinaus auf | |
| die Lange Straße tritt, hinein in die Stadt kommt. All das Lauschige dieses | |
| Marktplatzes verliert sich schlagartig. Es ist eine enge, kurvige | |
| Ortsdurchfahrt, die man lieber Gasse nennen möchte, die aber eine | |
| Bundestraße ist. Bis zu 10.000 Fahrzeugen zwängen sich täglich hindurch, | |
| auch die großen Trecker, die 40-Tonner. | |
| Früher reihten sich hier die Geschäfte aneinander, inzwischen stehen die | |
| meisten von ihnen leer. Im Fenster des Kiosks „Dies und Das bei Kraps“ | |
| weist ein Zettel noch auf einen Flohmarkt hin, der 2014 stattfand, und die | |
| Scheiben des Fotostudios sind seit Langem ungeputzt, der Hinweis, derzeit | |
| könne man „keine festen Öffnungszeiten“ anbieten, ist schon arg verblasst. | |
| ## Die Bundesstraße macht Hoffnung | |
| Die Raiffeisenbank ist gerade ausgezogen, 86 Quadratmeter kosten hier 585 | |
| Euro Kaltmiete. Auch der „Nightclub Daisy“ neben der umtriebigen | |
| „Kulturmühle“, dem kulturellen Zentrum am Ende der Langen Straße, musste | |
| schon lange schließen; auch das Angebot für Flatrate-Sex hat das Geschäft | |
| am Ende nicht gerettet. | |
| Demnächst soll das alles komplett saniert werden, die neue Bundesstraße 212 | |
| wird derweil gerade um den Ort herum gebaut. 400.000 Euro hat Berne gerade | |
| vom Land bekommen, für die Sanierung seines Ortskerns – Lemwerder erhält | |
| aus demselben Programm „Soziale Stadt“ 800.000 Euro für eine von Investoren | |
| heruntergewirtschaftete Siedlung, die jetzt die Gemeinde übernommen hat. | |
| Nächstes Jahr könnte die neue Bundesstraße fertig sein. Schierenstedt setzt | |
| große Hoffnung in dieses Projekt, aber nicht jeder hier sieht das so. „Ich | |
| glaube nicht, dass es besser wird“, sagt einer der wenigen verbliebenen | |
| Einzelhändler in der Langen Straße, „nur ruhiger“. Wie er es schafft, von | |
| seinem Laden zu leben? „Indem man bescheiden lebt!“ Beklagen will er sich | |
| nicht. „Es ernährt mich“, sagt der Mann und klopft sich dabei auf den | |
| Bauch. | |
| Ein Stück weiter, neben dem ehemaligen Bordell, will die Diakonie bald ein | |
| neues Geschäft eröffnen, mit angeschlossenem Café und Produkten aus der | |
| Region, mit Fördergeldern, Projekten mit Studierenden und einer Einrichtung | |
| aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren. „Menschen, die früher auf dem | |
| Wochenmarkt eingekauft haben, sind offen dafür“, heißt es bei der Diakonie. | |
| Berne hätte dann zumindest wieder einen Tante-Emma-Laden in der Innenstadt. | |
| 9 Sep 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Zier | |
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