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# taz.de -- Musikfest Bremen mit Fazıl-Say-Konzert: Wenn die Wunderorgel hinkt
> Der Komponist Fazıl Say integriert türkische Volksmusik in sinfonische
> Musik. Für die Uraufführung seines Werks dient die Walcker-Orgel in
> Papenburg.
Bild: Kam von Gelsenkirchen nach Papenburg: die einzigartige Walcker-Orgel aus …
Hamburg taz | Es ist ja wahr: Konzerte für Trompete und Orgel – das kennt
man, das gibt es gelegentlich zu Weihnachten in der Kirche. Gute Orgeln
gibt es auch im Norden in Fülle, haben die reichen Marschbauern des 17. und
18. Jahrhunderts ihren Dörfern doch etliche repräsentative
[1][Arp-Schnitger-Barockorgeln] spendiert. Wie aber steht es um die vielen
hochkarätigen Orgeln in Konzertsälen? Wer bringt sie zur Geltung, wenn sie
nicht zufällig in einer Sinfonie oder zur Chorbegleitung gebraucht werden?
Diese Fragen haben den in Bamberg tätigen Organisten Christian Schmitt und
den Hamburger Trompeter Matthias Höfs auf ihren gemeinsamen Tourneen oft
diskutiert, und schließlich beschlossen sie: Ein Auftragswerk muss her, ein
Doppelkonzert für die – schon eingeführte und beliebte – Kombination
„Trompete und Orgel“, in der aber beide Solisten sind.
Ein Sponsorenehepaar hatte Höfs, Professor an der Hamburger Hochschule für
Musik, bald gefunden, aber welcher Komponist kam infrage? Offen und
experimentierfreudig sollte er sein, und die Wahl fiel auf [2][Fazıl Say.]
Seit rund 20 Jahren integriert der Pianist und Komponist – und darin ist er
Pionier – Elemente türkischer Volksmusik in sinfonische Musik.
„Ein Orgelwerk hatte er zwar noch nie geschrieben, aber er war bereit,
dieses Abenteuer mit uns zu unternehmen und das Stück zu schreiben, das wir
jetzt, begleitet von der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen, in
[3][Papenburg] uraufführen“, sagt Trompeter Matthias Höfs. Wobei das
Orchester ausschließlich aus Streichern besteht, denn die
Bläser-Klangfarben bietet – neben der Trompete – die Orgel, eigentlich ja
ein Zwitter aus Pfeifen- und Tasteninstrument.
Fazıl Say selbst verrät im Vorfeld nichts über sein Stück, das im Zuge des
[4][Musikfests Bremen] erklingen wird. Auch Schmitt und Höfs haben es noch
nicht gemeinsam geprobt. Aber wenn man die Partitur liest, „hört“ man es ja
im Kopf. „Es ist ein herausforderndes Stück, mit asymmetrischen Rhythmen
wie dem 9/8-Takt, dem Aksak“, sagt Organist Christian Schmitt. Aksak heißt
auf Türkisch „hinken“ und ist ein Volkstanz-Rhythmus der Türkei und des
Balkan. „Im Jazz würde man sagen: Groove“, findet Schmitt.
Auch Percussioninstrumente aus der traditionellen türkischen Musik hat
[5][Fazıl Say] integriert – eine Darbuka und eine kleine Trommel. In den
Noten habe Say oft Dinge wie „Anatolian Romance“ und „Balkan Sound“
notiert, und das sei ja das Spannende: ungewohnte Rhythmen und Motive zu
erkunden, sagt Schmitt. „Und da wir diese Volksmusik-Elemente nicht auf
traditionellen, sondern auf sinfonischen Instrumenten spielen, wirkt diese
leichte Färbung wie ein Dialekt in der eigenen Sprache.“
Entwickelt haben Musiker und Komponist das Stück gemeinsam: „Fazıl Say hat
uns große Freiheiten gelassen“, erzählt Höfs. „Er hat uns viel Vertrauen
geschenkt und gesagt: Ihr kennt eure Instrumente. Ihr wisst, welche Farben
und technischen Möglichkeiten ihr auch persönlich zur Verfügung habt. Ich
gebe euch freie Hand, an euren Solopartien zu arbeiten und Vorschläge zu
machen. Und die hat er dann auch akzeptiert.“ Eine so kooperative Haltung
sei nicht selbstverständlich, sagt Höfs. „Bei Auftragswerken habe ich schon
sehr unterschiedliche Erfahrungen mit Komponisten gemacht.“
Außergewöhnlich ist auch die [6][Geschichte der Orgel] dieses Abends, die
eigentlich aus dem Ruhrgebiet stammt. Die Stadt Gelsenkirchen leistete sich
Anfang der 1920er-Jahre einen großen Mehrzweck-Gebäudekomplex – den
Hans-Sachs-Bau – im Stil des damals hochmodernen Backsteinexpressionismus.
