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# taz.de -- Der Hausbesuch: Wir sehen uns im Laubengang
> Sie bezeichnet sich als „Friedenskind“, auf der Arbeit war sie die „Rote
> Helga“. Heute lebt Helga Wilhelmer in einem Wohnprojekt in Oldenburg.
Bild: Helga Wilhelmer hat das Mehrgenerationenwohnprojekt „Kaspershof“ mit …
Selbstbestimmt in der Gemeinschaft leben: Auf diese Maxime vertraut Helga
Wilhelmer, auch nach ihrer Pensionierung. Und wie geht das im Alter? Seit
drei Jahren wohnt sie in einem Generationenwohnprojekt, mit 20 weiteren
Menschen von 12 bis 71.
Draußen: Eversten, ein Stadtteil im Westen Oldenburgs, ist
Einfamilienhausland. Dazwischen steht ein dreigeschossiger Wohnriegel, der
„Kaspershof“, obendrauf Solarzellen, davor zwei Holzschuppen mit
Gründächern, ganz neu ist alles noch. Vorher war hier ein Bauernhaus
gleichen Namens, nur die Hausnummer ist geblieben. Ganz oben rechts im
Kaspershof lebt Helga Wilhelmer.
Drinnen: Drucke von Matisse und Mondrian hängen im Flur, zwei Schritte
weiter, und schon steht man im Wohnzimmer. Parkett, weiße Wände, viel Licht
von draußen, in zwei Richtungen geht der Blick übers Häusermeer. An der
Wand steht ein Designersofa, alles ist recht sachlich, doch gibt es immer
wieder bunte Hingucker, wie die kleinen Nana-Figuren von Niki de Saint
Phalle in der Vitrine.
Gemeinschaft finden: „Gemeinschaft ist für mich ganz wichtig“, sagt Helga
Wilhelmer. Das kann sie bis in ihre Jugend zurückverfolgen, wo sie sich
heimlich ins Internat wünschte. „Mädchen in Uniform“ hat sie sich immer
wieder angeschaut. Als der Ruhestand näher rückte, schaute Helga Wilhelmer
sich um, vom Kaspershof las sie in der Zeitung, bewarb sich. „Ich hatte ein
richtiges Vorstellungsgespräch und war aufgeregt.“
Gemeinschaft werden: Sie wird genommen und engagiert sich, trifft bald
schon selber Interessenten. Eine goldene Regel: „Wer kauft, zieht ein!“ Die
Kaspershofer wollen keine Vermietungen, keine Leute, die ihr Geld nur
anlegen. „Dann hast du Vermieter, Mieter und Eigentümer und verschiedene
Interessen.“ Etwa wenn ein Rasenmäher kaputt ist: „Wer da nicht wohnt, der
will den billigsten. Wer da nur wohnt, der will den teuren.“
Gemeinschaft sein: Begegnungsorte wurden geschaffen. Die Werkstatt, der
Gemeinschaftsraum, aber auch Geburtstagsfeste und Bewohnerversammlungen
sorgen für Verbindung. „Ganz wichtig sind auch unsere Laubengänge, sie
dienen der Kommunikation“, sagt Helga Wilhelmer. „Was wir geschafft haben:
Es wird immer Hallo gesagt.“ Größere Konflikte gab es bisher nicht, sagt
sie, allenfalls bei der Gartengestaltung. „Ich hätte nicht geahnt, dass das
für einige so wichtig ist. Aber das ist wie in der Familie. Und wir sind
eben eine Ersatzfamilie.“
Selbstbestimmt: Dennoch ist es eine Haus- und keine Wohngemeinschaft, jeder
hat seine Freiheiten. „Mein ganzes Leben war sehr selbstbestimmt“, sagt
Helga Wilhelmer. „Es spielt eine ganz große Rolle, dass mir keiner
reinreden kann.“ Ob sie um acht Uhr in der Früh aufsteht oder eben erst um
elf. Wann sie ins Bett geht. Ob sie drauf verzichtet, mit einem Partner
oder einer Partnerin zusammenzuleben. Wie sie überhaupt ihr Leben führt.
Fremdbestimmt: Das war nicht immer so. 1946 – „Ich sage immer, ich war ein
Friedenskind“ – wird Helga Wilhelmer in Oldenburg geboren. Ihre Kindheit
ist hart, der Vater wird früh arbeitslos. Statt Abitur und
Grundschullehramt macht sie die mittlere Reife und eine Ausbildung, auf
Wunsch der Eltern. „Denn die wollten mein Gehalt als Kostgeld abgeliefert
haben, hundert Prozent.“ Die Nazizeit, der Krieg waren in ihrem Elternhaus
kein Thema. „Da wurde nix erzählt. Ich habe auch, und das ist nicht gut, zu
wenig gefragt. Da war so eine Kälte zu Hause, das war nichts, wo man
rumdiskutierte.“
Ausweg: Abgrenzung wird zunehmend wichtiger. „James Dean war mein großes
Vorbild. In seinen Filmen hat er gegen die Eltern rebelliert. Das passte.“
Ausziehen ging aber nur unter einer Bedingung: Heirat. „Sehr prüde war das
noch alles. Schreckliche 50er, 60er Jahre“, sagt Helga Wilhelmer. Mit 21
darf man damals heiraten, und das tut sie auch. Es ist das Jahr 1967. Eine
neue Zeit beginnt.
