# taz.de -- Einhundert Jahre Finnland: Hinter dem Rücken Gottes | |
> Finnland wird dieses Jahr 100, das ist ja schön. Aber wer sind die Finnen | |
> eigentlich? Sie kamen aus dem Wald. Und jetzt gehen sie in den Wald | |
> zurück. | |
Bild: Die Finnen – sie kommen aus dem Wald und gehen dorthin zurück | |
Karelien/Helsinki taz | An einem Seeufer im Wald von Nordkarelien stehen | |
ein stellvertretender Grenztruppleiter und zwei Untergeordnete, einer dick, | |
einer dünn. Der Chef, mitteldick, zeigt durch den Regen nach Osten, auf | |
eine Insel, etwa fünfzig Meter entfernt. Der Dünne blickt seinem | |
Zeigefinger hinterher. Der Dicke streichelt einen Schäferhund. | |
Auf dem Inselchen sieht man zwei Grenzpflöcke. Einen rotgrünen und einen | |
weiß-blauen. Rot-grün ist Russland. Weiß-blau ist die Europäische Union, | |
die in Gestalt der drei finnischen Grenzschützer und ihres Hundes hier | |
ihren östlichsten Kontinentalpunkt bewacht. Gegen unbefugte Eindringlinge. | |
Der Andrang ist allerdings eher gering. Die Überwachungskameras laufen | |
24/7, aber die paar Lebewesen, die sie beim unberechtigten Grenzübertritt | |
aufzeichnen, sind in der Regel Braunbären. Manchmal fressen sie finnische | |
Hunde, sagen die Zöllner. | |
Im Verlauf seiner beruflichen Karriere hat der Dünne genau drei Menschen | |
geschnappt, der Dicke sechs. Die meisten erwischt in Wahrheit sowieso der | |
Schäferhund. Wenn er nicht vom Bär gefressen wird. | |
Es sind Pilzesammler oder andere stulle Leute, die da rumwandern und nicht | |
mitgekriegt haben, dass hier eine Welt endet und eine andere beginnt. | |
## Südeuropa ist so weit weg wie der Mond | |
Manchmal schicken die russischen Kollegen testweise jemanden inkognito los, | |
um zu sehen, was die Europäer so draufhaben und was nicht. | |
Obwohl, Europäer? Klar, „offiziell“ verteidige er hier auch die 1.250 | |
Kilometer lange EU-Grenze, sagt der Dünne. Aber was heißt schon EU? | |
Alle drei Männer sind um die 40 und kommen aus der Gegend um das Städtchen | |
Ilomantsi. Sie waren auch nie woanders. Finnland ist in weiten Teilen ein | |
Dorf, in dem man unter sich bleibt. Wenn mal EU-Kollegen vorbeischauen, | |
dann allenfalls Balten. Griechen oder Italiener waren noch nie hier. | |
Südeuropa ist so weit weg wie der Mond. | |
Nach Sankt Petersburg ist es von hier nur halb so weit wie in die finnische | |
Hauptstadt Helsinki. Von Brüssel nicht zu reden. Was nicht heißt, dass man | |
als finnischer Karelier nach Sankt Petersburg fährt. Nicht mal hinter die | |
europäisch-russische Grenze. Wozu? Weiter nach Norden schon eher, aber hier | |
ist nicht mehr viel dahinter, seit man den Boden im Zweiten Weltkrieg an | |
Stalin verloren hat und seine Bewohner geflohen sind. | |
Vor dem Russen muss man jedenfalls auf der Hut sein. Wie der Russe drauf | |
ist, was er planen könnte, ist ein großes Thema in Finnland und erst recht | |
im Osten des Landes. | |
## Wir sind besser als die Russen | |
Die Schweden, ihr westlicher Nachbar, hatten die Finnen im Mittelalter | |
kolonisiert und christianisiert. „Von den Bäumen geschüttelt“, wie sie zu | |
sagen pflegen. So richtige Skandinavier wurden sie aber trotzdem nie. Die | |
Russen nahmen den Schweden das Land dann 1809 in den Napoleonischen Kriegen | |
ab. Eine entschlossene Russifizierung gab es aber nie. Der Revolutionär | |
Lenin entließ Finnland nach Gründung der Sowjetunion im Dezember 1917 in | |
