| # taz.de -- Aktivistin über solidarische Städte: „Einfach nicht nach Papier… | |
| > Berlin will im europäischen Netzwerk Solidarische Städte mitwirken. Die | |
| > Ankündigung reicht nicht, sagt Antje Dieterich vom Netzwerk Solidarity | |
| > City Berlin. | |
| Bild: Solidarity City heißt auch: Gesundheitsversorgung auch für Menschen ohn… | |
| taz: Frau Dieterich, der Senat hat angekündigt, im [1][europäischen | |
| Netzwerk „Solidarische Städte“] mitzuwirken. Wird Ihre Initiative damit | |
| überflüssig? | |
| Antje Dieterich: Wenn unter Solidarität verstanden wird, allen Berlinern | |
| die volle Partizipation zu ermöglichen, hätten wir tatsächlich alles | |
| erreicht. Aber so weit sind wir noch lange nicht. In Zeiten von Seehofer | |
| und Post-Pegida-Rassismus ist so eine Initiative ein gutes Zeichen, aber | |
| die Frage ist: Was folgt aus dieser Ankündigung? Nur zu sagen, Berlin ist | |
| eine solidarische Stadt, macht Berlin noch nicht zu einer. | |
| Was ist eine solidarische Stadt? | |
| Eine Stadt, in der die Trennung von Menschen in Deutsche und Migranten oder | |
| Legale und Papierlose aufgehoben ist; in der es heißt: Wer in Berlin lebt, | |
| kann zur Schule gehen und zum Arzt, kann sich einen Job suchen und eine | |
| Wohnung. Ein entscheidender Schritt ist es, Menschen vor Abschiebung zu | |
| schützen. | |
| Welche Bedeutung hat es, wenn Menschen sich nicht mehr vor Abschiebungen | |
| fürchten müssen? | |
| Mit dieser Sicherheit lassen sich die meisten anderen Probleme lösen. Dann | |
| können die Menschen auch wieder für sich selbst aufstehen. Sie können sich | |
| gegen Ausbeutung wehren. Dagegen, dass sie aufgrund von Diskriminierung | |
| keine Wohnung kriegen, dass sich bei einem Arbeitsunfall keiner für sie | |
| interessiert oder dass der Arbeitgeber auf einmal den Lohn nicht mehr oder | |
| von vornherein zu wenig bezahlt. | |
| Was kann Berlin konkret tun, um den Betroffenen das Bleiben zu ermöglichen? | |
| Man könnte Menschen einfach nicht mehr nach ihren Papieren fragen. In | |
| Schulen ist es bereits so, dass nicht mehr gefragt werden darf. Wenn das | |
| durch entsprechende Dienstvorgaben auch für Behörden oder die Polizei | |
| gelten würde, wäre das ein starkes lebenspraktische Beispiel dafür, wie man | |
| Sachen anders machen kann. Die Leute würden merken, dass die Welt nicht | |
| aufhört, sich zu drehen, wenn man nicht mehr nach dem Aufenthaltsstatus | |
| fragt. | |
| Aber es bleibt ein Restrisiko, doch aufzufliegen und dann abgeschoben zu | |
| werden. | |
| Es gibt auch das Recht für eine Stadt oder ein Land, Personengruppen zu | |
| definieren, die besonders schutzbedürftig sind, und diesen ein Bleiberecht | |
| zu geben. Das könnten Menschen aus Afghanistan sein, Menschen aus Kamerun | |
| oder Menschen, denen eine Abschiebung nach Griechenland droht. Das ist | |
| rechtlich nicht ganz einfach, auch weil es dafür kaum Beispiele gibt. Aber | |
| es geht, Paragraf 23 des Aufenthaltsgesetzes definiert eine solche | |
| Möglichkeit. Und ich wage, zu bezweifeln, dass Berlin Menschen ein | |
| Bleiberecht gibt und dann Seehofer oder eine Bundespolizei kommt, um diese | |
| doch abzuschieben. | |