Verwaltung, Läden, Bücherei, Büros, ein Café und ein 1.600 Menschen
fassender Konzertsaal in einem Gebäude – auch dies war für die damalige
Zeit revolutionär.
Parallel beschloss man den Ankauf einer speziell auf diesen Saal
abgestimmten Orgel bei der Firma Walcker, einem der damals innovativsten
Unternehmen der Branche. 1927 wurden Bau und Orgel eingeweiht, letztere von
Anfang an als „Wunderorgel“ gefeiert, die die Ideen der – von Albert
Schweitzer und [7][Hans Henny Jahnn] mit initiierten – Orgel-Reformbewegung
umsetzte: An die Stelle des bis dato üblichen wuchtigen Romantik-Klangs
trat nun die Klarheit des (Neo-)Barock. Bis heute gilt diese Walcker-Orgel
– das einzige erhaltene Exemplar dieser Größe der [8][Weimarer Republik] –
als wichtigste Saalorgel hierzulande. Während des Zweiten Weltkriegs
lagerte man die Orgel im Emsland ein, 1949 ging sie wieder in Betrieb.
2001 beschloss der Gelsenkichener Stadtrat dann die dringend nötig
Sanierung der Gebäude, gab auch die Restauration der Orgel in Auftrag. Im
Laufe der Bauarbeiten zeigte sich, dass die maroden Gebäude abgerissen und
neu gebaut werden mussten, und da ließ man den Konzertsaal einfach weg.
Beschlossen wurde das 2007, da war die vierjährige Orgelsanierung gerade
beendet. Das Argument der Politik: Inzwischen gebe es in Dortmund und Essen
neue Konzertsäle, das genüge doch.
Die Mitglieder der Bürgerforums Hans-Sachs-Haus und die Fachwelt waren
nicht erfreut über diesen Umgang mit der denkmalgeschützten Rarität. Auch
die restaurierende Orgelbaufirma wohl nicht, die das frisch instand
gesetzte Instrument nun zwölf Jahre bei sich lagern musste, weil sich keine
Alternative auftat.
2017 endlich fand sich die neogotische Papenburger St.-Antonius-Kirche,
groß genug für das Instrument und seinen raumfüllenden Klang. Für einen
symbolischen Euro wurden die Gelsenkirchener die Orgel und ihr schlechtes
Gewissen los. Die Papenburger mussten dann zwar den teuren Einbau bezahlen,
aber sie brauchten ohnehin eine neue Orgel und hofften, dass nun noch mehr
als die bisherigen 250.000 Touristen jährlich kommen würden, um die nun
größte Orgel Niedersachsens zu erleben, die auch Teil des Kulturnetzwerks
„Europäische Orgelstraße“ werden soll.
Eingebaut wurde das Instrument im Jahr 2020, geweiht dann 2021 – vom
Organisten Christian Schmitt, dem Trompeter Matthias Höfs und dessen
Ensemble German Brass. Nun folgt eine Uraufführung, die die Idee, die Orgel
im säkularen Kontext salonfähig zu machen, auf bizarre Art umsetzt:
Ausgerechnet eine Kirche wird Zufluchtsort einer berühmten Konzertorgel,
der der weltliche Saal abhanden kam.
18 Aug 2022
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## AUTOREN
Petra Schellen
## TAGS
Orgel
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Kirchenmusik
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