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# taz.de -- Hamburger Kiez Kulturerbe?: Gegen den Zauber
> St. Pauli soll denselben Ruhm erlangen wie ein Brot aus Armenien. Ginge
> es nach einer Initiative, soll der Stadtteil immaterielles Kulturerbe der
> Unesco werden.
Bild: Wenn etwas einen Titel verdient, dann alteingesessene Kneipen wie die Rit…
Das armenische Lavash-Brot besteht aus drei Zutaten: Mehl, Salz und Wasser.
Wenn es noch ganz frisch ist, lässt es sich gut formen. Auch bekannt ist es
als Dürüm oder Wrap und getrocknet als Hostie. Die einfache Speise und
deren Zubereitung wurde 2014 von der Unesco zum immateriellen
Weltkulturerbe erklärt.
Damit hat das Brot geschafft, was die Initiatoren von
Kulturerbesanktpauli.net auch gern für ihren Stadtteil wollen. Weil das
berüchtigte Viertel mehr sei als Party, Rot-, Blau- und Rampenlicht. Die
Initiatoren erklären, es gehe um die Würdigung des Lebensgefühls, um
Toleranz, Freiheit und Vielfalt.
Die berühmt berüchtigten Kardashian-Mädchen haben einen armenischen Vater.
In einer Folge ihrer Reality Fernsehshow machten sie eine Reise nach
Armenien und aßen dort in einem einfachen traditionellen Restaurant mit
Begeisterung Lavash-Brot. Mit großen perfekt geschminkten Augen bestaunten
sie zuvor die Zubereitung und waren dabei einmal ganz leise und
bodenständig.
Eigentlich aber haben sie so viele Immobilien und Geld, dass sie ganze
Stadtteile oder Armenien kaufen und nach ihrem schlechten Geschmack
gestalten könnten. Sie feiern wild, gelten als ordinär, sind Rampensäue,
kleiden sich wie Stripperinnen, schminken sich wie Transvestiten, ihre
Männer sind alle schon mit dem Gesetz in Konflikt geraten oder wurden
halbtot gekokst in Bordellen aufgefunden.
Sie sind liberal, tolerant, antirassistisch – zumindest hatten alle bis auf
eine nur Basketballer oder Rapper als Boyfriends oder Ehemann. Stiefvater
Bruce ist die berühmteste Transgender der Welt und heißt jetzt Caitlyn.
Die Kardashians sind also ein bisschen wie St. Pauli. Weltkulturerbe wurde
aber nur das Brot ihrer Vorfahren, erdacht in längst vergangener Zeit.
Das schlichte Brot hat es wirklich verdient, denn erst durch den Titel
Weltkulturerbe gelangte es zu gebührendem Ruhm. Die Kardashians schillern,
scheffeln und funkeln auch so und bekommen genug Aufmerksamkeit. So wie
unser schönes St. Pauli. Wozu also muss es noch Welterbe werden. Der
richtige Zeitpunkt dafür ist längst verpasst und man kann nicht noch mehr
Touristen in die Seitenstraßen quetschen.
Es würde doch eher der voranschreitenden Gentrifizierung ein Denkmal
gesetzt. Kultur ist ja alles vom Menschen Hervorgebrachte und
Gentrifizierung ist ein wahrhaftiges Phänomen – überall auf der Welt, wo es
einst beglückend urban und subkulturell zuging. Die Gentrifizierung selbst
sollte deshalb ehrlicherweise länderübergreifend in die Liste des
Kulturerbes aufgenommen werden.
In unserem weltberühmten Mikrokosmos empörte sich neulich ein Freund nach
Mitternacht und einigen Mexikanern über die Liste der Fürsprecher und
Initiatoren. Einige Namen auf der Liste hätten das Kalkül entlarvt. Er
nannte Olivia Jones eine geldgeile Fummeltrine, die zum Ziel habe, die
ganze Große Freiheit aufzukaufen und noch mehr RTL2-Touristen nach Hamburg
zu locken. Investor Corny Littmann habe schon lange nichts mehr mit St.
