# taz.de -- Was der G20-Gipfel verändert hat: Der fremde Staat | |
> Der G20-Gipfel vor einem Jahr hat vieles verändert. Vor allem das | |
> Verhältnis der Bürger zum Staat wurde dabei nachhaltig beschädigt. | |
Bild: Eine Polizeieinheit formiert sich auf dem Heiligengeistfeld auf St. Pauli | |
Was bleibt, ist dieses Unbehagen. Das Gefühl der Ungerechtigkeit, der | |
Machtlosigkeit, des Ausgeliefertseins vieler BürgerInnen, auch noch ein | |
Jahr nach dem G20-Gipfel in Hamburg. Die Diskussionen, die seitdem geführt | |
wurden, sind – wie der Gipfel selbst – geprägt von Kontrasten, Gegensätze… | |
Antagonismen: den in Vergessenheit geratenen Ergebnissen des offiziellen | |
Gipfels und den unvergessenen Bildern brennender Barrikaden. | |
Dem Bestürzen über zerstörte Autos und Fensterscheiben bei den einen und | |
der heimlichen Begeisterung für den autonomen Wutausbruch bei den anderen. | |
Von einigen Tausend Militanten und mindestens 70.000 friedlichen | |
Demonstrierenden. Dem Entsetzen über Übergriffe durch Beamte und der | |
Aussage von Olaf Scholz, es habe keine Polizeigewalt gegeben. BürgerInnen | |
gegen Autonome, CDU gegen die Rotfloristen, AnwohnerInnen gegen | |
Gesamteinsatzleiter Dudde, Innensenator Grote und Polizeipräsident Meyer. | |
Vordergründig hat sich die Stadt nach dem G20-Gipfel schnell wieder erholt. | |
Im Schanzenviertel, wo es am 7. Juli 2017 die weitreichendsten | |
Ausschreitungen gab, herrschte im Grunde schon am Montag nach dem | |
G20-Wochenende fast wieder Normalbetrieb. Schweres Gerät der Stadtreinigung | |
macht sowas möglich. Andererseits jagen die Schlagzeilen über Folgen, | |
Urteile und Aufarbeitungen des Gipfelgeschehens bis heute fast noch täglich | |
durch die Presse. Auch ein neues Wort ist entstanden: das | |
Hubschraubertrauma. Bis heute klingen AnwohnerInnen die Rotorengeräusche | |
der Tage und Nächte jenes Juli-Wochenendes nach. | |
## Konsequenz: Kennzeichnungspflicht für Polizisten | |
Eine der jüngsten Konsequenzen des G20-Gipfels ist die Einführung der | |
Kennzeichnungspflicht für Hamburger PolizistInnen durch Innensenator Andy | |
Grote (SPD). „Wir wollen ein Ende der Phantomdebatte, dass die Polizei | |
etwas zu verbergen hätte“, erklärte er. „Wir nehmen wahr, dass von einer | |
Polizei in der Mitte der Gesellschaft erwartet wird, dass sie erkennbar | |
ist.“ | |
Dass Grote sich mit dem Schritt über den Einspruch der | |
Polizeigewerkschaften hinwegsetzte, die er zuvor eigentlich immer mit im | |
Boot haben wollte, zeigt, dass es für den Innensenator in der Wahrnehmung | |
der Staatsmacht etwas gerade zu rücken galt. Denn die Polizei in Hamburg | |
erlitt mit dem G20-Gipfel einen Vertrauensverlust. | |
Offenbar wurde das zuletzt Ende Mai, als der G20-Sonderausschuss in Hamburg | |
die AnwohnerInnen zu Wort kommen ließ. So groß war der Andrang, dass die | |
Sitzung aus dem Rathaus in die Kulturkirche Altona verlegt wurde. | |
Bei ihren Schilderungen kamen den Menschen noch fast ein Jahr nach dem | |
Gipfel die Tränen. Sie berichteten vom Freitagabend, dem 7. Juli 2017, im | |
Schanzenviertel. Die Polizei griff damals stundenlang nicht ein – wegen | |
eines möglichen Hinterhalts von den Dächern, wie sie später erklärte – bis | |
dann Spezialeinheiten mit Sturmgewehren vorrückten. | |
Die AnwohnerInnen erzählten davon, wie sie Brände löschen mussten, weil | |
keine Hilfe kam. Wie sie sich mit militanten Autonomen und | |
Trittbrettfahrern allein gelassen fühlten. Aber auch von ihren zahlreichen | |
Beobachtungen von Übergriffen durch die Polizei – auch auf völlig | |
Unbeteiligte. | |
Den bis heute 61 Verurteilungen und insgesamt noch 2.006 laufenden | |
Ermittlungsverfahren der Soko „Schwarzer Block“ stehen 138 Ermittlungen | |
gegen PolizistInnen gegenüber, von denen 68 mangels hinreichenden | |
Tatverdachts eingestellt wurden. Kein Beamter wurde angeklagt. Bei vielen, | |
