# taz.de -- Bremer Experte über Schnitger-Orgeln: „Sie funktionieren auch be… | |
> Der Bremer Organist Harald Vogel über das Besondere an den Orgeln Arp | |
> Schnitgers. | |
Bild: „Gott allein die Ehre“: An der Schnitger-Orgel in Hamburg-Neuenfelde | |
taz: Herr Vogel, gibt es den typischen barocken Schnitger-Klang? | |
Harald Vogel: Nein. Es gab zu Arp Schnitgers Zeit ein allgemein | |
akzeptiertes Klangideal. Das bestand einerseits in einem recht gewaltigen | |
Gesamtklang. Andererseits ahmte man einzelne Streich- und Blasinstrumente | |
nach. Denn Orgeln ersetzten ja Instrumentalensembles, die sonst im | |
Gottesdienst spielten. Und Gemeinden, die sich keine Instrumentalisten | |
leisten konnten oder wollten, ließen jetzt alles von einem einzigen Musiker | |
spielen – dem Organisten. | |
Schnitger hat kein einziges klangliches Alleinstellungsmerkmal? | |
Eher indirekt, und das betrifft vor allem das Volumen. Denn ab Mitte des | |
17. Jahrhunderts spielte die Orgel nicht mehr nur solo, sondern begleitete | |
auch den Gemeindegesang. Dafür war der Orgelklang der vorhergehenden | |
Renaissance und des Frühbarock aber zu leise. Für die Gesangsbegleitung | |
brauchte man einen stärkeren Klang, und dafür hat Schnitger als einer der | |
Ersten ein Konzept entwickelt. | |
Wie hat er das gemacht? | |
Er hat die hohen Töne schärfer und „schneidender“ gemacht, damit man die | |
Melodie gut heraushörte. Auch die Bässe hat er besonders kräftig gestaltet. | |
Zudem sind Schnitgers Orgeln klanglich autonom. | |
Was heißt das? | |
Schnitger-Orgeln funktionieren auch bei Null Akustik. Dass hängt damit | |
zusammen, dass Schnitger hier in Norddeutschland viele Orgeln für kleine | |
Dorfkirchen baute, die praktisch keine Akustik haben. Das lag daran, dass | |
man seit dem 17. Jahrhundert viele Holz-Emporen einbaute, um immer mehr | |
Menschen in den Kirchen unterzubringen. Das Holz schluckte den Klang. | |
Deshalb hat Schnitger eine Klangveredelung eingebaut, die normalerweise | |
erst durch die Kirchenakustik zustande kommt. | |
Das hat keiner der Zeitgenossen geschafft? | |
Sie haben es versucht, ohne dieses hohe Niveau zu erreichten. Schnitger hat | |
die Produktion so organisiert, dass seine Orgeln trotz hoher Stückzahlen | |
ein durchgehendes Top-Niveau erreichten. Andere Orgelbauer erreichten | |
dieses Niveau nur, wenn die Bedingungen gut waren. | |
Was machte Schnitger besser? | |
Er hatte eine intelligente arbeitsteilige Werkstatt-Organisation. In der | |
Hamburger Werkstatt, die er lange betrieb, wurden die wichtigsten Teile | |
gefertigt. Zentrale feine Teile wie die Windladen, auf denen die Pfeifen | |
stehen, die Pfeifen, die Klaviaturen fertigten hoch qualifizierte | |
Mitarbeiter in der Werkstatt. Die großen Tischlerarbeiten an den Gehäusen, | |
Schnitzereien und Eisenteile wurden oft von örtlichen Handwerkern | |
hergestellt. | |
War Schnitger der einzige arbeitsteilige Orgelbauer seiner Zeit? | |
In diesem Umfang schon. Die meisten Konkurrenten haben ihre Werkstatt da | |
eingerichtet, wo sie die Orgel bauten, und alles vor Ort gefertigt. | |
Das mindert nicht zwangsläufig die Qualität. | |
Nein, aber Schnitger hatte einen Stamm von Mitarbeitern, die das teils | |
jahrzehntelang machten. Außerdem hatte er in Hamburg Zugang zu den besten | |
Materialien. Das Eichenholz für die inneren Orgelteile etwa, das nicht | |
reißen durfte, war in Hamburg gut zu bekommen. Denn dieses Holz, das sieben | |
Jahre gewässert und dann viele Jahre getrocknet wurde, verwandte man auch | |
für den Schiffbau. Es war das beständigste Eichenholz, das es gab. Andere | |
Orgelbauer konnten nur das normale Eichenholz der jeweiligen Umgebung | |
verwenden. | |
Die anderen Orgelbauer hatten keine guten eigenen Mitarbeiter? | |
Doch – wobei diese Leute ja samt Familien mit zu den jeweiligen | |
Arbeitsorten ziehen mussten. Insgesamt hatten Schnitgers „Mitbewerber“ aber | |
einen höheren Anteil an lokal angeheuerten Nicht-Werkstattangehörigen. | |
Grundlegend anders organisiert war Schnitger also nicht. Es geht um | |
Nuancen. | |
Ja. Aber diese Nuancen waren der Grund, warum er kontinuierlich höchste | |
Qualität lieferte. Bei anderen Orgelbauern gab es immer wieder Klagen über | |
Mängel. Bei Schnitger nie. Das sprach sich herum. Deshalb hatte er von den | |
späten 1680ern bis 1710 im norddeutschen Küstengebiet praktisch ein | |
Monopol. | |
Wie hat er das hinbekommen? | |