| Das ist schon ein Moment des zivilen Ungehorsams gegenüber der | |
| Zentralregierung? | |
| Absolut, und das ist auch notwendig. Es wird behauptet, dass es in | |
| Deutschland ein gutes Asylrecht gäbe, manche aber davon ausgeschlossen | |
| sind, weil es ihnen nicht zusteht. Tatsächlich ist es so, dass es in | |
| Deutschland eigentlich kein Recht auf Asyl mehr gibt. Über zivilen | |
| Ungehorsam kann zumindest die Diskussion auch wieder dahin gehend erweitert | |
| werden, zu sagen: Es gibt ein Recht auf Asyl, und das wird verletzt. Folgen | |
| wir nicht der Vorgabe von Seehofer, sondern stellen uns hinter das, was | |
| rechtsethisch rechtens ist. | |
| Wie weit kann man überhaupt kommen mit einem Konzept der solidarischen | |
| Stadt, solange Deutschland und Europa auf eine strikte Abschottungspolitik | |
| setzen? | |
| Es ist klar, dass das Konzept Grenzen hat. Aber es ist wichtig, dass es | |
| gegen die rassistischen Vernetzungen, gegen Horst Seehofer und Matteo | |
| Salvini eine solidarische Städtebewegung gibt. Barcelona oder Athen etwa | |
| suchen gezielt den Austausch, um gute Lösungen zu finden. Berlin und andere | |
| Städte können ihre soziale Infrastruktur für alle Menschen öffnen. Aber man | |
| darf sich trotzdem nicht der Illusion hingeben, dass dann die Probleme aus | |
| der Welt sind. In Bayern ist nichts gelöst, nur weil Berlin etwas besser | |
| macht. Es ist der Versuch, Beispiele zu schaffen, um einer behaupteten | |
| Alternativlosigkeit etwas entgegenzusetzen. | |
| Was sollte die Politik beachten, wenn die den Weg zu einer solidarischen | |
| Stadt einschlägt? | |
| Notwendig ist es, sich intensiv und aus erster Hand mit benachteiligten | |
| Lebenssituationen auseinanderzusetzen, die aus ungeklärten | |
| Aufenthaltsfragen entstehen. Ohne das kann man gar nicht wissen, wo die | |
| Gefahren des Alltags lauern und wie man sich zu einer solidarischen Stadt | |
| entwickeln kann. Wenn der Senat nur einem Europa-Netzwerk beitritt, ohne | |
| aber diesen Austausch zu suchen, funktioniert es nicht. | |
| Haben Sie diese Erfahrungen? | |
| Wir haben seit Beginn unserer Arbeit 2015 viel Input von Betroffenen | |
| gesammelt und gefragt, welche Lebensfelder durch einen nicht legalen | |
| Aufenthaltsstatus betroffen sind. In erster Linie sind das Gesundheit, | |
| Bildung, Wohnen, Arbeit und Zugang zum Recht, also die Möglichkeit, einen | |
| Anwalt zu kontaktieren oder, wenn man Opfer einer Straftat wird, zur | |
| Polizei zu gehen. | |
| Teilen Sie Ihre Erfahrungen, wenn die Politik Interesse hat? | |
| Absolut. Bei unserem ersten praktischen Projekt, der Arbeit für einen | |
| anonymen Krankenschein, hat es bereits eine Zusammenarbeit mit Politik und | |
| Verwaltung gegeben. Uns geht es nicht um unsere Deutungshoheit oder um | |
| Kontrolle über das Wissen, sondern darum, politische Projekte in Berlin zu | |
| verbessern. Am 27. August treffen wir uns mit der Landesvorsitzenden der | |
| Linken, Katina Schubert. | |
| Was sind die wichtigsten Schritte, die Berlin jetzt im Sinne einer | |
| solidarischen Stadt gehen sollte? | |
| Der Senat muss allen Schulen und Bildungsträgern klarmachen, dass sie | |