vor allem linksgerichteten BürgerInnen, sorgt das für Kopfschütteln. Zu | |
viele Bilder zeigen brutales Vorgehen auch durch die Uniformierten. | |
Elf Strafverfahren gegen Polizisten seien eingestellt worden, weil die | |
Beschuldigten nicht zu identifizieren waren – unter anderem darauf verwies | |
Innensenator Grote als einer der Gründe für eine Kennzeichnungspflicht. | |
Doch heilen sechs Nummern auf den Uniformen die Enttäuschung jener | |
BürgerInnen, die an die Polizei als Verein der Freunde und Helfer glaubten? | |
Ein Teil der Enttäuschung beruht auf einem ideologischen Erfolgsphänomen | |
des bürgerlichen Staates: der Verdrängung des ersten Teils des Wortes | |
„Gewaltmonopol“. Viele sind entsetzt darüber, wenn PolizistInnen Gewalt | |
ausüben – obwohl das im rechtlich gesetzten Rahmen zu ihrem Job gehört. G20 | |
war da ein Realitätscheck, bei dem viele BürgerInnen des saturierten | |
Hamburgs sowohl Autonome wie PolizistInnen als Ruhestörung empfanden. | |
Für den Kriminologen Rafael Behr, Professor an der Hamburger | |
Polizeiakademie, rührt die Wahrnehmung, dass die Polizei in Hamburg | |
teilweise wie eine Besatzungsmacht aufgetreten sei, vom Bruch eines | |
Versprechens: dem, dass es für die Demokratie wichtig sei, den G20-Gipfel | |
in einer Stadt stattfinden lassen zu können. | |
Je näher der Gipfel rückte, so Behr, desto mehr habe die Stadtgesellschaft | |
gemerkt, dass es nicht um sie, sondern um einen reibungslosen Gipfelverlauf | |
gehe. „Aus den Bürgern wurden nach und nach wieder die klassischen | |
Herrschaftsunterworfenen“, sagt der Kriminologe. „Die Polizei | |
verabschiedete sich von ihrem Selbstverständnis als Bürgerschutzpolizei und | |
wurde zur Staatsschutzpolizei, mit martialischem Law-and-Order-Anspruch.“ | |
## Die rechtliche Ordnung beruht auf außerrechtlicher Gewalt | |
Noch radikaler denkt der Rechtsphilosoph Stefan Krauth. Im Ausnahmezustand, | |
so sagt er, zeige sich die Anwesenheit von Nicht-Rechtlichem im Verhalten | |
von Polizei und Justiz. Beim G20-Gipfel sei das auf verschiedene Weise ins | |
Auge gesprungen. In einem Rekurs auf das, was der Philosoph Walter Benjamin | |
als „rechtssetzende und rechtserhaltende Gewalt“ bezeichnete, beruht für | |
Krauth die rechtliche Ordnung letztendlich selbst auf außerrechtlicher | |
Gewalt und gehe hin und wieder zu diesem ihrem notwendig verdrängten | |
Ursprung zurück, um sich Geltung zu verschaffen. „Rechtsförmige“ Gewalt | |
müsse auf den Exzess rekurrieren, um Autorität wieder einzusetzen. | |
Es sind wie gewohnt die konservativen und rechten Kräfte, die nach dem | |
G20-Gipfel einem solchen Exzess der Staatsgewalt das Wort reden. Hohe | |
Bestrafungen und Polizei-Panzerwagen „Survivor“ reichen ihnen nicht mehr. | |
Die CDU fordert die Schließung der Roten Flora, obwohl es laut Ermittlungen | |
keine maßgebliche Beteiligung des Zentrums an den Auseinandersetzungen gab | |
– und deshalb eine Razzia dort aus gutem Grund ausblieb. | |
Dennoch reagiert der Senat aufmerksam auf die Kritik aus dem konservativem | |
Lager. Etwa, indem Hamburgs neuer Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) | |
seinem Innensenator darin widerspricht, dass die Kennzeichnungspflicht eine | |
Konsequenz aus G20 sei. Allein die verschärfte Strafverfolgung – auch durch | |
die internationalen Öffentlichkeitsfahndungen – will Tschentscher als | |
solche verstanden wissen sowie die Verstärkung der Bereitschaftspolizei um | |
einen vierzigköpfigen Zug, dessen Beamte klettern und sich abseilen können | |
sollen. | |
Tschentscher betont Härte und verzeiht polizeiliche Fehler. Womöglich ist | |
Innensenator Grote demgegenüber etwas sensibler auch für den Ärger auf St. | |
Pauli – schließlich ist das sein Kiez. | |
9 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Jean-Philipp Baeck | |
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