Er war geschäftlich sehr clever und hat für den Landesherrn auch mal eine | |
Orgel zum Selbstkostenpreis gebaut. Dem Hauptpastor der Hamburger | |
Jacobi-Kirche schenkte er 1690 die luxuriöse Orgel, die heute noch in | |
Deyelsdorf im westlichen Vorpommern steht. Heute würden wir das Bestechung | |
nennen. | |
Aber er hat auch winzigen Gemeinden Orgeln geschenkt. | |
Ja, und zwar seinem Geburtsort Golzwarden sowie umliegenden Gemeinden wie | |
Strückhausen und Ganderkesee. Das war einerseits Ausdruck seines | |
Wohlstands. Andererseits tat er es aus einer gewissen Nostalgie heraus – | |
als Dank dafür, dass der Tischlersohn Schnitger in seiner Heimatgegend so | |
gefördert worden war. | |
War er das? | |
Ja. Er ist in Ovelgönne bei Golzwarden auf die Lateinschule gegangen, die | |
auch höhere Beamte und Offiziere besuchten. Dort hat er eine umfassende | |
humanistische Bildung erhalten. Er verstand später Latein, Niederländisch, | |
Französisch, besaß eine große Bibliothek und konnte mit Pastoren und | |
Landesherren auf Augenhöhe diskutieren. | |
War sein Erfolg sein Verdienst? | |
Nicht nur. Er wurde auch zum richtigen Zeitpunkt geboren. Sein Ruhm als | |
selbstständiger Orgelbauer begann Anfang der 1680er-Jahre – während des | |
Wirtschaftsbooms nach dem 30-jährigen Krieg. Durch den Westfälischen | |
Frieden war abgesteckt, wer wo etwas zu sagen hatte, es war eine Zeit der | |
politischen Stabilität. Es entstand Wohlstand, und die Gemeinden | |
investierten in Kirchenausstattungen – und Schnitger-Orgeln. | |
Die bis heute weltweit nachgebaut werden. | |
Ja. Neben einigen wenigen in Norddeutschland gibt es Orgelnachbauten in | |
Italien, der Schweiz, Österreich, den Niederlanden, Portugal, Schweden, | |
Finnland, Norwegen, den USA, Japan, Korea, Australien. | |
Warum bauen alle Schnitger nach? | |
Erstens bringt eine Schnitger-Orgel ein Maximum an Klang auf einem Minimum | |
an Platz unter – wobei das nicht seine Erfindung war. Konkret geht die | |
Konstruktion der Nachbauten in die Breite und Höhe statt in die Tiefe, | |
sodass man wenig Grundfläche braucht. Auch in moderne Kirchen, Konzertsäle | |
und Aulen kann man also platzsparend eine sehr große Orgel bauen. | |
Werden Schnitger-Orgeln auch wegen ihrer Langlebigkeit kopiert? | |
Ja. Dass die Instrumente nach über 300 Jahren noch einwandfrei | |
funktionieren, liegt auch an der nachhaltigen Technologie. Selbst das | |
feuchte Klima der Marschen hält eine Schnitger-Orgel normalerweise aus. | |
Diese Nachhaltigkeit ist im Orgelbau vor circa 60 Jahren erkannt worden – | |
ganz gegen den Trend der Zeit. | |
Inwiefern? | |
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat man auch im Orgelbau neue | |
Technologien implementiert und zum Beispiel elektrische | |
Datenübertragungswege benutzt. Aber die elektrischen Kontakte korrodierten | |
oft in der feuchten Kirchenatmosphäre; manchmal gab es dann keine | |
Ersatzteile mehr. Irgendwann haben die Gemeinden gesagt: Wenn wir uns alle | |
30, 40 Jahre eine neue Orgel kaufen, ist das teurer, als wenn wir eine | |
Orgel anschaffen, die 300 Jahre hält – wie vor fünf Jahren in Worpswede. | |
Sie möchten, dass Schnitgers Orgeln Welterbe werden – auch weil er so | |
europäisch arbeitete. War er der Einzige? | |
In dem Umfang ja. Es gab zwar auch andere Orgelbauer, die mal ein kleineres | |
Instrument exportierten, wenn ein Schiff nach Südamerika fuhr und auf den | |
Kanaren Halt machte. Deshalb gibt es auf den kanarischen Inseln 15 bis 20 | |
Hamburger Orgeln des frühen 18. bis mittleren 19. Jahrhunderts. Aber das | |
waren eher Beiprodukte. Schnitger dagegen hat sogar in katholische Länder | |
wie Spanien und Portugal geliefert. | |
Warum ist das so bemerkenswert? | |
Weil es damals grenzwertig war, für eine katholische Kirche einen | |
protestantischen Orgelbauer zu beauftragen. Deshalb hat Schnitger zum | |
Beispiel keine Orgeln im katholischen Westfalen gebaut. Wohl aber in den | |
calvinistischen Niederlanden, vor allem in den nördlichen Provinzen. Dabei | |
standen sich Lutheraner und Calvinisten genauso feindselig gegenüber wie | |
Lutheraner und Katholiken. Aber Schnitger war eben eine weit über die | |
Region ausstrahlende Erscheinung und ist heute noch globaler geworden. | |
Seine Art, Orgeln zu bauen, wird in Projekten weltweit wieder belebt und | |
als Fertigkeit kultiviert. Das ist schon einzigartig. | |
19 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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