die Unabhängigkeit. Nicht weil er ein guter Mensch war, sondern weil er | |
einfach sonst viel am Hacken hatte. | |
Dank Lenin feiert man im Moment das Hundertjährige, mit über 2.000 | |
Veranstaltungen und das ganze Jahr hindurch. | |
In den ersten Monaten der Republik kam es erst mal zum sozialistischen | |
Umsturzversuch. Rot gegen Weiß, sozialistische Arbeiter gegen Bürger. Der | |
Sozialismus verlor. Seine einzigen Kriege gegen andere Länder führte | |
Finnland seither als deutscher Verbündeter gegen Russland aka Sowjetunion. | |
Und ganz am Ende des Zweiten Weltkriegs dann noch ein bisschen gegen | |
Deutschland. Aber das zählt nicht. Für die Finnen. | |
Es ging immer um Karelien. Hattuvaara ist das östlichste Dorf Finnlands. | |
Hier gibt es eine Blockhütte namens „Fighter’s House“, und dort kann man | |
lesen, wie die Finnen bei den Schlachten von Ilomantsi und Hattuvaara | |
bravourös ihr Land verteidigten. Was man zu erwähnen vergessen hat: Am Ende | |
verlor Finnland den Krieg und ein Zehntel des Landes. Im karthografischen | |
Umriss des Landes erkennen Finnen „Suomi-neito“, die finnische Jungfer. | |
Eine tanzende Frau. Mit einem amputierten Fuß. Da fehlt der heute russische | |
Teil von Karelien. | |
Die Ängste, die Unter- und Überlegenheitsprojektionen gelten den Russen: | |
Wir sind besser als die Russen. Die Russen sind dümmer und dazu auch noch | |
hochnäsig. Aber die Russen sind für Finnlands Ökonomie und damit für das | |
Leben vieler Leute wichtig, weil man sie als Geschäftspartner braucht. | |
Import, aber vor allem Export. | |
## Wo ist die Zukunft? | |
Der Zusammenbruch der Sowjetunion bedeutete einen massiven | |
Kollateralschaden für Finnland, dramatische Arbeitslosigkeit, manche, die | |
damals in ihren 20ern waren, zahlen heute noch Kredite ab für Häuser, die | |
sie seither nicht mehr besitzen. Ein paar Jahre später kam das | |
Nokia-Wunder. Nokia wurde das mit Abstand größte Unternehmen in Finnland. | |
Über ein Jahrzehnt Weltmarktführer für Mobilkommunikation, weil billig und | |
einfach. Finnland galt als bescheidener Superchecker für Wirtschaftserfolg. | |
Dann kam die Weltfinanzkrise und der Nokia-Absturz. Man hatte das | |
Smartphone unterschätzt, und damit war es vorbei. | |
Im Vergleich mit den meisten Ländern ist Finnland ein Wohlfahrtsstaat. Aber | |
jetzt kämpft man mit einer Arbeitslosenquote von 15 Prozent, dem Versuch, | |
sich neu zu erfinden, und der Erkenntnis, dass Finnland unter den | |
herrschenden politischen Rahmenbedingungen zu denen gehört, die ganz und | |
gar nicht vom Euro profitieren. | |
Gleichzeitig hat man sich der EU sicherheitspolitisch angenähert und sogar | |
der Nato (deren Mitglied man nicht ist). Weil die Angst wächst, die auch | |
die Balten und die Polen haben: dass es ihnen wie der Ukraine gehen könnte. | |
Und der Russe einmarschiert. | |
Die Frage lautet: Wie verortet Finnland sich selbst in der EU und der Welt | |
– und wo ist die Zukunft? | |
„Es gibt drei Philosophien in Finnland“, sagt Esko Aho. „Wir, Russland und | |
die anderen. Wir und die anderen. Wir, andere und Russland.“ | |
## „Wir, andere und Russland“ | |
Aho, 63, ist ein selbstgewisser Mann. Anzug, Seitenscheitel, gutes | |
Englisch, American big smile. Mit 37 war er finnischer Ministerpräsident | |
und führte das Land dann 1995 in die EU. Der deutsche Bundeskanzler Helmut | |
Kohl kam damals nach Lappland, um ihn zu umwerben. | |
