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# taz.de -- Berühmte Orgeln: Wunder vom Lande
> Das Land Niedersachsen will sie zum Weltkulturerbe erklären lassen. Aber
> was ist an den orgeln des Arp Schnitger eigentlich das Besondere?
Bild: Meisterwerk in der Dorfkirche: die gerade renovierte Schnitger-Orgel in S…
Hamburg taz | Sie steht wie auf einem Deich. Als müsse sie als weithin
sichtbares Seezeichen dienen, als Akupunkturpunkt der Landschaft. Dabei ist
es beim Bau der barocken St.-Pankratius-Kirche in Hamburg-Neuenfelde
schlicht um Hochwasserschutz gegangen wie in der ganzen Gegend – dem Alten
Land und seinen seit 1140 von Niederländern eingedeichten Marschen, den
Marschhufendörfern.
Was Wunder also, dass die neue, nach einem römischen Märtyrer benannte
Kirche nach dem 30-jährigen Krieg auf derselben Sanddüne gebaut wurde wie
ihre Vorgängerin. An einem Ort, an dem die Menschen bei Sturmflut Schutz
suchten, auch 1962. Und sogar die jüngste Vergangenheit handelt vom
Deichbau, wurde doch 2006 der mittelalterliche Ringdeich um den
„Rosengarten“ für die umstrittene Verlängerung der Start- und Landebahn d…
nahen Airbus-Werks durchbrochen.
Heute steht die Kirche, Hort einer der schönsten erhaltenen
Arp-Schnitger-Orgeln , fast in Sicht- und Hörweite des Airbus-Werks. Das
Kirchlein steht allerdings verschattet hinter Bäumen – ein bisschen
verwunschen wie das ganze Dorf: Da rekeln sich Katzen auf der (einzigen)
Straße und fliehen nicht mal vorm Besucher, so selten kommt hier jemand
her.
Dabei war das Dorf im 17. Jahrhundert Keimzelle einer bis heute verehrten
Generation von Orgeln. Neuenfelde wurde, nach langen Hamburger Jahren,
Heimstatt des Orgelbauers Arp Schnitger, der hier eine seiner vielen
Orgelwerkstätten unterhielt, heiratete und in der Kirche begraben ist.
## Von 150 Orgeln gibt es noch 30
150 Orgeln haben Schnitgers in Bremen, Hamburg, Groningen, sogar Magdeburg
gelegenen Werkstätten gebaut. Er hat Kirchen an der niedersächsischen
Nordseeküste, in den Niederlanden, in England, Russland, Spanien, Portugal
und sogar Brasilien beliefert, 30 von ihnen sind erhalten.
Allein für Hamburgs Hauptkirche St. Nikolai baute Schnitger, der 1719 mit
71 Jahren starb, die damals größte Orgel im deutschsprachigen Raum. Leider
zerstörte der Große Hamburger Brand von 1842 das Instrument. Die
Schnitger-Orgel von Hamburgs Jacobi-Kirche dagegen steht noch, die größte
„im klingenden Bestand erhaltene“.
Und trotz all dieser pompösen Konkurrenz ist das Instrument im
verschlafenen Neuenfelde etwas ganz Besonderes. Denn hier sind Kirchenraum
und Instrument zu einem optischen und akustischen Gesamtkunstwerk
verwachsen, das in Norddeutschland einmalig ist.
## Das wichtigste Register: der Raum
„Die Raumakustik ist das wichtigste Register“, sagt Hilger Kespohl, seit
2007 Organist in Neuenfelde. Die meisten norddeutschen Kirchen seien
akustisch problematisch, klängen hallig wie im Schwimmbad oder stumpf wie
im Wohnzimmer.
In Neuenfelde ist das nicht so. Denn hier habe Schnitger bei der
Raumgestaltung ein Wörtchen mitgesprochen, sagt Kespohl. Sicher, den
Barock-Altar mit seinen pausbäckigen Puttenfigürchen, das Gemälde von Jesus
als Weltenrichter, die Himmel-und-Hölle-Darstellungen an der gewölbten
Decke: Das alles wurde ohne Schnitgers Zutun geplant. Aber zusätzlich die
Kanzel mit geschnitzten Figuren zu verzieren, war Schnitgers Idee. Denn die
verspielten barocken Verzierungen eignen sich exzellent zum Brechen des
Schalls, ähnlich wie die weiße Haut von Hamburgs Elbphilharmonie. „Nur,
dass das hier besser ist“, sagt Kespohl.
Er hat recht: Es klingt weder hallig noch dumpf, aber auch nicht so
gnadenlos sezierend wie in der Elbphilharmonie, als er mal eben eine
Toccata von Dietrich Buxtehude auf der großen, im zweiten Stock der Empore
und also ganz besonders hoch platzierten Orgel spielt. Mal zart, mal
majestätisch klingt das Stück, wechselt die Klangfarbe, zieht
sprichwörtlich alle Register: hält sich mal näselnd zurück, trumpft dann
wieder auf mit schweren Bässen.
Viel zu wuchtig für diesen kleinen Ort, denkt man, wenn man das von unten
hört. Warum investierten die Neuenfelder Bauern 1688 ausgerechnet in diese
Mammut-Orgel? Aus Dankbarkeit, aus Gottesfurcht, weil der 30-jährige Krieg
endlich vorbei war? Als Prestigeobjekt, um vor anderen Gemeinden zu
prunken? Man weiß es nicht, aber es ist berührend zu sehen, wie konsequent
gottesfürchtig der Raum gestaltet ist: Die Decken-Engel mit den
fantasievoll geschwungenen Trompeten über der Orgel illustrieren nicht mehr
bloß die Bibel. Sie zelebrieren auch das Lob Gottes durch Musik.
