| # taz.de -- Flow Festival in Helsinki: Blumenkränze im Haar | |
| > 100 Jahre Unabhängigkeit wollen gefeiert werden. Mit finnischen Musikern | |
| > oder Weltstars wie Frank Ocean: Eindrücke aus Finnland. | |
| Bild: Keine Angst, dieser Mensch – die TV-Figur Rölli – hat in echt eine g… | |
| Und dann hat Frank Ocean noch einen Liebesgruß an das Gastgeberland parat. | |
| Also für den Fall, dass eine überwältigende, Tausende Finninnen und Finnen | |
| staunend zurücklassende, seinesgleichen suchende Show des US-Superstars | |
| nicht schon Liebesbeweis genug wäre. Da nämlich hockt er vor seinem | |
| Keyboard, spielt ein paar zarte Takte ein, und an der Seite des Instruments | |
| sieht man, von der Videokamera eingefangen und auf die Leinwände | |
| übertragen, den kleinen Schriftzug: „Suomi!!“, zwei Ausrufezeichen, zwei | |
| Herzchen. Kurz darauf fragt er das Publikum via Bildschirm und Laufschrift: | |
| „Finland how are you?“ Jubel, kreisch, fieps. Eine recht eindeutige | |
| Antwort. | |
| Es ist am späten Sonntagabend, als der kalifornische R’n’B- und | |
| Soul-Ausnahmekünstler beim Flow Festival in Helsinki über den Laufsteg | |
| gleitet, den Großteil der 25.000 Festivalbesucher um sich geschart. Wenn | |
| auch nur irgendwer von ihnen zuvor Zweifel hatte, dass dieser Frank Ocean | |
| der wohl größte Soulsänger seiner Generation und zudem ein kluger Performer | |
| ist, so dürften diese nach einem rund 70-minütigen Set vollends zerstreut | |
| sein. | |
| Sein Auftritt bildet den mehr als würdigen Abschluss einer | |
| Musikveranstaltung, die einem zum einen das junge Finnland nähergebracht | |
| und zum anderen ein ziemlich exaktes Bild davon abgegeben hat, wo Popmusik | |
| im Jahre 2017 steht. Genretechnisch ist drei Tage und Abende lang von | |
| elektronischer Avantgarde über Rock und Postrock bis zu Jazz und Improv so | |
| ziemlich alles dabei. | |
| ## Suomi Finland 100 | |
| Das Flow Festival, das es seit 2004 gibt, ist in diesem Jahr Teil eines | |
| Festivalsommers, der für Finnland besondere Bedeutung hat. Denn es ist | |
| Jubiläumssommer, überall im Straßenbild prangt die „100“, die für 100 J… | |
| Unabhängigkeit steht. Unter dem Motto „Suomi Finland 100“ gibt es das ganze | |
| Jahr über Ausstellungen, Konzerte, Feste und Veranstaltungen. Da kann auch | |
| Frank Ocean schon mal gratulieren. | |
| Nachdem man sich am Freitag mit dem Festivalgelände, das sich zu Füßen | |
| eines Kohlekraftwerks um Schlote und einen Gasometer gruppiert, vertraut | |
| gemacht hat, kommt Aphex Twin direkt mal mit der Überfalltaktik daher. Der | |
| Brite, eine der prägendsten Gestalten der elektronischen Avantgarde in den | |
| vergangenen 25 Jahren, wartet im Festivalzelt mit einer Hundertschaft an | |
| Laserstrahlern, Blitzlicht- und Stroboskopen auf, dazu blinken auf | |
| Monitoren dadaistische Photoshop-Collagen im Cut-up-Stil. | |
| Entsprechend sieht Aphex Twins Finnland-Hommage aus: Über neun Monitore | |
| flimmern da zunächst die berühmten Mumins-Figuren in einem psychedelischen | |
| Farbenbrei, gefolgt von einem etwas de- und transformierten Konterfei des | |
| Formel-eins-Weltmeisters Mika Häkkinen, der Eishockeylegende Teemu Ilmari | |
| Selänne und der berühmten finnischen TV-Figur Rölli. Und so geht das | |