Bevor er 50 war, zog er sich aus der Politik zurück. Er hatte eine Wahl zu | |
viel verloren. Ging dann nach Harvard, später zu Nokia. Heute macht er mit | |
den Russen Geschäfte. | |
Seine Antwort auf die von ihm gestellte Frage lautet: Wir, andere und | |
Russland. | |
Also weder Russland zuerst noch weg von Russland. Wenn man ihn richtig | |
interpretiert, muss Finnland zwischen EU und Russland so lavieren, dass man | |
von beiden friedlich profitiert. „Wenn wir es mit Russland hinkriegen, dann | |
schafft das Werte“, sagt er. Europa will er konzentrieren auf das, wo | |
Europa aus seiner Sicht gebraucht wird: Umwelt und Sicherheit. | |
Was sich in Deutschland tendenziell auch entwickelt, haben die Finnen schon | |
lange. Eine gesellschaftliche und politische Struktur, in der keine Partei | |
mehr als 20 Prozent hat, in der mindestens Dreierbündnisse zum Regieren | |
nötig sind und in der eine rechtsnationale Partei mitmischt: Die „Wahren | |
Finnen“ sprangen 2011 auf knapp 20 Prozent und waren ab 2015 Teil einer | |
Regierungskoalition, die Mitte des Jahres auseinandergegangen ist, | |
hauptsächlich wegen der EU-feindlichen Haltung der Wahren Finnen, die | |
derzeit nur noch bei 10 Prozent stehen. | |
## Bäume pflanzen, fällen, verarbeiten | |
Es handelt sich um eine Antiglobalisierungspartei, die Rassismus mit | |
nationaler Wirtschafts- und Gerechtigkeitspolitik paart. Finnland hat seine | |
Stärke indes in allen Lagern stets über Homogenität definiert. Es gibt in | |
Finnland keine Einwanderung, nur ein paar Russen und Balten, 98 Prozent | |
sind Finnen. | |
Esko Aho war der Spitzenmann der konservativen Bauernpartei, aber er hat | |
überhaupt nichts von einem Landbevölkerungspolitiker an sich. An diesem Tag | |
ist er als Lobbyist der Bioökonomie bei einem Kongress im Hotel Scandic | |
Marina in Helsinki. Bioökonomie ist der Terminus für eine Wirtschaft, die | |
auf nachwachsenden statt fossilen Rohstoffen basiert. Holz statt Öl. Es ist | |
ein Bereich, mit dem Finnland sich neu erfinden und damit Zukunft gewinnen | |
will. Indem es das tut, was es immer tat. Nur anders. Bäume pflanzen, Bäume | |
wachsen lassen, Bäume fällen, Bäume verarbeiten. | |
Der Wald ist nicht nur ein Mythos in Finnland oder ein Sehnsuchtsort für | |
gestresste Städter. Vor einem Jahrhundert lautete die Frage ernsthaft, ob | |
Finnen überhaupt in Städten leben könnten. | |
Weil: Finnland hat vielleicht nicht auf, aber unter und zwischen Bäumen | |
gelebt. Und tut es heute noch zu großen Teilen. Mit dem „Urbanen“ hat man | |
es nicht so. Selbst wenn man die einzige Großstadt, Helsinki, anfliegt, | |
sieht man hauptsächlich Wasser und Bäume. 70 Prozent des Landes sind Wald. | |
Und zwei Drittel davon sind in Privatbesitz. Waldbesitzer, wen man auch | |
trifft: Die eine ist Spitzenbeamtin und hat 100 Hektar, der andere ist | |
Bauer und hat sich einen Wald gekauft, um im Alter davon leben zu können. | |
## Eine Weihnachtstanne braucht mehr als ein Jahrzehnt | |
Aho besitzt 2,5 Hektar. Von seinen Eltern geerbt. Als Kind rannte er in den | |
Wald, wenn er traurig war. Heute geht er auch noch gern hin. Der Wald ist | |
der Ort, an dem Finnen sich geborgen fühlen, sagt er. Auch oder gerade weil | |
sie allein sind. „Im Wald verstehen wir die Welt“, sagt er. „Wir verstehe… | |
dass man Bäume schlagen kann, weil andere nachwachsen.“ | |
Jetzt spricht er als Lobbyist, der mithelfen soll, dass der finnische Wald | |
