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# taz.de -- Der Hausbesuch: Dunkelbunt, nicht schwarz
> Er war Ost-Punk, der im Westen nicht klar kam. Drogen, Prostitution,
> Knast. Heute betreibt Joachim Thiele einen Waschsalon mit Schanklizenz.
Bild: Die Oberbürgermeister von Ansbach nennt Joes Waschsalon Treff für „li…
Ansbach sei grau, sagt Joe. Ansbach, Mittelfranken, 40.000 Einwohner, sei
bewohnt von Leuten, „die gern zu Hause bleiben“. Zu Besuch bei einem, der
das doch auch verstehen kann.
Draußen: Ein paar Studentinnen radeln durch die Würzburger Landstraße am
Rande der Altstadt von Ansbach. Im Hinterhof von einem der Häuser stehen
drei Lastenräder und ein bunt angespraytes Mofa, dazu Möbel und
Flohmarktkram bis zur Dachrinne.
Drinnen: Die Treppen knarzen. Im obersten Stock liegt Joes
Dreizimmerwohnung und Zweizimmerbaustelle. Links: das künftige
Schlafzimmer, eine petrolblaue Wand neben einer gelben, neben einer roten.
Skateboards sollen als Regale an die Wand. Das Bad, eine Fußabtretergröße
länger als die Duschkabine, glitzert. Ein Fernseher, halb so groß wie Joes
ungemachtes Bett, steht im Zimmer nebenan. Die Küche ist am kargsten: ein
Campingherd, zwei Messer, zwei Brettchen, zwei Stühle. Auf einen lässt sich
Joe fallen und schnallt den Rückengurt ab. Er käme gerade von einer
Haushaltsauflösung.
Joe: Nur in seiner Akte wird er als „Joachim Thiele“ geführt: weinroter
Hoodie, Mütze und Camouflagehose, die Abzeichen rasseln an seiner
buntbestickten Lederjacke. Der 42-Jährige wohnt über seinem „Café
Stoertebeker“: einem Waschsalon mit Ramschladen, Treff für „linksradikale
Subkultur“ laut der Oberbürgermeisterin. Seit zwanzig Jahren lebt er in
Franken.
Kindheit: Joe wächst im Erzgebirge auf, „in Aue, da gibt’s Haue“, sagt e…
Er erinnert sich, dass sich die Jungs im Ort einmal im Monat auf dem
Sportplatz trafen, „rechts gegen links“, um sich zu kloppen. Der Verlierer
bekam bis zum nächsten „Spiel“ Innenstadtverbot: „Das war Krieg, ganz
klar“, sagt Joe und pafft den Rauch seiner Zigarette stoßweise in die Luft.
Manchmal waren die Bordsteine blutig rot.
Rosa: Die Pillen, die Joe seine ganze Kindheit schlucken muss. Wegen ADHS.
Als Joes Mutter sich mit einer Überdosis seiner Tabletten umbringen will,
schläft sie vier Tage.
Grün und blau: Erst später wird Joe erfahren, dass er aus einem Missbrauch
entstand. „Sie hat mich immer verdroschen“, erzählt Joe, das sei das
Einzige gewesen, was seine Mutter ihm geben konnte. Seine Reaktion:
Regelbruch. Dann zeigt er eine kahle Stelle unter seiner Mütze, es sei ihre
Lieblingsstelle gewesen. Als Joe von seiner Schule fliegt, kommt er ins
Heim.
Blauweiß: Seine Tasche, die die anderen an seinem ersten Tag im Heim
plündern. Von ihnen lernt er ganz neue Regeln: dass jede Strafe kollektiv
ausgehandelt wird. Etwa mit Gruppenkeile: „Einer an die Wand und alle mit
den Fäusten drauf. Bam“, sagt er und klatscht mit der Hand auf den Tisch.
Oder man wurde an die Stromleitung „angeschlossen“, flog zwei, drei Meter
weit. Fünf Peiniger habe er gehabt, sei fast täglich sexuell missbraucht
worden. Als er irgendwann zusammenklappt, erzählt Joe, was passiert ist.
Die jungen Männer bekommen einen Monat Ausgangssperre, es gibt eine Runde
Gruppenkeile. Er schämte sich, sagt Joe, raucht die dritte Zigarette in
Folge.
Rotweiß: Die Farben der Flagge im Zimmer seiner ersten Arbeitskollegen.
„Geh rüber“, riet ihm die Mutter: „Im Westen, da wirste was.“ Er bekom…
eine Lehrstelle als Metzger in Fürth. Mit einem Gesellen, einem Nazi, teilt
er sich ein Doppelbett in einem fensterlosen Zimmer: „In der Arbeit haben
wir uns verstanden, danach sind wir mit Messern aufeinander los.“ Es geht
nicht lange gut: „Ich war ein Punk aus dem Osten, ich kam im Westen nicht
klar.“ Es ist das Jahr, in dem Joe Vegetarier wird und anfängt, Whiskey zu
trinken.
