| # taz.de -- Deutsche Behördensprache für Flüchtlinge: Verloren im Paragrafen… | |
| > Bana Ghebrehiwet ist neu in Deutschland. Die Eritreerin erhält viel Post | |
| > von Behörden, die sie nicht versteht. Über Paragrafen und schlaflose | |
| > Nächte. | |
| Bild: Bana Ghebrehiwet in ihrem Zimmer in Berlin. Sie möchte nicht erkannt wer… | |
| Berlin taz | Die Geste kommt häufig: Mit der rechten Hand fegt Bana | |
| Ghebrehiwet durch die Luft, genervt, verzweifelt. Dazu ein „tss tss, | |
| Jobcenter“ und ein Augenrollen. Ghebrehiwet sitzt auf dem Bett in ihrem | |
| Zimmer in Berlin, wo sie seit einigen Monaten bei einer deutschen Familie | |
| wohnt. In ihrer Hand hält sie einen Umschlag mit einem amtlichen Stempel. | |
| Sie zittert und sagt: „Ich habe Angst. Was wollen die schon wieder?“ | |
| Mit „die“ meint die junge Frau das Jobcenter. Das Amt schickt der jungen | |
| Frau regelmäßig Briefe – so wie das üblich ist in Deutschland, wenn man von | |
| staatlichen Transferleistungen lebt. | |
| Die Augen der jungen Frau huschen unruhig hin und her. Ghebrehiwet ist 19 | |
| oder 20 Jahre alt, so genau weiß sie das nicht. In Eritrea, wo sie | |
| herkommt, gibt es kaum Melde- und Standesämter, die Geburten registrieren. | |
| Eine Geburtsurkunde hat sie nie besessen, sie hat keine Ahnung, an welchem | |
| Tag genau sie geboren ist. | |
| Die Gegenwart indes, ihr Leben in den vergangenen Jahren, ihre Wünsche, | |
| davon hat sie mehr als nur eine Ahnung, das kann sie genau beschreiben. | |
| Seit gut einem Jahr ist sie in Deutschland und froh darüber. „Ich will | |
| bleiben“, sagt sie. „Hier ist Frieden, ich kann zur Schule gehen und einen | |
| Beruf lernen.“ Bis ins Jahr 2022 hat sie einen sogenannten subsidiären | |
| Schutzstatus. Sie hat Freunde gefunden, migrantische und deutsche. Ihr | |
| Zimmer in der Wohnung der Deutschen in einem gutbürgerlichen Berliner | |
| Viertel ist 28 Quadratmeter groß, hat ein weiches Bett, Schränke, einen | |
| Schreibtisch, Bilder an den Wänden, eine Topfpflanze. „Luxus“, sagt | |
| Ghebrehiwet. | |
| ## Schlaflose Nächte vor dem Besuch des Jobcenters | |
| Trotzdem kann Bana Ghebrehiwet an manchen Tagen nicht aufstehen. Dann | |
| plagen sie fürchterliche Schmerzen, in den Beinen, im Kopf. Sie krallt die | |
| Decke über ihrem schmalen Körper zusammen und sagt: „Mein Kopf ist kaputt.�… | |
| Der Grund sind Alpträume, die in jeder Nacht wiederkommen: Bilder vom | |
| Krieg, von den Übergriffen auf der Flucht. Und es ist die ständige Angst | |
| vor den deutschen Behörden. Wenn sie, so wie morgen, einen Termin beim | |
| Jobcenter hat, liegt sie die ganze Nacht wach. | |
| Die deutschen Behörden, das sind im Fall von Ghebrehiwet vor allem das | |
| Jobcenter und die Familienkasse. Die schicken regelmäßig Post: Die Ämter | |
| fragen nach Formularen und Anträgen, nach Kopien von Unterlagen, | |
| Bestätigungen von der Schule und ihren Vermietern. Vor allem aber enthalten | |
| die Umschläge Bescheide über die staatlichen Zuwendungen, die die junge | |
| Frau bekommt oder bekommen soll. Schreiben, in denen Sätze stehen wie | |
| dieser: „Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines | |
| Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt | |
| ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb | |
| Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, ist der | |
| Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für | |
| die Vergangenheit zurückzunehmen.“ | |
| Was fängt eine Geflüchtete damit an? Eine junge Frau aus Eritrea, die | |
| gerade Deutsch lernt, und der „deutsche Bürokratie“ kaum zu vermitteln ist? | |
| Ghebrehiwet kommt aus einem kleinen Dorf in der Nähe der eritreischen | |
| Hauptstadt Asmara, dort ist sie zur Schule gegangen, hat Lesen, Schreiben | |
| und ein wenig Englisch gelernt. Was man so braucht, um klarzukommen in | |
| Eritrea. Ein Leben aber, das sich stark über Rechtsnormen, Vorschriften und | |
| Anträge entfaltet, so wie das in Deutschland der Fall ist, das kennt | |
| Ghebrehiwet nicht. | |
| 2015 ist Ghebrehiwet aus Eritrea geflohen. Gerade rechtzeitig, wenig später | |
| hätten Söldner vor der Haustür ihrer Familie gestanden, um das Mädchen | |
| mitzunehmen. Weil Eritrea und Äthiopien jahrelang miteinander verfeindet | |
| waren, müssen in Eritrea alle Frauen zur Armee. Gewöhnlich, wenn sie 18 | |
| Jahre alt sind, in der jüngeren Vergangenheit aber auch schon früher. | |
| Ghebrehiwet ist das mittlere von fünf Kindern, die älteste Schwester ist | |
| vor Jahren von der Armee geholt worden. Niemand weiß, wo die Schwester ist, | |
| keiner in der Familie hat seit Jahren mit ihr gesprochen. Ihren Vater kennt | |
| Ghebrehiwet nur als Zaungast, auch er ist bei der Armee. | |
| ## Berechnungsbögen und Änderungsbescheide | |
| Ihre Flucht ist eine Leidensgeschichte wie so viele: Flüchtlingslager in | |
| Äthiopien und Sudan, Gefängnis in Libyen, Boot übers Mittelmeer nach | |
| Italien, Ankunft in Deutschland. Hunger, Durst, Gewalt, Vergewaltigungen. | |
| „Ich will das alles vergessen“, sagt sie. Psycholog*innen wissen, dass | |
| Geflüchtete Monate brauchen, um zur Ruhe zu kommen. Viel schlafen, | |
| Zuwendung, so was. Stattdessen werden sie bei Behörden unfreundlich | |
| empfangen, wenn sie zum Termin zu spät kommen. Sie müssen Amtsschreiben | |
| entziffern und zeitnah reagieren. Viele sind damit überfordert. | |
| Manchmal liegt jeden zweiten Tag ein Schreiben für Ghebrehiwet im | |
| Briefkasten. Mal ein „Berechnungsbogen“, der mitteilt, wie viel Geld ihr | |
| das Jobcenter gewährt. Wenig später ist es ein „Bescheid zur Aufhebung“ | |
| dieser Summe. Kurz danach ein „Änderungsbescheid über Leistungen zur | |
| Sicherung des Lebensunterhalts“. Die Erklärungen dazu lesen sich so: „Füh… | |
| eine einmalige Einnahme nicht zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit, ist | |
| sie vollständig im Zufluss- oder im Folgemonat unter Berücksichtigung der | |
| Absetzbeträge nach § 11b zu berücksichtigen.“ Oder: „Soweit durch die | |
| Anrechnung in einem Monat die Hilfebedürftigkeit entfallen würde, ist eine | |
| einmalige Einnahme gleichmäßig auf einen Zeitraum von sechs Monaten | |
| aufzuteilen, unabhängig davon, ob dann für diesen Zeitraum | |
| Hilfebedürftigkeit entfällt oder nicht.“ | |
| Ghebrehiwet sagt: „Bis zu meiner Flucht habe ich ohne Papiere gelebt. Ich | |