zu „grünem Gold“ wird, eine Post-Öl-Zukunftsindustrie, eine Verknüpfung … | |
erneuerbarer, regionaler Identität und Global Business. | |
Aber so einfach ist das nicht. Man sieht es auf den ersten Blick nicht, | |
aber auch ein nachhaltiger Wald ist keine „Natur“, er ist Industrie. | |
Verdichtet, gedüngt, aufgeforstet. Der Wald wächst nach, aber längst nicht | |
schnell genug für die menschlichen Bedürfnisse der spätkapitalistischen | |
Gegenwart. Es kann schon mal 100 Jahre dauern, bis so ein Baum ausgewachsen | |
ist. | |
Eine Weihnachtstanne braucht auch mehr als ein Jahrzehnt. Schon jetzt | |
importieren die Finnen zwanzig Prozent der Bäume aus Russland. Und weit | |
mehr als die Hälfte ihres Bedarfs an Kohle, Öl und Gas. Wenn die | |
sozialökologische Transformation tatsächlich vorankommt und es in der Folge | |
für die Russen abwärtsgeht wegen sinkender Öl- und Gaspreise, dann geht es | |
auch für Finnen abwärts. Das ist die Sorge. Und die Hoffnung ist, das mit | |
Bioökonomie durchbrechen zu können. | |
## Sprechen schafft Probleme | |
Wer Finnen nur aus Kaurismäki-Filmen kennt, hat erst einmal Klischees im | |
Kopf: Ewiger Winter. Saufen, sich umbringen, schweigen. Sauna. Jedes Hotel | |
hat eine Sauna. Ein Konferenzraum sollte eine Sauna haben. Auch eine | |
Dreizimmerwohnung in der Stadt. Wenn man in Helsinki in eine trendy Bar | |
direkt am Meer geht, läuft man Halbnackten über den Weg. Die kommen aus der | |
Barsauna. Das ist also schon mal kein Klischee. | |
Was das Schweigen angeht, so sagt der Berliner Philosoph Wolfram | |
Eilenberger, dass die Finnen es nicht mit Habermas hielten, sondern mit | |
Luhmann. Sie glauben nicht, dass Sprechen Probleme löst, sondern dass alles | |
dadurch nur noch komplizierter wird. Das ist die These seines Klassikers | |
„Finnen von Sinnen“. Soll heißen: Solange nicht gesprochen wird, gibt es | |
auch kein Problem. Wenn jemand spricht, dann ist das Problem da. | |
Eilenberger ist mit einer Finnin verheiratet und kennt sich aus. | |
Was Alkohol betrifft, so gibt es Leute, die im Hafen von Helsinki die | |
weiß-blaue Silja-Linie nach Tallin nehmen, um Schnaps zu kaufen. Aber | |
rumtorkeln sieht man niemand. Anders als in Berlin-Kreuzberg. Und die | |
Freitodquote ist anderswo höher als in Finnland, in Belgien etwa. | |
„Schalt die Saune ein!“ | |
Was aber definitiv zur gelebten Kultur einer Mehrheit gehört: das Mökki. | |
Fast jeder Finne hat ein Mökki, das ist ein Holzhaus im Wald. Manche wie | |
Esko Aho am See. Andere ohne See. Aber immer mit Sauna. Sommerurlaub im | |
Mökki ist Pflicht. Die Mökki-Existenz im Wald markiert auch für Städter | |
einen kulturellen Anschluss an die Lebensweise der Väter und Großmütter. | |
Das Fällen von Bäumen gehört bei den meisten zum Lifestyle. | |
Die Idee ist immer noch, dass man sich im Wald selbst versorgen kann. Falls | |
alles zusammenbricht. Wenn man mit Finnen in der Stadt zu Abend isst, kann | |
es passieren, dass sie vor dem Espresso bei ihrer Frau im Mökki anrufen und | |
sagen: „Schalt die Sauna ein, in einer halben Stunde bin ich da.“ | |
Vom Gipfel des karelischen Koli-Gebirges im gleichnamigen Nationalpark geht | |
der Blick Richtung Osten. Aus der Sauna eines ziemlich einzigartig | |
gelegenen Hotels sieht man runter auf den Pielinen-See und auf einen | |
endlosen Horizont. Und das im Sommer auch noch um Mitternacht. Auch hier | |
nur Wasser und Wald. Luftlinie 80 Kilometer sind es bis zur russischen | |
Grenze. | |
