# taz.de -- Vertriebene in Afrika: Wenn die Ärmsten Flüchtlingen helfen | |
> Hunderttausende sind im Grenzgebiet von Nigeria, Tschad und Niger auf der | |
> Flucht. Obwohl sie selbst arm sind, nehmen Bauern die Geflüchteten auf. | |
Bild: „Wir haben keinen Schutz“, sagt Battit | |
KABI/DIFFA taz | Die Fremden kamen an einem Montag. Es war noch früh, die | |
Sonne stand tief – trotzdem brannte die Luft. Baï Baï Battit arbeitete auf | |
seinem Feld, als er plötzlich das Knattern von Motoren hörte. Er rannte zum | |
Ortseingang und sah vier Jeeps, auf den Ladeflächen ausgemergelte Menschen. | |
Tagelang waren die Flüchtlinge durch die Wüste geirrt. Nun hatten sie Kabi | |
erreicht, Battits Heimatort. Sie baten darum, bleiben zu dürfen. | |
Battits Dorf liegt im Grenzgebiet zwischen Niger und Nigeria; einer Gegend | |
aus rotem Sand und flimmernder Hitze. Der Landstrich zählt zu den ärmsten | |
der Welt. Doch der Hunger ist nicht die einzige Bedrohung. Seit einigen | |
Jahren gilt die größte Sorge der Bewohner der islamistischen Terrorarmee | |
Boko Haram, die ihren Ursprung in Nigeria hat und sich inzwischen ins | |
Dreiländereck zwischen Nigeria, Niger und Tschad zurückgezogen hat. Dort | |
plündert Boko Haram Dörfer, mordet und vertreibt Anwohner. | |
700 Menschen leben in Kabi. Die Ortschaft besteht aus Lehmhütten ohne | |
Wasser, Strom oder Türen. Die Bewohner schlafen auf Bastmatten, die sie auf | |
den Boden legen. Jede Familie besitzt ein kleines Feld nahe der | |
Wasserquelle oder ein paar Ziegen. Meist reicht die Ernte gerade so. Doch | |
nun standen die Flüchtlinge vor den Toren des Dorfes, und niemand wusste, | |
was zu tun war. Sollte man die Menschen fortschicken und sie dem Tod in der | |
Wüste überlassen? Oder sie aufnehmen, obwohl man sie eigentlich nicht | |
mitversorgen kann? | |
Der Dorfchef rief alle Männer zusammen. Unter einem Strohdach berieten sie, | |
wie zu verfahren war. Schließlich entschied das Oberhaupt: Die Flüchtlinge | |
würden in Kabi bleiben. Man hoffte, dass Boko Haram bald besiegt wäre und | |
die Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren könnten. | |
## Mauern mit Stacheldraht | |
Drei Jahre ist das nun her. Die Ankömmlinge in Kabi waren nur Vorboten. | |
Alleine in der Region, in der Battits Dorf liegt, kamen in den vergangenen | |
Jahren 250.000 Menschen an. Diffa, die größte Stadt, ist voll mit | |
Hilfswerken, Militär und Vertriebenen. Im Schatten der hellen Mauern dösen | |
Mütter und Kinder, Ziegen und Schafe streunen durch die Gassen. Dazwischen | |
Jeeps der UN, deren Fahrer hinter mit Stacheldraht verstärkten Mauern | |
verschwinden. | |
Seit Boko Haram nach Niger vordringt, herrscht in Diffa der Notstand. Eine | |
Ausgangssperre verbietet, sich nach 22 Uhr auf der Straße aufzuhalten. | |
Autofahren ist schon am frühen Abend nicht mehr möglich, Motorräder nicht | |
einmal am Tag erlaubt. So will Nigers Armee verhindern, dass | |
Boko-Haram-Kämpfer unbemerkt in die Stadt eindringen. | |
Es nützt nichts: Seit Kurzem erreicht der Terror auch wieder Diffa. Zuletzt | |
sprengten sich im Juni 2018 drei Selbstmordattentäter in die Luft. Sie | |
mischten sich vor einer Moschee unter die Gläubigen, die gerade das | |
Ramadan-Fasten brachen. Mindestens sechs Menschen starben bei der | |
Explosion. | |
Der Anschlag ist Boko Harams Rache für eine Militäroffensive, die seit | |
April in der Grenzregion läuft. Niger, Nigeria, Kamerun, Tschad und Benin | |
haben sich zusammengeschlossen, um die Reste der Terrorgruppe zu bekämpfen. | |
Unterstützt wird das von Frankreich, dessen Militär die afrikanischen Armee | |
offiziell nur berät. Tatsächlich aber sieht man unweit von Diffa Panzer, | |
auf deren Dächer Soldaten mit französischem Abzeichen Wache halten. | |
## Man rückte zusammen | |
Die Offensive sorgt zunächst für noch mehr Leid. Weil sich die Terroristen | |
auf Inseln im Tschadsee zurückgezogen haben, wurde das Gebiet vom Militär | |
zur Sperrzone erklärt. Fischer können nicht mehr hinausfahren, der | |
Paprikaanbau liegt brach. Stattdessen wird das Gelände bombardiert. Die | |
Bewohner fliehen. | |
Dennoch gibt es in der Region Diffa nur ein einziges offizielles | |
Flüchtlingslager. Es beherbergt mehr als 10.000 Menschen. Die meisten | |
Vertriebenen haben inoffizielle Camps eröffnet oder in Dörfern Zuflucht | |
gesucht. So wie in Kabi, dem Dorf von Battit. | |
Nach und nach kamen etwa 200 Flüchtlinge in Kabi an. Um sie zu versorgen, | |
