# taz.de -- Der Hausbesuch: Unter Engeln | |
> Christiane Friedrich lebt seit vier Jahren mit Mina Shahiedi zusammen. | |
> Als deren Tochter nach der Flucht starb, rückten beide noch enger | |
> zusammen. | |
Bild: Eine Beziehung auf Zeit, denn irgendwann wird Mina weiterziehen, das wei�… | |
Uelzen liegt im Nordosten Niedersachsens. Dort lebt Christiane Friedrich in | |
einer Wohngemeinschaft mit Mina Shahiedi, die aus Afghanistan geflüchtet | |
ist. Die beiden teilen sich das Haus mit der Hündin Betty. | |
Draußen: Früher war Uelzen bekannt für den hässlichsten Bahnhof der Region. | |
Heute, nachdem Friedensreich Hundertwasser ihn umgestaltet hat, ist der | |
Bahnhof ein nettes Postkartenmotiv. Auch vor Christiane Friedrichs Haus | |
stehen bunte Mosaiksäulen. In den Worten des Künstlers heißt es: Säulen | |
tragen den Kosmos, erklärt Christiane Friedrich. Sie ist aus der Puste, | |
kommt gerade von der Arbeit nach Hause. Der Hausschlüssel baumelt in ihrer | |
Hand, während sie zu ihrem Backsteinhaus läuft. Bevor sie aufschließen | |
kann, öffnet ihre Mitbewohnerin Mina die Tür. | |
Drinnen: Im Wohnzimmer des einstöckigen Hauses ist eine Fensterfront mit | |
Blick in den Wald, davor stehen zwei Ohrensessel, einer für Mina, einer für | |
Christiane. Daneben noch ein gepolsterter Hocker mit Holztreppe, damit | |
Hündin Betty auch hochkommt. In der Ferne hört man das Rauschen des Kanals | |
und die Autobahn. Überall im Haus sind Engel: als Statuen, Tonfiguren, auf | |
Bildern und Kissenbezügen. Über Christianes Bett hängt eine Engelsfigur, | |
die wirkt, als sei sie aus einer Kirche geklaut. „Von Freunden“, sagt | |
Christiane. „Die meinten wohl, einer reiche nicht.“ | |
Christiane: 61, weit schwingende Leinenhose, grau melierter Pagenkopf, ist | |
Leiterin eines Heims für essgestörte Mädchen. Sie sagt lieber | |
„überempfindliche Mädchen“. 17 Prozent der Anorexie-Betroffenen überlebt… | |
die Erkrankung nicht, sagt sie, dank ihr sei die Quote in ihrem Heim etwas | |
geringer. Was sie und ihre Mitbewohnerin teilen: dass in ihrer täglichen | |
Arbeit Tod und Leben dicht beieinanderliegen. Und noch was: „Wir gehören | |
beide zu den Frommen, auch wenn wir Gott unterschiedlich nennen.“ | |
Mina: Trägt ein lockeres Kopftuch über den schwarzen Haaren, ein höfliches | |
Lächeln und Nike-Sneaker. Die 27-jährige Afghanin arbeitet als | |
Krankenschwester. Dass Kranke und Alte in Deutschland nicht von der Familie | |
gepflegt, sondern in Heimen versorgt werden, sei ihr anfangs fremd gewesen. | |
„So etwas gibt es in ihrer Kultur nicht“, ergänzt Christiane, als wolle sie | |
Mina helfen, wenn die die Worte nicht selbst findet. „Seit vier Jahren | |
wohnst du bei mir?“, fragt Christiane und nimmt einen Keks. Mina lächelt | |
bestätigend. | |
Die Flucht: Weil ihre sechsjährige Tochter Maria krank ist, entscheidet | |
sich Mina 2014, aus Afghanistan zu fliehen. Deutschland, das hört sich für | |
sie nach einer guten medizinischen Versorgung an. Sechs Monate sind die | |
beiden unterwegs. Manchmal müssen sie im Wald übernachten, um sich vor den | |
Grenzbeamten zu verstecken. Wenn es regnet, geht es ihrer Tochter besonders | |
schlecht. Sie hat Fieber und Entzündungen. In Deutschland wohnen Mina und | |
ihre Tochter 42 Nächte in einer Gemeinschaftsunterkunft, dann kommt der | |
Anruf. | |
Die neuen Mitbewohner: In diesen Tagen entschließt Christiane, man dürfe | |
sich der Flüchtlingskrise nicht entziehen. Sie macht dem Sozialamt eine | |
Ansage: Ich nehme jemanden auf, eine Frau. Das Amt kennt sie schon, immer | |
wieder hat sie Jugendliche bei sich aufgenommen. Zwei Tage später stehen | |
Mina und Maria vor ihrem Haus. Mutter und Tochter sind so eng, „dass keine | |
Briefmarke dazwischen passt“. „Maria war ein so liebes Menschenskind“, sa… | |
Christiane und hat Tränen in den Augen. Mina zupft an der Häkeldecke, als | |
Christiane ein Bild vom Fenstersims holt. Es zeigt die Sechsjährige, | |
schiefer Kopf, breites Lächeln, im Rollstuhl. | |
Maria: Schon als Kleinkind hatte Maria Schwierigkeiten zu laufen. In | |
Deutschland bekommt sie die Diagnose: ein Gen-Defekt, unheilbar, aber | |