## Es wird schon über deutsche Waldkäufer gestöhnt | |
Der Karelier blickt immer Richtung Osten. Der Westfinne blickt Richtung | |
Schweden. Zum nördlichen Grenzland Norwegen blickt niemand, nicht mal der | |
Lappe. Und der Großstädter aus Helsinki blickt auf seinen Bauchnabel. | |
Argwöhnen jedenfalls die anderen. | |
In der Sauna kann man zuhören, wie deutsche Investoren hier Wald kaufen | |
wollen. In großem Stil, so wie sie reden. Schwer zu sagen, ob finnischer | |
Wald tatsächlich das heiße Ding für Anlagefonds und so was ist, das wäre | |
jedenfalls ein Indiz. Eine zweite Beobachtung: Im Volk wird auch schon über | |
deutsche Waldkäufer gestöhnt. | |
Im Restaurant des Gipfelhotels tritt die Waitress so lässig auf und | |
spricht Englisch auch so, als sei sie aus einer kalifornischen Collegetown. | |
Sie war in der Welt, ja, kommt aber aus Joenssu, das ist die Hauptstadt | |
Nordkareliens und auch eine Collegetown. 10.000 Studierende, Kneipen, Kinos | |
und Kaffeehäuser. Die Einwohnerzahl steigt tendenziell. Wie überall auf der | |
Welt drängen auch die Nordkarelier in die Metropole – und ihre ist Joensuu. | |
70.000 Leute leben und arbeiten hier. Auf der Grundlage der industriellen | |
Revolution, aber im Grunde auch zwischen den Bäumen. | |
Mikko Turunen ist Topmanager in Waldlage. Ein Mittdreißiger mit kurzen, | |
dichten Haaren und sehr gutem Englisch. Er baut am Stadtrand von Joensuu | |
bei John Deere fahrende Hightechmaschinen zum Baumfällen. Sie heißen | |
Harvester und werden nach Kundenbedarf einzeln angefertigt und bis nach | |
Österreich geliefert. Nach Russland eher selten, denn die sägen noch mit | |
der Hand. So ein Teil kostet schnell mehr als eine halbe Million Euro. Die | |
Geschosse sägen den ganzen Baum um und schneiden ihn millimetergenau zu den | |
Stücken, die der Kunde bestellt hat. Dauert eine knappe Minute, dann ist so | |
ein Jahrhundertbaum erledigt. | |
## Babybel-Verpackungen aus Bäumen | |
John Deere ist eines der wenigen größeren Unternehmen in Karelien. Ein | |
zweites ist Stora Enso, eine schwedisch-finnische Zellstofffabrik. Hier | |
werden die gefällten Bäume verarbeitet. Früher zu Zeitungspapier. Heute | |
machen sie aus den unteren Teilen des Baums Holzprodukte, aus den oberen | |
Zellulosefasern und aus den Ästen Energie durch Verbrennung. 70 Prozent der | |
Energieerzeugung kommen aus karelischem Holz. | |
Die Idee ist, dass man „alles“ aus Bäumen machen kann. „What a tree can | |
do“, lautet der Slogan. Klingt fast wie ein Sinatra-Song. | |
Babybel-Käse-Verpackungen. Teile von Ketchup, Eiscreme, Zahnpasta. | |
Terpentin, Treibstoff, Hochhäuser, Autos. Und Kleidung. Holzklamotten – das | |
hört sich seltsam an, aber 65 Prozent der Kleidungsstücke sind aus Öl. Das | |
wird nicht so bleiben. Insofern sieht man eindeutig Bedarf für die | |
„nordkarelische Holzfaser“. Das soll die glänzende Zukunft bringen, von der | |
Esko Aho in Helsinki gesprochen hat. | |
Es ist übrigens ein sehr seltsames Gefühl, wenn man so einem Harvester | |
zusieht, wie er in sehr kurzer Zeit aus einem finnischen Wald eine Lichtung | |
macht. Der Baumbestsellerautor Peter Wohlleben („Das geheime Leben der | |
Bäume“) würde vermutlich weinen, wenn er dabeistünde. Auch wenn Mikka | |
Turunen ziemlich stolz auf seine Eight-Wheel-Drive-Geschosse ist: In seinen | |
eigenen Wald kommt ihm kein Harvester. Den hat er von seinem Vater geerbt. | |
Den hält er jetzt in Ordnung. Und wenn man ihn richtig versteht, damit auf | |