| weiter, unter dem Jubel des Publikums ploppen weitere Berühmtheiten des | |
| Landes auf. | |
| ## Audiovisueller Angriff auf die Synapsen | |
| Was Aphex Twin da abzieht, ist große Kunst, der wahre Flash, ein | |
| audiovisueller Angriff auf die Synapsen. Zum Flimmern der Strahler und | |
| Bildschirme ballern mal dumpfe Technobeats, mal röhren Synthies, dann | |
| wieder fiept oder dröhnt es nur fies. Die zwei Musiker hinter den | |
| Mischpulten und Laptops – einer davon dürfte der mysteriöse Richard David | |
| James alias Aphex Twin sein – treten völlig in den Hintergrund. | |
| Gegen Ende pitcht er alle Regler hoch, die Beats rattern, dazu blinkt | |
| alles, als würde man von der Bühne aus beschossen. Overkill. Ein | |
| Stehnachbar reißt die Arme hoch, so richtig, und jubelt, als hätte er | |
| gerade einen wichtigen Titel, Wimbledon oder so, gewonnen. Um ihn herum: | |
| rund 5.000 heruntergeklappte Unterkiefer. Nach Aphex Twin dann Lana Del Rey | |
| spielen zu sehen ist in etwa so, wie erst James Joyce zu lesen und danach | |
| in einem Konsalik zu blättern. | |
| Ein Bild der finnischen Musikszene konnte man sich in den Folgetagen auch | |
| machen. Denn von rund 120 Interpretinnen und Interpreten waren mehr als ein | |
| Drittel finnisch, eine eher niedrige Quote, wie Riku Salomaa, Chef der | |
| Kulturinstitution Music Finland, am Rande des Festivals im Gespräch sagt. | |
| „Den ganzen Sommer über gibt es Festivals verstreut über das Land, und der | |
| Großteil der dort auftretenden Künstler kommt aus Finnland.“ | |
| ## Schräge, eigenwillige und seltsame Musik | |
| Das Flow Festival bilde die Besonderheiten der finnischen Musik gut ab: | |
| „Die Finnen sind international bekannt für schräge, eigenwillige und | |
| seltsame Musik. Deshalb denke ich auch, dass man uns vor allem mit Metal, | |
| Jazz, neuer und experimenteller Musik verbindet. Aber es gibt auch bei uns | |
| viel Pop und Schlager, das dringt nur international nicht so durch, weil | |
| eben jedes Land seine eigenen Helene Fischers produziert.“ | |
| Das Eigenbrötlerische, neue Wege Suchende in der finnischen Musik ist in | |
| Auftritten von Jazztrompeter Verneri Pohjola oder dem Synthesizer-Fummler | |
| Mesak zu erleben. Verneri bewegt sich mit seinem Quartett zwischen | |
| Freejazz, Progressive Rock, Postrock und Library Music und spielt einen | |
| beglückenden Auftritt in einer kleinen Arena. | |
| Den finnischen Produzenten Tatu Metsätäht alias Mesak kann man gemeinsam | |
| mit Claws Cousteau am Sonntag erleben – im dunklen kleinen Raum spielt er | |
| ein minimalistisches Set, in dem reduzierte analoge Synthesizer auf den | |
| leisen Klang selbst gebauter Saiteninstrumente treffen. Finnlands aktuelle | |
| Pop-Queen Alma – grünes Haar, 21 Jahr – liefert dagegen international | |
| geschulten Mainstream-Dancefloor-Pop. | |
| ## Tagsüber flanieren und Kunst gucken | |
| Die Festivalauftritte beginnen am späten Nachmittag, so kann man tagsüber | |
| gut flanieren und Kunst gucken. Im Stadtviertel Kamppi, nahe dem Parlament | |
| und der weiß strahlenden Finlandia Hall von Alvar Aalto, findet man das | |
| Helsinki Arts Museum (HAM). Bei einer Dauerausstellung hat man Gelegenheit, | |
| einige Murals von Tove Jansson, Schöpferin der Mumins und wohl bekannteste | |