verkaufte jede Familie im Dorf ein oder zwei Ziegen. Man rückte zusammen, | |
machte Hütten frei, teilte Felder und Wasser. Battit, der selbst neun | |
Kinder und eine greise Mutter zu ernähren hat, nahm zwei Familien auf. Aus | |
12 Personen in seinem Haushalt wurden plötzlich 31, verteilt auf drei | |
Lehmhütten, die Battit besitzt. Abends saßen alte und neue Bewohner | |
gemeinsam am Feuer, und die Flüchtlinge erzählten, wie Boko Haram ihr Dorf | |
umzingelte, zehn Männer erschoss und den anderen drohte: „Flieht, oder wir | |
töten euch auch.“ Und so flohen sie. | |
Yamah kam im Frühjahr 2015. Der 38-Jährige ist eigentlich ein | |
Einheimischer, er wurde in Kabi geboren. Doch weil die Ernte zu knapp | |
ausfiel, hatte er sein Heimtatdorf vor sieben Jahren verlassen. Erst | |
verdingte sich Yamah als Erntehelfer auf einer Paprikaplantage nahe des | |
Tschadsees. Später fand er Arbeit als Bauarbeiter oder nähte | |
Baumwollhemden. Nach zwei Jahren hatte er genug Geld gespart: Er konnte ein | |
kleines Haus in Boulagana errichten, nahe der Grenze zu Nigeria, und seine | |
Frau aus Kabi nachholen. | |
## „Wenn Boko Haram sich rächt?“ | |
„Wir hatten ein gutes Leben“, sagt Yamah. Bis Anfang 2015 Boko Haram in | |
ihrer Gegend auftauchte. „Wir hörten, dass sie Dörfer überfallen, Essen und | |
Geld rauben. Und manchmal bringen sie auch die Bewohner um.“ Mit jeder | |
Woche kamen die Schreckensmeldungen näher. Dann überfiel Boko Haram den | |
Nachbarort. „Die Bewohner haben dabei einen Kämpfer getötet“, erzählt | |
Yamah. „Ich dachte: Was ist, wenn Boko Haram sich rächt?“ Aus Angst machte | |
die Familie sich auf den Weg nach Westen: Yamah, seine Frau und die sechs | |
Kinder. Die Kleinsten schob Yamah in einer Schubkarre. Haus und Habe ließen | |
sie zurück. | |
Mehr als hundert Kilometer waren es bis nach Kabi. Dank einer | |
Mitfahrgelegenheit kam die Familie in der Nacht im Dorf an. Sie schliefen | |
im Haus von seinen Eltern, die in Kabi geblieben waren. Heute bewohnen | |
Yamah, seine Frau und die inzwischen acht Kinder eine eigene Hütte. Das ist | |
mehr Platz als die meisten Bewohner in Kabi haben: Viele Familien teilen | |
sich ihren Wohnraum seit nunmehr drei Jahren mit den Neuankömmlingen. Die | |
Kinder von Baï Baï Battit schlafen nachts dicht an dicht – in ihrem | |
früheren Schlafzimmer wohnt eine Flüchtlingsfamilie. Es sollte ein | |
vorübergehender Zustand sein. Doch Boko Haram verschwand nicht. Im | |
Gegenteil: Immer mehr Flüchtlinge kamen. | |
Nicht nur Schlafplätze werden geteilt. Auch an Essen und Feuerholz herrscht | |
Mangel. Der Brunnen führt inzwischen weniger Wasser, weil mehr Menschen | |
sich daran bedienen. Das Dorf kann nur überleben, weil die Welthungerhilfe | |
die Bewohner finanziell unterstützt. Trotzdem, sagt Dorfchef Kabima Kolo, | |
bezweifelt niemand, dass es richtig war, die Flüchtlinge aufzunehmen. „Es | |
war Gottes Entscheidung, dass diese Menschen hierherkamen. Wir müssen | |
seinen Willen respektieren.“ | |
„Ich hoffe, dass das Militär Erfolg hat und Boko Haram vertreibt“, sagt | |
Battit. „Aber wenn ich ehrlich bin, glaube ich es nicht.“ Viele Armeen | |
hätten gegen Boko Haram gekämpft – erfolglos. „Vielleicht ist es unmögli… | |
sie zu besiegen.“ | |
Die humanitäre UN-Koordinierungsstelle OCHA verspricht sich wenig von der | |
Militäroffensive. Offizielle Kritik will man nicht äußern, aber ein | |
hochrangiger Mitarbeiter sieht kaum Erfolge. „Trotz der Operation gehen die | |
Angriffe von Boko Haram weiter“, sagt er. „Tagsüber tarnen sich die Kämpf… | |
einfach als Bauern. Sie vergraben ihre Kalaschnikows und begrüßen lächelnd | |
das vorbeifahrende Militär.“ | |
Der Schaden für die Bevölkerung sei umso höher. „Fischerei und Paprikaanbau | |
sind nicht mehr möglich“, sagt der UN-Mitarbeiter. Die Armut wächst – was | |
wiederum Flüchtlinge dazu treiben könnte, sich Boko Haram anzuschließen. | |
Denn bei aller Brutalität verspricht die Terrororganisation wenigstens ein | |
Auskommen. | |
Es ist also nicht abzusehen, wann die Flüchtlinge in Kabi in ihre Dörfer | |
zurückkönnen. Die Einheimischen wollen sie so lange unterstützen, wie es | |
nötig ist. Die Hoffnung: Wir kümmern uns um die Notleidenden – und Gott | |
verschont unser Dorf. Denn die Frontlinie ist nicht weit, Boko Haram könnte | |
jederzeit auch in Kabi einfallen. „Wir haben keinen Schutz“, sagt Battit. | |
„Wir können nur beten.“ | |
26 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Alexandra Rojkov | |
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