eine Art auch sein Leben. | |
In der Wartehalle des Flughäfchens von Joensuu sitzt Paavo Lipponen, 76, | |
noch ein Ministerpräsident. Diesmal ein Sozialdemokrat. Er war der | |
Nachfolger Ahos. Im Gegensatz zu dem ein Schweiger. Ministerpräsident des | |
Booms. | |
Lipponen ist groß und massig und hat eine Plastiktüte in der Hand, da hat | |
er karelische Piroggen drin, das sind gefüllte Teigtaschen, gerade frisch | |
gekauft. | |
Moskau oder Brüssel? „Keine Frage“, sagt er, „keine Frage.“ | |
## Finnisches Tempo – immer schön in Ruhe | |
Er holt historisch aus, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass Finnland immer | |
europäisch gewesen sei. Dann schaut er weise und sagt, dass Finnlands | |
Ökonomie allerdings immer „auf Russland reagieren“ müsse. | |
„Aber Finnland kam nicht aus der Kälte“, sagt er lächelnd. Das ist der Sa… | |
von ihm, der in die Geschichte eingegangen ist. Soll heißen: Finnland hielt | |
sich aus dem Kalten Krieg zwischen Ost und West immer raus. | |
Lipponens früherer Chef war der Präsident Mauno Koivisto. Und der sagte | |
immer zu ihm: „Russland will eine Großmacht sein. Finnland will überleben.�… | |
Alle hielten sich stets an die Neutralitätspolitik, die Koivistos Vorgänger | |
Urho Kekkonen vorgegeben hatte, der wichtigste finnische Politiker des 20. | |
Jahrhunderts. Alle wussten sie: Keiner hätte ihnen geholfen, wenn sie sich | |
mit der Sowjetunion angelegt hätten. Deshalb den Ball immer schön flach | |
halten. Damit man weiter seine Geschäfte machen kann. Und seinen Stiefel. | |
Die Finnen können nämlich nur ein Tempo. Finnisches Tempo. Immer schön in | |
Ruhe. Denken die Russen. Die Russen dagegen sind wie die Italiener. Sie | |
sagen, dass sie etwas machen. Und dann machen sie es nicht. Denken die | |
Finnen. Wenn die Russen aber dann tatsächlich mal was machen, dann kommen | |
die Finnen nicht mehr mit. Das kann keiner wollen. | |
Die Finnen leben jumalan selän takana, hinter dem Rücken Gottes. Das ist | |
kein Hadern, sondern ein Programm. Manchmal haben sie schon Sehnsucht, sich | |
in etwas Größeres einzuschmiegen, etwa entschlossener in die EU. Aber dann | |
fällt ihnen wieder ein: Je weniger sich die großen Mächte für sie | |
interessieren, desto besser. | |
Je mehr Wald, desto weniger sieht man sie. | |
Die Reise wurde vom finnischen Außenministerium bezahlt. | |
20 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Peter Unfried | |
## TAGS | |
Finnland | |
Russland | |
Schweden | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Holzindustrie | |
Kirchenmusik | |
Popfestival | |
Norwegen | |
Finnland | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Bremer Experte über Schnitger-Orgeln: „Sie funktionieren auch bei Null Akust… | |
Der Bremer Organist Harald Vogel über das Besondere an den Orgeln Arp | |
Schnitgers. | |
Flow Festival in Helsinki: Blumenkränze im Haar | |
100 Jahre Unabhängigkeit wollen gefeiert werden. Mit finnischen Musikern | |
oder Weltstars wie Frank Ocean: Eindrücke aus Finnland. | |
Nachbarschaft an der Grenze: Ein Geburtstagsberg für Finnland | |
Nur zu oft hat der Zufall den Stift geführt, als Menschen sich Trennlinien | |
auf der Erde ausdachten. Zeit, das zu ändern, findet ein Norweger. | |
Die Wahrheit: In der Sommersauna | |
Endlich wieder zu Besuch in Finnland. Und ab ins Dampfbad um die Ecke. Wo | |
ein Aufguss nach dem anderen einem alles wegbrennt … |