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# taz.de -- Polizei Bremen braucht Nachhilfe: Kurze Hosen sind verdächtig
> Flyer verteilen ist kein Verbrechen: Die Polizei hat bei einem Kino-Abend
> mit Andrea Nahles die Meinungs- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt.
Bild: Ein vollkommen unverdächtig gekleideter Passant vor dem City-46-Kino in …
Bremen taz | Das Äußere lässt den Zivilpolizisten Günter M. sofort stutzig
werden: Ein „unüblich“ gekleideter Mann betritt das Foyer des Kinos. Für
den Ordnungshüter mit 39 Jahren Berufserfahrung heißt das: „Er trug kurze
Hosen und Sandalen.“ Auffällig auch sein Verhalten: Er verteilt Flyer.
Sofort geht M. auf den Mann zu, will wissen, was auf den Flyern steht. Der
Mann jedoch will ihm kein Flugblatt geben, will dazu noch fliehen. M.
denkt: „Treffer!“, und packt zu. Danach kommt es zu einer kleinen Rangelei,
der Mann kann sich befreien. Vor der Tür des Kinos bekommt er den
Sandalenträger aber erneut zu packen. Eine Anklage wegen Widerstands gegen
Vollstreckungsbeamte bringt das dem Mann ein.
M. war im September 2016 vor Ort gewesen, um die damalige
Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) zu beschützen, die mit ihrer
Filmreihe „Futurale: Arbeiten 4.0“ im Kommunalkino City 46 zu Gast war.
Nach einem Protestaufruf habe sich eine mögliche Störung abgezeichnet, sagt
M. vor Gericht, wo er auch wieder in ziviler Kleidung erschienen ist, nur
seine Dienstwaffe trägt er bei sich, griffbereit im Hüftholster. Andrea
Nahles war zum Zeitpunkt des Geschehens nicht einmal in der Nähe. Der Flyer
war ein [1][harmloser Protestaufruf]: „Arbeitslos 5.0: Nahles zahl deine
Essensmarken zurück!“
Nichts von den Vorwürfen hat vor dem Amtsgericht Bestand, der Angeklagte
wird in allen Punkten freigesprochen. „Es bestand kein Anfangsverdacht für
Straftaten oder die Aufforderung zu Straftaten“, sagt Richter Hoffmann zur
Begründung des Urteils – zumal die Polizei innerhalb des Kinos nicht einmal
das Hausrecht gehabt habe.
Die Versammlungsfreiheit in einem geschlossenen Raum, aber auch die
Meinungsfreiheit habe der Polizist durch sein Vorgehen eingeschränkt, so
Richter Hermann Hoffmann. Ein Anfangsverdacht, der polizeiliche Maßnahmen
rechtfertige, ergebe sich nicht allein durch das Verteilen von Flyern oder
vermeintlich verdächtige Kleidung.
## „Präventives Polizeihandeln“ nicht erlaubt
Seine Verwunderung darüber, dass es angesichts der schlechten Indizienlage
und vieler Zweifel nach fast zwei Jahren überhaupt zu einer
Hauptverhandlung gekommen ist, kann der Richter nur schwer verbergen. Er
zählt weiter auf: Weglaufen allein sei kein Widerstand, eine
Identitätsfeststellung infolge des Verteilens von Flyern sei „präventives
Polizeihandeln“, das nach dem Bremer Polizeigesetz nicht erlaubt sei –
„Nicht jedermann muss seinen Ausweis zeigen“, so Hoffmann.
Der Verteidiger des Angeklagten, Rechtsanwalt Jan Lam, hatte in seinem
Plädoyer zugespitzt: „Kurze Hosen sind kein Anfangsverdacht. Das hat mit
einem Verfassungsstaat nichts zu tun.“ Man müsse sich nicht ausweisen, wenn
man jemandem ein Flugblatt geben will – „So etwas muss man nur in einem
Polizeistaat“, sagte Lam. Das Vorgehen sei durchaus typisch für Bremen: Die
Polizei greife ein und suche erst hinterher nach einer Legitimation. Am
Rande von Demos könne man das jedes Jahr „hundertfach“ erleben.
Während der Verhandlung hatte der Anwalt den Polizisten in Bedrängnis
gebracht: Auf welcher Rechtsgrundlage er denn eingegriffen habe? Der
Polizist verwechselte daraufhin Polizeirecht mit Gefahrenabwehrrecht,
konnte letztlich nicht antworten – es sei für Spitzfindigkeiten ohnehin
keine Zeit gewesen.
## Der Hausherr hatte keine Einwände gegen Flyer
Befragt wurde auch der Kinobetreiber Karl-Heinz Schmid. Der hatte sich im
Vorfeld der Veranstaltung mit der Polizei abgestimmt und wusste, dass
zivile Beamte vor Ort waren. Es sei klar gewesen, dass er als Kinobetreiber
das Hausrecht behalte. Ebenso habe man vereinbart, dass die Polizei etwaige
Störungen möglichst deeskalierend behandeln und ihm als Hausherr Bescheid
geben solle, bevor sie eingreift.
Das Verteilen von Flyern hätte er in keinem Fall als Störung aufgefasst, so
Schmid. Im Gegenteil: „Wenn möglich sollte Protest im Sinne der Demokratie
als Beitrag zur Diskussion betrachtet werden.“
Die Staatsanwältin beharrte trotz allem auf ihrer Anklage. Sie plädierte
dafür, den Angeklagten zu 50 Tagessätzen wegen Widerstands zu verurteilen.
Ihre Begründung war schwer verständlich: In ihrem Plädoyer redete sie von
„spezifisch rechtmäßigen Strafrechtsbegriffen“, die eine „gesetzliche
Eingriffsgrundlage“ und „einen Anknüpfungspunkt für eine
Identitätsfeststellung“ darstellten.
Mitten im Plädoyer hielt sie inne, musste noch mal in einem Gesetzestext
nachlesen, versuchte dann einen Satz zu beenden, dessen Anfang sie wohl
selbst nicht mehr wusste. Die Staatsanwaltschaft kann gegen das Urteil
binnen einer Woche Rechtsmittel einlegen.
10 Jul 2018
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## AUTOREN
Gareth Joswig
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Bremen
Andrea Nahles
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
Urteil
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Polizei
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G20-Prozesse
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