| bin ein Jahr in Deutschland und habe schon einen vollen Aktenordner.“ Ein | |
| schwarze Ablagemappe mit Trennblättern, ihr „deutsches Leben“ streng | |
| sortiert nach Ausländerbehörde, Jobcenter, Wohnen, Schule, Kindergeld. | |
| Ghebrehiwet schüttelt verständnislos den Kopf, wenn man versucht, ihr zu | |
| erklären, dass in Deutschland alles seine Ordnung haben muss, was durchaus | |
| von Vorteil sein kann. Wie viele Geflüchtete versteht sie nicht, dass es | |
| hierzulande ohne Anträge, vollständige Papiere, Kopien von Kontoauszügen | |
| und Schulbescheinigungen niemals geht. Auch für die Deutschen nicht. Sonst | |
| gibt es kein Geld. | |
| ## Berechnungen, die unerklärlich bleiben | |
| Wie aber erklärt man einer Eritreerin, was sich auch den meisten Deutschen | |
| kaum vermittelt? Eine Behördensprache, deren kryptische Botschaften und | |
| Berechnungen selbst deutsche Akademiker*innen kaum entziffern dürften. Wer | |
| – außer Juristen und den Behördenmitarbeiter*innen – versteht schon Sätze | |
| wie: „Die Entscheidung zur Aufhebung beruht auf 3 48 Absatz 1 Satz 2 Nummer | |
| 1 zehntes Sozialgesetzbuch – SGB X in Verbindung mit § 330 Absatz 3 Satz 1 | |
| drittes Buch Sozialgesetzbuch – SGB III in Verbindung mit 3 40 Absatz 2 | |
| Nummer 3 SGB II“? | |
| Häufig stimmen die Summen, die in den Schreiben angegeben sind, nicht mit | |
| denen überein, die auf Ghebrehiwets Konto landen. Beispielsweise im Juli: | |
| Ein Schreiben verspricht 394,57 Euro. Wenig später korrigiert ein | |
| „Änderungsbescheid über Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts“ | |
| diese Summe. Dann teilt ein weiterer Bescheid mit, dass sie ein „zu | |
| berücksichtigendes Gesamteinkommen von 453,66 Euro“ und einen | |
| Leistungsanspruch von 1.286,64 Euro habe. Bekommen hat Ghebrehiwet indes | |
| nichts. | |
| Nachfragen beim Jobcenter. Die Erläuterungen klären kaum auf. Da ist die | |
| Rede vom „Zuflussmoment“, von „Verrechnungen und späterer Nachzahlung des | |
| Kindergeldes, die sich aufteilt auf mehrere Monate“, von „Einmalzahlungen, | |
| die verrechnet werden“ und „Vorauszahlungen, die berücksichtigt werden“. | |
| Manche der Summen, die bei der Erklärung durch den Raum fliegen, tauchen in | |
| älteren Schreiben des Jobcenters an die junge Frau auf. Andere wiederum | |
| nicht. Diese sind nur in der „Akte Ghebrehiwet“ verzeichnet, die als dicker | |
| Ordner in einem Schrank im Jobcenter steht. | |
| Es ist ein Wirrwarr aus Zahlen, Summen und Kosten, gewiss alles | |
| rechtsstaatlich geprüft, in Ordnung und allen Vorschriften entsprechend, | |
| aber bisweilen selbst von Mitarbeiter*innen des Jobcenters nicht zu | |
| verstehen. Ein Mitarbeiter antwortete am Telefon auf Nachfrage zu den | |
| Berechnungen für den Juli: „Das kann ich Ihnen nicht erklären.“ | |
| In einem Schreiben, das Ghebrehiwet Anfang August als Korrektur für den | |
| Juli bekam, taucht zudem ein großer Posten auf: 924,30 Euro, Heimkosten aus | |
| einer Zeit, als sie noch in der Flüchtlingsunterkunft wohnte. Das Geld hat | |
| das Jobcenter direkt an das zuständige Landesamt für | |
| Flüchtlingsangelegenheiten überwiesen. Damit hat Ghebrehiwet also überhaupt | |