68er: In der Schule wurden die Gräueltaten der Nazis ausgespart, genau wie
zu Hause. Erst jetzt wird Helga Wilhelmer klar, welches Leid Deutschland
der Menschheit angetan hat. Auch der Vietnamkrieg ist ein
Schlüsselereignis: „Ich wurde Pazifistin und bin es bis heute.“ Wilhelmer
politisiert sich. Zum Sternmarsch gegen die Notstandsgesetze fährt sie nach
Bonn, hört Heinrich Böll im Hofgarten. In ihrem R4 hängen Wahlplakate für
eine linke Liste. An der Oldenburger Bezirksregierung, wo sie als Beamtin
arbeitet, muss sie deswegen zum Chef. „Da war ich die Rote Helga.“
Universität: In den 70er Jahren soll Oldenburg eine Universität bekommen.
Helga Wilhelmer ist mit im Gründungsausschuss, ehrenamtlich, sie stürzt
sich in die Arbeit. „Es gab keine Hierarchien. Eine angenehmere Atmosphäre
kann man sich gar nicht vorstellen.“ Bei der Gründung der Uni wird sie
übernommen. Sie wird Regierungsdirektorin, Dezernentin, später auch
Vizepräsidentin. Sie schmeißt den Laden. „Ich kann immer sagen: Es war ein
Geschenk.“ Auch die Uni ist für Helga Wilhelmer Gemeinschaft. „Dadurch
kenne ich natürlich Mann und Maus hier in Oldenburg“, sagt sie. Tatsächlich
lernt sie ihren zweiten Mann an der Uni kennen, einen Psychologieprofessor.
Sie haben einen Sohn. Zusammen leben die beiden schon seit 20 Jahren nicht
mehr, sind aber verheiratet geblieben.
Berufsverbote: Auch an der Uni bleibt Helga Wilhelmer politisch, ist in der
Gewerkschaft, kandidiert 1976 für die DKP für den Stadtrat, sitzt im
Bezirksvorstand der Partei. Im Zuge des Radikalenerlasses droht ihr als
Beamtin ein Berufsverbot. Mehrfach kommt es zu Anhörungen, einmal zwei Tage
lang. „Mein Rechtsanwalt schlief ein, weil der noch nach Stammheim musste,
der war auch schon ein bisschen alt“, sagt sie. Es ist Heinrich Hannover,
der auch Peter-Jürgen Boock vertritt. Vor Gericht kommt sie nie. 1989 hebt
Gerhard Schröder als Ministerpräsident den Radikalenerlass auf. Im selben
Jahr tritt Helga Wilhelmer aus der DKP aus.
Ruhestand: 40 Jahre ist Helga Wilhelmer an der Uni. Nach ihrem 65.
Geburtstag arbeitet sie noch ein halbes Jahr länger. Mehr nicht. „Weil ich
Schiss davor hatte, dass die Leute sagen: Guck mal an, die Wilhelmer. Die
klebt hier an der Uni. So wollte ich nicht enden.“ Den heutigen
akademischen Betrieb sieht sie kritisch: „Hierarchien, Konkurrenz. Du bist
nur eine gute Hochschullehrerin, wenn du viele Drittmittel akquirierst.“
Neue Projekte: Bei den Kaspershofern wurde sie Geschäftsführerin. „Das war
natürlich praktisch: Da konnte ich wieder was organisieren.“ Es bleibt
nicht das einzige Projekt. Wo Helga Wilhelmer hinkommt, übernimmt sie
Verantwortung, sie kann wohl nicht anders. Sie baut einen Förderkreis für
ein Filmkunsttheater auf, veranstaltet ein Nachbarschaftskino. Sie ist
zweite Vorsitzende eines Syrischen Vereins, beratendes Mitglied im
Kulturausschuss und – das ist das Wichtigste – „ab und zu dann noch mal
Oma“.
Alter: „Mein Verhältnis zum Älterwerden ist durchaus schwierig.
Nachdenklich und manchmal voller Schrecken, was noch kommt“, sagt sie,
„Aber ich bin deswegen nicht traurig.“ Schwierig ist etwa, dass sie sich
nicht mehr auf ihre Gesundheit verlassen kann. „Der Körper hat bei mir
früher nie so eine Rolle gespielt.“ Einsamkeit ist hingegen kein Thema, sie
fühlt sich aufgehoben, beim Sohn, im Kaspershof, bei den Freunden. In einem
will sie sich treu bleiben: „So wie ich selbstbestimmt gelebt habe, möchte
ich auch selbstbestimmt sterben.“
6 Jun 2018
## AUTOREN
Michael Brake
## TAGS
Der Hausbesuch
Wohnprojekt
Oldenburg
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