Rot: Joes Zeiten als Punk: hier Heroin, da Crack, zwischen Berlin, Hamburg,
Konzerte, Festivals, da was geklaut, dort eingebrochen, abgestürzt,
Hauptsache: „Essen, essen, Party, Party, saufen, saufen“. In Frankfurt
kommt Joe das erste Mal in kalten Entzug: „Ohne gute Freunde wäre ich
verreckt.“
Schwarz: Um Geld zu verdienen, verteilt er Prospekte, fegt Straßen,
irgendwann bietet er seinen Körper in einer Toilette gegen Geld an. Mit 17
landet Joe auf der Straße: „Ich war ein hilfloses Opfer, mit mir wurde
alles gemacht.“ Das erste Delikt in der Akte: als er Fleischsalat klaute,
„das ist lange her“. Dann kamen die Einträge unter Körperverletzung:
„Irgendwann habe ich mich gegen alles gewehrt, und das Einzige, was ich
kannte, waren Schläge. Ich dachte, das wäre richtig.“ Während seiner
„Laufbahn als Strichjunge“ lernt er seine damalige Freundin kennen.
„Und da ist was passiert“, sagt er. Er zögert. Mit einem frisch
geschliffenen Fleischerbeil geht er auf einen Nebenbuhler los. Blackout.
„Ich war froh, dass ich es nicht geschafft hab, ihn zu töten.“ 1995, im
Jugendgefängnis in Augsburg, findet ihn die Mutter wieder. Als er später
wieder wegen Körperverletzung auffällig wird, bekommt er sechs Jahre. „Die
Zeit im Knast hat mir mein Leben gerettet“, sagt er.
Schwarz auf weiß: Für die Therapie kommt Joe nach Ansbach, verliebt sich in
seine Krankenschwester. Sie wird schwanger. „Aber der Joe damals war eben
noch nicht resozialisiert“, sagt er. Als er den Gerichtsbeschluss liest,
dass er sich seinen Kindern nicht nähern darf, weiß er: „Ich muss was tun.�…
An einem Tag im Jahr 2008 verabschiedet er sich in der Werkstatt von seinen
Kumpels mit den Worten: „Morgen trink ich nicht mehr.“ Sie lachen. Seither
ist er trocken. Ohne diese Entscheidung hätte er seine Kinder, heute 10 und
12, wohl nie mehr gesehen.
Dunkelbunt: „Ein Ex-Alkoholiker, der eine Schanklizenz für einen
Waschsalon haben möchte?“, fragte ihn der Beamte im Landratsamt. Seinen
Laden nennt Joe heute „sein Wohnzimmer“ und „ein Spiel“. Wie in einer
Tropfsteinhöhle hängen Playmobil, Dinosaurier oder Piratenschiffe von der
Decke. Und 12.000 Sterne aus Klebefolie, selbst ausgeschnitten.
Es riecht nach vergessenen Bierflaschen und Vanille-Cappuccino aus der
Dose. Im Hinterzimmer brummen die Waschmaschinen. In einem Ordner schlägt
Joe eine Seite mit Bildern auf. 2010. Von Punks, Christen bis „noch so ’n
Ossi, auch wenn er ’n Nazi ist“, alle helfen ihm: „Mir sind die Tränen
gekommen.“ Seither sei er nicht mehr Verlierer, sondern Künstler.
Die letzte Straftat: als er „aus Versehen“ die Scheibe der Redaktion der
Fränkischen Landeszeitung einschlägt. Am nächsten Tag titelt die
Lokalzeitung: „Mann mit bunter Flickenhose gesucht.“ Joe erscheint mit
Rosen und einer Entschuldigung. Seitdem käme er nur noch vorbei, um
Punkkonzerte in seinem Laden anzukündigen. „Klar“, sagt Joe, „wenn jemand
Mist baut und der Gesetzgeber das vorschreibt, wird man bestraft“. Viel zu
human aber sei der Rechtsstaat mit Missbrauch. Keiner seiner Peiniger wurde
je angeklagt.
Die Zukunft: „Ist bunt“, sagt Joe. Er sei nicht der Hellste, gebe aber sein
Bestes. Glücklich sei er, wenn er den Alltag hinbekomme. „Irgendwann werde
ich nicht mehr jeden Monat kämpfen“, das habe er schon bei der Einweihung
gesagt. Immerhin, es sei das erste Mal, dass er Hartz-IV-frei ist.
Zufrieden sei er, wenn er das Gefühl habe, „dass ich wer bin und so sein
darf, wie ich bin. Mit Fehlern.“
27 Jun 2018
## AUTOREN
Ann Esswein
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