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# taz.de -- Kolumne Macht: Leben in finsteren Zeiten
> Eine derartige Missachtung rechtlicher und humanitärer Grundsätze, wie
> ich sie derzeit beobachte, hätte ich nicht für möglich gehalten.
Bild: Ist uns das wirklich egal?
Das Tempo, in dem sich das gesellschaftliche Klima verändert, ist
atemberaubend. Vorschläge und Pläne, die noch vor wenigen Monaten als
absurd, rechtswidrig und menschenverachtend gegolten hätten – zu Recht –
werden inzwischen von den höchsten politischen Institutionen jenes
Kontinents erörtert, der sich viel darauf einbildet, eine Wertegemeinschaft
zu sein. Europa.
Schon wieder über Rassismus schreiben? Wird doch allmählich langweilig.
Stimmt, allerdings nicht für die Betroffenen. Und worüber soll man denn
sonst schreiben? Ich habe die Sätze von Bertolt Brecht immer für ein
bißchen allzu pathetisch gehalten: „Was sind das für Zeiten, wo ein
Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist. Weil es ein Schweigen über so
viele Untaten einschließt!“ Inzwischen ahne ich, was der Dichter meinte.
Ich bin nicht blöd. Natürlich habe ich immer gewusst, dass rechtsradikale,
nationalistische Positionen bis weit in die etablierte Mittelschicht hinein
Zustimmung fanden und finden. Gibt ja genug Studien darüber und auch noch
ein paar persönliche Erfahrungen.
Aber vielleicht bin ich doch blöd. Eine derartige Missachtung rechtlicher
und humanitärer Grundsätze, wie ich sie derzeit beobachte, hätte ich nicht
für möglich gehalten.
## Das Beispiel Seenotrettung
Beispiel Seenotrettung. Keine nette Geste hilfsbereiter Leute, sondern eine
rechtliche Verpflichtung. Jeder Kapitän muss unverzüglich Hilfe leisten,
wenn er von einer Notsituation erfährt – und zwar unabhängig von der Frage,
wer da in Not ist und warum. Die Hilfsbedürftigen müssen an einen sicheren
Ort gebracht werden. So klar und unmissverständlich ist das Völkerrecht in
dieser Frage.
Ebenso klar und unmissverständlich machen demokratisch gewählte Regierungen
und demokratische Parteien in Europa deutlich, dass sie sich darum nicht
scheren. Am schönsten fänden sie es, wenn Hilfsorganisationen sich künftig
ganz heraushielten aus der Flüchtlingsfrage. Zweitbeste Lösung: Sie
übergeben Notleidende der so genannten libyschen Küstenwache, die
zuverlässigen Berichten zufolge selbst mit Schlepperorganisationen zusammen
arbeitet. Diese Küstenwache soll Flüchtlinge dann in Lager auf dem
afrikanischen Festland – konkret: ins [1][Bürgerkriegsland Libyen] –
bringen, wo mit Sklavenhandel einträgliche Geschäfte gemacht werden.
Die Menschenrechtsorganisation PRO ASYL weist darauf hin, dass ein
derartiges Vorgehen auch europäischem Recht widerspricht. Der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte hat 2012 in einem Grundsatzurteil
entschieden, dass dies nicht mit dem Schutz vor Kollektivausweisung
vereinbar ist.
PRO ASYL? Sind das nicht auch nur so „Gutmenschen“? Ja, genau wie die
überwältigende Mehrheit der Deutschen. Die in Meinungsumfragen unbeirrt und
unbeirrbar für humanitäre Grundsätze, das Asylrecht, die Genfer
Flüchtlingskonvention und ähnlich lästige Prinzipien eintritt.
Obwohl es dieser Mehrheit derzeit – leider und noch immer – an einem
Sammelbecken fehlt. Keine deutsche Bundestagspartei wehrt sich nämlich
prinzipiell gegen die Aufweichung humanitärer Grundsätze. Glückwunsch an
die AFD. Der es gelungen ist, mit schlappen 12,6 Prozent bei der letzten
Bundestagswahl den Eindruck zu erwecken, sie vertrete „das Volk“. Also,
mich vertritt sie nicht.
Übrigens: Die Nachrichtenagentur AP meldete in dieser Woche, dass Algerien
in den letzten 14 Monaten viele tausend Flüchtlinge ohne Wasser und
Nahrungsmittel [2][in der Wüste ausgesetzt hat]. Von denen, kaum
überraschend, viele gestorben sind. Und das will niemand gemerkt haben?
Trotz Nachrichtensatelliten? Ach, natürlich hat das jemand gemerkt. Aber es
war denen, die es gemerkt haben, offenbar egal.
Noch einmal Brecht: „Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!“
30 Jun 2018
## LINKS
[1] /EU-Plaene-fuer-Kooperation-mit-Libyen/!5513889
[2] /Algerien-mit-brutaler-Abschiebepraxis/!5516288
## AUTOREN
Bettina Gaus
## TAGS
Schwerpunkt Flucht
Libyen
Seenotrettung
Völkerrecht
Datenschutz
Gesundheitspolitik
Rechter Populismus
Lesestück Meinung und Analyse
Lifeline
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