| nichts zu tun. Wieso muss sie das wissen? Der Gesetzgeber schreibe das so | |
| vor, erklärt eine Jobcentermitarbeiterin: „Damit die Geflüchtete weiß, dass | |
| ihre Wohnheimkosten beglichen sind.“ | |
| ## „Ich will doch einfach nur zur Schule gehen“ | |
| Ghebrehiwet blättert in ihren Kontoauszügen, die vollständig und ordentlich | |
| abgeheftet sind. Morgen ein neuer Termin beim Jobcenter. Sie weiß jetzt | |
| schon, dass sie in der Nacht nicht schlafen wird. Seit Montag geht sie in | |
| eine neue Schule, ein Oberstufenzentrum Gesundheit, Ghebrehiwet will einmal | |
| Krankenschwester werden. Auf ihrem Konto hat sie 4,32 Euro. Das | |
| Schulmaterial für den Start in der neuen Bildungseinrichtung haben ihr ihre | |
| deutschen Vermieter gekauft. „Ich will einfach nur zur Schule gehen und | |
| lernen“, sagt Ghebrehiwet: „Dafür brauche ich nicht viel Geld. Aber ich | |
| brauche Ruhe.“ | |
| Bana Ghebrehiwet wohnt bei der Autorin zur Untermiete. | |
| 26 Aug 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Simone Schmollack | |
| ## TAGS | |
| Bürokratie | |
| Jobcenter | |
| Afrikanische Flüchtende | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Refugees | |
| Eritrea | |
| Hubertus Heil | |
| Geflüchtete Frauen | |
| Integration | |
| Asylsuchende | |
| Flüchtlinge | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Friedensprozess in Eritrea: Aus Feinden werden Freunde | |
| Seit Äthiopien und Eritrea Frieden geschlossen haben, belebt sich der | |
| Handel zwischen den beiden Ländern. Aber die Wehrpflicht für Eritreer | |
| bleibt. | |
| Kolumne Liebeserklärung: Die verrückte 13 | |
| Bundessozialminister Heil will das 13. Sozialgesetzbuch nicht SGB XIII | |
| nennen, aus Furcht vor der Unglückszahl. Das ist süß und nicht verkehrt. | |
| Geflüchtete Frauen in Hamburg: Schutzraum vor dem Aus | |
| Die einzige Hamburger Unterkunft für geflüchtete Frauen mit ihren Kindern | |
| soll in drei Monaten schließen. Wo die Schutzbedürftigen in Zukunft hin | |
| sollen, ist noch unklar. | |
| Integration geflüchteter Frauen in Bremen: Besonders hohe Hürden | |
| Der Beirat geflüchteter Frauen in Bremen fordert bessere | |
| Arbeitsmarktintegration, Übersetzungsangebote im Bereich Gesundheit und | |
| Sprachkurse mit Kinderbetreuung. | |
| Der Fall Abadir M.: Zum Nichtstun verdammt | |
| Ein Jahr hat Abadir M. bei der Hamburger Stadtreinigung gearbeitet. Seine | |
| Chefs und Kollegen wollen, dass er das auch weiter tut, doch die | |
| Ausländerbehörde stellt sich quer. | |
| Zahlen zu Fehlern bei Bamf-Bescheiden: Zu Unrecht Asyl? Gibt es fast nie | |
| Nach Franco A. und Bremen überprüft das Bamf mehr positive Asylbescheide | |
| als je zuvor. Fehler werden aber so gut wie keine gefunden. | |
| Italienisches Rettungsschiff im Mittelmeer: Gerettete sollen nach Libyen | |
| Italien und Malta streiten sich über die Aufnahme von 180 Geflüchteten, die | |
| im Mittelmeer gerettet wurden. Nun droht Italien, sie nach Libyen zu | |
| bringen. | |
| Bürokratie und Flüchtlinge: Amt verursacht Wohnungsnot | |
| Flüchtlinge, die eine Wohnung finden, müssen zu lange auf die Überweisung | |
| von Miete und Kaution warten, kritisiert der Flüchtlingsrat. Viele | |
| Vermieter sprängen deshalb ab. |