operabel. Als es Maria schwerfällt, auch nur den Kopf zu heben, entscheidet | |
sich Mina für die Operation. Das war ein Montag vor zwei Jahren. Drei Tage | |
später stirbt Maria. Mina hielt sie lange im Arm, auch als sie schon kalt | |
war. „Ich konnte das kaum aushalten“, sagt Mina, Tränen laufen ihr übers | |
Gesicht. | |
Die Trauer: Mina bricht die Hauptschule ab und reist zu ihrer Familie in | |
den Iran. Per Telefon klärt Christiane, was mit Marias Leichnam passiert. | |
Als Mina zurückkommt, stellt Christiane wenige Fragen. „Sie verstand | |
einfach“, sagt Mina. Christiane brachte ihr immer etwas zu essen, einen Tee | |
ins Zimmer, ungefragt. Manchmal träumt Mina, dass die Tochter sauer auf sie | |
ist: „Ich habe mich ja für die Operation entschieden“, sagt sie. „Es wird | |
noch eine ganze Weile dauern“, sagt Christiane, dürfe es auch, „man | |
unterbricht einen Fluss auch nicht beim Treiben“. | |
Das Zusammenleben: Seit Maria tot ist, koche sie nur noch selten, sagt Mina | |
in der Küche. Ein Glas Erdnussbutter steht auf dem Tisch neben einer | |
Butterdose in Hundeform. Früher hatten sie zwei Regale, sagt Christiane, | |
eines mit Edelstahlkochtöpfen für Reis und Gerichte aus Afghanistan und | |
eines voller Pfannen mit Beschichtung. Die beiden Frauen haben sich | |
angeglichen, nicht nur im Haushalt. | |
Wenn es Mina schlecht geht, ist es für Christiane so, als sprächen die | |
Wände Farsi: Mina telefoniert stundenlang mit ihrer Familie oder schaut | |
YouTube-Videos. Christiane selbst guckt gern Krimis: „Je anstrengender der | |
Therapiealltag, desto dümmer.“ Nur einmal in vier Jahren haben sie | |
gestritten. Heute kann Mina nicht einschlafen, wenn sie nicht Christianes | |
Schlüssel im Schloss gehört hat. | |
Ersatzfamilie: Fremden stellt Christiane Mina als Mitbewohnerin vor. In | |
Wirklichkeit sei sie aber viel mehr: eine Freundin. Mina sagt: „Ich habe | |
viel zu viele Verwandte, aber niemanden mag ich so sehr.“ Christiane | |
lächelt verlegen. Sie weiß, dass Mina irgendwann gehen wird. | |
Mutter auf Zeit: Um 40 Pflegekinder hat sich Christiane schon gekümmert. In | |
ihrem Arbeitszimmer reihen sich Postkarten und Bilder. Hier ein | |
Schulabschluss, da eine Hochzeit. Sie zeigen junge Erwachsene und | |
Klientinnen, die eine schwierige Zeit hatten und fort waren, sobald es | |
ihnen besser ging. | |
Christiane knetet die Hände, während sie das erzählt. Eigene Kinder hat sie | |
nicht: „Ich habe nie einen Mann gefunden, dessen Kind ihm ähneln sollte.“ | |
Und überhaupt: „Kinder hätten sich mit meinem Leben gar nicht vereinbaren | |
lassen“, sagt sie, wendet sich ab und geht zurück ins Wohnzimmer, wo sie | |
sich neben Mina auf ihren Sessel fallen lässt. | |
Die eigene Familie: Christiane wächst als Tochter eines Politikers und | |
einer „Genitiv-Frau“ auf, einer also, die als Anhängsel ihres Mannes | |
verstanden wird. Ein bürgerliches Leben voller Abhängigkeit, das kenne sie | |
und wollte es nie für sich selbst. Und dennoch: Eine Art Dualismus sei ihr | |
angeboren. Sie hat eine eineiige Zwillingsschwester, mit der sie früher | |
alles teilte, aber heute keinen Kontakt mehr hat. „Was ist passiert?“, | |
fragt Mina. | |
Die Kinder ihrer Schwester verwechselten sie eines Tages und nannten sie | |
„Mama.“ „Ich habe meine Schwester in ihrer Autonomie gestört“. Alle vi… | |
Geschwister seien heute verheiratet. Natürlich fehle ihr manchmal jemand, | |
der sich um sie sorgt. Aber eine Beziehung für das eigene Glück | |
instrumentalisieren, das möchte sie nicht, sagt sie, die gefalteten Hände | |
ruhen auf ihrem Bauch. | |
Helfersyndrom: In drei Jahren geht Christiane in Rente. Kinder werde sie | |
weiterhin aufnehmen. Sie ist dann in der Großmuttergeneration. Man müsse | |
sich mehr in die Nähe anderer trauen, daran glaubt sie. Sie kenne die | |
Dynamiken des Faschismus, Abschottung bringe nur unglaubliches Leid. Mina | |
nickt, das erste Mal ergänzt sie: „Ich finde die Menschen in Deutschland | |
sehr offen.“ | |
28 Jul 2018 | |
## AUTOREN | |
Ann Esswein | |
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