Paulis Idealen zu tun, sondern nur noch mit Geltungsdrang und Geldgier.
Wenn, dann habe nur sein ehemaliger Fußballverein den Titel Weltkulturerbe
verdient, der sollte sich ohne Umschweife parallel bewerben!
Die Initiative hat den Charme von provinziellem Stadtmarketing, es wirkt
wie der Versuch einer Gratis-Werbekampagne. Und so verkündet die Initiative
stolz auf ihrer Seite, dass die Bildzeitung auch schon berichtet habe und
verlinkt den Artikel. Dort kommt Susi von Susis Showbar zu Wort. Sie freue
sich, wenn es klappt, denn dann werde ja auch Susis Showbar zum
Weltkulturerbe. Ach, Susi, dir würd ich’s gönnen, du kannst ja nichts
dafür. Susis Träume bringen es auf den Punkt. Es ist ein bisschen, als
hätte sich Monsanto – zusammen mit ein paar kleinen Alibi-Unternehmen, die
sich davon höhere Profite versprechen, ein Bio-Gütesiegel für die
Gen-Technik ausgedacht.
Vielleicht verdient die von Natur aus geschützte Herbertstraße den Titel –
und auch die eine oder andere alte Kneipe, denn vor der Theke stehen alle
gleich, wie mir ein Bewohner St. Paulis an einer solchen erklärte. Er
sagte, auf St. Pauli frage man nicht: Was machst du? Sondern: Kommst du
klar?
Das klingt schön, aber die meisten Alteingesessenen müssten wohl verneinen
und ihnen brächte das Weltkulturerbe ohnehin nichts. Der Titel würde ihnen
keinen Schutz bieten und auch den alten St.-Pauli-Zauber nicht schützen
können. Es gibt ihn ja kaum mehr, nur noch in Ecken und an Enden.
Die Initiatoren werben dafür, dass St. Pauli so viel mehr sei als
Kriminalität, Kommerz, Prostitution, Sauftouren mit Todesfolge und
Resteficken auf dem Hamburger Berg. Jungesellenabschiede aus ganz Europa
kommen doch schon zuhauf mit den Billigairlines. Aber die Geschäftsleute
auf St. Pauli kriegen den Hals einfach nicht voll.
Immer, wenn ich länger mal nicht auf St. Pauli war, ist es so wie das Kind
von entfernten Bekannten nach einer Weile wiederzusehen. Irgendwie sieht es
anders aus, irgendwas ist gewachsen. Alles geht vorbei, was bleibt, ist die
Melancholie.
Mit Fünfzehn war ich fast jeden Freitag im Defcon Five. Das war ein
Hip-Hop-Klub im Keller einer Altherren-Schwulenbar am Spielbudenplatz. Wir
haben auf der Straße vor dem Klub Elephant-Bier oder Erdbeersekt getrunken,
den wir bei der Esso-Tanke gekauft hatten und keine Sau hat’s interessiert.
Der Spielbudenplatz war wunderbar trist verschlafen, und gegessen haben wir
die Gratis-Schmalzbrote für die Obdachlosen im Clochard gegenüber. Später
wurde das Defcon Five zum Molotow und dann wurde alles abgerissen. Die
Schönheit der verwegenen Jugend wurde dem Kommerz geopfert, während wir
erwachsen wurden und eine Weile zu viele andere Sorgen hatten, um uns damit
zu beschäftigen.
Die Kardashians haben vor ein paar Jahren einen 20-jährigen Obdachlosen am
Strand aufgelesen und ihn dann mit Ehrgeiz und den nötigen Mitteln zum
Model aufgepäppelt. Er verdient nun eine Menge Geld und hat Tausende
Follower bei Instagram. Der Stadtteil St. Pauli hat bisher keinen Instagram
Account. Wenn es also mit dem Unesco-Titel nicht klappt, wäre das
vielleicht eine passende Alternative.
21 Jul 2018
## AUTOREN
Jasmin Ramadan
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