| verpflichtet sind, alle Kinder aufzunehmen. Dabei könnte man auch | |
| herausfinden, warum sich manche Schulen da querstellen, etwa weil sie | |
| befürchten, dass die Kinder nicht krankenversichert sind. Die | |
| Willkommensklassen, in denen Kinder jahrelang geparkt und von Menschen ohne | |
| Lehramtsbildung unterrichtet werden, müssen abgeschafft werden. Super wäre | |
| es auch, auf kommunaler Ebene eine politische Partizipation zu ermöglichen. | |
| Den anonymen Krankenschein hat der Senat bereits beschlossen. | |
| Seit diesem Jahr sollte es eine Krankenversorgung für Menschen ohne Papiere | |
| geben. Dafür sind 1,5 Millionen Euro bereitgestellt, aber die Umsetzung | |
| steckt in der Verwaltung fest. Anfangs lief es gut, da wurden Gruppen wie | |
| das Medibüro eingebunden. Zum jetzigen Zeitpunkt ist aber völlig unklar, | |
| wie die Anonymität der Illegalisierten gewahrt werden soll. Und auf einmal | |
| gibt es auch Umentscheidungen aus der Verwaltung, die uns völlig unklar | |
| sind. Gerade gibt es die Idee, eine hausärztliche Erstversorgung | |
| einzurichten, aber das entspricht nicht den realen Anforderungen. Wenn | |
| Menschen, die in der Illegalität leben, zum Arzt gehen, wollen sie in der | |
| Regel mehr als eine Kopfschmerztablette. | |
| Wie sollte es idealerweise laufen? | |
| In der Idealvorstellung würden die Leute einfach eine Krankenkassenkarte | |
| kriegen. Die Abrechnung würde regulär über die Krankenversicherung laufen, | |
| statt eines Namens bekämen die Patienten eine Nummer. Das wird so nicht | |
| kommen. Beschlossen ist ja dieser Fonds und das Modell des Krankenscheins. | |
| Unter dieser Vorgabe wäre die praktikable Lösung ein Büro, in dem sich | |
| Menschen quartalsweise Krankenscheine holen können, mit denen sie dann zum | |
| Arzt gehen können. Wie die Ärzte ihre Abrechnung bei den Krankenkassen | |
| machen und damit an das Geld aus dem Fonds kommen, ist aber nicht geklärt. | |
| Mit anderthalb Millionen Euro können aber nicht all zu viele Behandlungen | |
| bezahlt werden. | |
| Viel ist das nicht. Wir haben aber die Hoffnung, dass, wenn sich so ein | |
| System erst mal etabliert, es leichter die Möglichkeit gibt, das | |
| aufzustocken. | |
| Berlin hatte sich im Juni bereit erklärt, Flüchtlinge von dem | |
| Seenotrettungsschiff „Lifeline“ aufzunehmen, aber Seehofer hat sich | |
| dagegengestellt. Gerade durfte die „Aquarius“ in Malta anlegen, weitere | |
| Schiffe werden folgen. Was erwarten Sie von Berlin? | |
| Ich bin mir nicht ganz sicher, welche Möglichkeiten Berlin letztendlich hat | |
| und ob sich der Senat wirklich mal hingesetzt und das durchdekliniert hat. | |
| Einfach nur zu sagen, wir würden sie nehmen, ist aber zu wenig. Was | |
| passiert denn, wenn man einen Bus mietet und die Menschen abholt? Klar, | |
| Berlin kann nicht allein und von jetzt auf gleich die europäische | |
| Flüchtlingspolitik verändern. Wenn man aber solidarisch sein will, dann | |
| lässt sich sicherlich mehr machen. | |
| 16 Aug 2018 | |
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| ## AUTOREN | |
| Erik Peter | |
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