## Arbeit auch für Gotteslohn
Das passt. Schnitger war sehr gläubig und hat überhaupt vieles für
Gotteslohn gemacht. „Er hat oft über den Auftrag hinaus gearbeitet und
zusätzliche Register eingebaut, die er nicht immer bezahlt bekam“, sagt
Kespohl. Manchen Gemeinden erließ er, einmal zu Wohlstand gekommen, die
Kosten ganz oder gestattete langfristige Ratenzahlungen.
Auch in Neuenfelde steht „Gott allein die Ehre“ über der Tastatur der
frisch restaurierten Orgel. Deren Gehäuse ist jetzt nicht mehr marmoriert
wie nach der Restaurierung der 1950er-Jahre, sondern lässt, wie einst, die
Holzmaserung durchscheinen. Pfeifen, Wellenleisten und Windladen wurden von
Bleifraß und Schimmel befreit, sind repariert oder nachgebaut. „Es sollte
möglichst authentisch sein“, sagt Krespohl.
Das ging so weit, dass Restaurator Kristian Wegschneider die Orgel nicht
wie üblich ausbaute und mit in seine Dresdner Werkstatt nahm, sondern vor
Ort bearbeitete. Alles wollte man original belassen – soweit das nach 300
Jahren, in denen immer mal etwas verändert wurde, möglich ist. Teil dieser
Authentizität ist der leichte Schiefstand des hölzernen Gehäuses. „Die
ganze Kirche hat sich im Laufe der Zeit gesenkt und verzogen“, sagt
Kespohl. „Auch das Gehäuse ist nicht mehr lotrecht, und das sollte so
bleiben.“
Dabei ist es für den Klang gar nicht wichtig, ob das Gehäuse gerade steht
oder schief. Und überhaupt würde Kespohl mit verbundenen Augen nicht
heraushören, ob er eine Schnitger-Orgel vor sich hätte. Aber wenn er die
Pfeifen anfassen darf, spürt er es – am besonders dicken Material und der
Form der Pfeifen.
Wenn aber gar kein typischer Schnitger-Klang existiert – was ist dann so
besonders an Schnitger, dass Niedersachsen die Orgeln sogar auf die
Welterbe-Liste setzen will? „Die Qualität der Schnitger-Orgeln war sowohl
handwerklich als auch klanglich besser als bei den Mitbewerbern“, sagt
Kespohl. Wobei Schnitger nicht alles persönlich gemacht habe, „da herrschte
eine hohe Arbeitsteilung“. Zudem sei Schnitger für eine zuverlässige
Auftragsabwicklung bekannt gewesen. Das sei bei den Kollegen nicht immer so
gewesen.
Das Alleinstellungsmerkmal Schnitgers aber erwähnt Kespohl, weil es ihm so
selbstverständlich ist, irgendwann zwischendurch: Schnitger sei ein Meister
im Erfinden und Zusammenstellen immer neuer Klangfarben gewesen. „Keine
Schnitger-Orgel ist wie die andere. Jede hat andere Register, und das
ergibt immer neue Klangnuancen“, sagt der Kirchenmusiker, der auch an der
Bremer Hochschule für Künste lehrt. „Was hier in Neuenfelde Spitzflöte
heißt, ist woanders eine Hohl- oder Rohrflöte“, sagt er. „Da war Schnitger
unglaublich kreativ und hat auch technisch viele verschiedene Lösungen und
Bauformen ausprobiert.“
## Jede Orgel ein individuum
Das macht jede Orgel zu einem Individuum, auf dem bestimmte Stücke
besonders gut klingen. Hinzu kommt, dass alle norddeutschen Barockorgeln –
auch Schnitgers – weniger Tasten und damit einen kleineren Tonumfang haben
als etwa die mitteldeutschen Orgeln, für die Bach komponierte. Weshalb
Stücke der „Norddeutschen Orgelschule“ etwa von Heinrich Scheidemann,
Vincent Lübeck, Dietrich Buxtehude auf diesen Orgeln gut klingen, Bach nur
zum Teil und Modernes gar nicht.
„Werke von Olivier Messiaen oder Max Reger könnte ich hier nicht spielen“,
sagt Kespohl. „Auch deshalb, weil diese Orgel kein hohes Tempo erlaubt.“ In
der Tat: Die Tasten sind schwergängig, bewegen sich zögerlich, wenn man
darauf drückt – und kommen in Zeitlupe wieder hoch. Das war zu Schnitgers
Zeiten so und ist es heute wieder, das entspricht der historischen
Aufführungspraxis.
Stört das nicht den Flow? Nein, sagt Kespohl, es gewöhne einem die Hektik
ab und bringe einen runter. „Diese schwergängigen Tasten erinnern mich
immer daran: Moment mal, du bist in einer großen Kirche. Spiel nicht zu
schnell. Um exakt zu spielen und gut zu artikulieren, muss ich richtig
arbeiten, muss jeden Ton einzeln rausmeißeln“, sagt der Organist.
Hilger Kespohl liebt dieses Instrument, Neuenfelde ist seine
Lieblingskirche mit ihrem besonders homogenen Raumerlebnis und diesem
speziellen, vielfältigen Klang. Genauer beschreiben möchte er den nicht.
Ganz so, als habe er Angst, den anderen Schnitger-Orgeln weh zu tun.
Mehr zur Arp Schnitger, seinen Spuren am anderen Ende der Welt und seinen
Konkurrenten finden Sie in der aktuellen taz.am wochenende oder [1][hier].
18 Aug 2017
## LINKS
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## AUTOREN
Petra Schellen
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