| finnische Künstlerin, zu sehen. | |
| Die beiden Fresken „Party in the City“ und „Party in the Country“ sind … | |
| imposantesten – sie stammen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, Jansson | |
| schuf sie als Auftragsarbeiten für ein Restaurant. Dank einiger hier | |
| ausgestellter Fotografien kann man die Entstehung dieser Arbeiten | |
| nachvollziehen. Sie zeigen Jansson beim Malen und Modellieren mit Kippe im | |
| Mundwinkel, diese Frau mit dem charakteristischen vollen Gesicht und dem | |
| spitzbübischen Grinsen. | |
| Jansson, damals in einer Beziehung zu einer Frau lebend, kann man hier als | |
| große Humanistin und frühe finnische Feministin entdecken, und sehr klug | |
| stellt das HAM ihr eine ihrer Nachfolgerinnen zur Seite. Die Schau der | |
| Helsinkier Künstlerin Cris af Enehielm macht richtig Spaß, mittig im Raum | |
| hängt ein Bild, das eine schwangere Frau in schwarzer Unterwäsche und | |
| Strapsen zeigt und das wie ein Madonnenaltar eingerichtet ist („Blinda | |
| Morton Goes Pregnant“, 1991). Und dann gibt es viele Gemälde, in denen | |
| ordentlich kopuliert und geknutscht wird, stilistisch ist af Enehielm nah | |
| bei den Neuen Wilden. Eine hübsche Entdeckung. | |
| ## Wucht und Vehemenz | |
| Wild soll es auch am Samstag beim Festival werden, und das nicht wegen des | |
| heftigen Gewitters. Denn das New Yorker HipHop-/Elektronik-Trio Death Grips | |
| spielt am Abend, und während der Klang leider nicht so gewaltig wie bei | |
| Aphex Twin ist, kann man einige Parallelen ausmachen. Auch Death Grips | |
| arbeiten mit Übersteuerung und Überforderung, mit Wucht und Vehemenz. | |
| Sprechgesang, untersetzt von elektronischem Geballer, ist da eine Stunde | |
| lang zu hören. | |
| Was man derzeit genreübergreifend – bei Gruppen wie Ho99o9 und Flying Lotus | |
| – beobachten kann, ist ein Hang zum Maximalismus, wie das Musikkritiker | |
| Robert Barry in Anlehnung an die frühere Avantgarde genannt hat. Eine | |
| Tendenz, mit der man dem digitalen Zeitalter begegnet, indem man dessen | |
| Produktionsmöglichkeiten völlig überreizt. | |
| Und während man vieles nur im Vorbeigehen streift – ein lässig-hypnotischer | |
| Auftritt von Vince Staples, die coole russische DJ Inga Mauer, die queere | |
| Zukunft in Form von Princess Nokia, viele Blumenkränze im finnischen Haar, | |
| 16 cl Wein für 12 Euro, „Everybody Loves the Sunshine“ vom fantastischen | |
| Roy Ayers – weiß man am Ende des Sonntags doch, wer die größte Nummer hier | |
| ist: Frank Ocean hat seine eigene Musikanlage mitgebracht, die wie eine | |
| Zapfsäule auf der Bühne steht und mit der er rumspielt, Stücke unterbricht, | |
| neu anfängt. | |
| Am Anfang sind da nur seine Stimme und die sanften Beats, irgendwann wird | |
| ein Orchester aufgefahren, Schlagzeug und Gitarre kommen dazu. Es gibt | |
| Songs wie „Solo“, „Ivy“ und „Nikes“, es gibt Zeilen wie „I though… | |
| was dreaming when you said you love me“, die zwischen den Fabrikbauten | |
| hallen. Und die für den Moment auch einfach mal so stehen bleiben können. | |
| Die Reise wurde vom Flow Festival und Music Finland unterstützt. | |
| 15 Aug 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Uthoff | |
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