# taz.de -- Der Hausbesuch: Platten, alles voller Platten | |
> Günther Hartig war Buchdrucker und Gewerkschafter. Ein Kommunist, der | |
> immer wieder die USA bereiste. Der Grund: seine Liebe zum Rock ’n’ Roll. | |
Bild: Vorne Günther Hartig, hinten die Plattensammlung – das sind natürlich… | |
Wie viele Schallplatten er hat, weiß er selbst nicht genau. Früher hat er | |
sie durchnummeriert, doch irgendwo bei 25.000 hat er aufgehört. Und das ist | |
schon über fünfzehn Jahre her. Zu Besuch bei Günther Hartig in Oldenburg. | |
Draußen: Es ist ein eher unspektakuläres Haus, in dem er lebt, klein, | |
zweigeschossig, mit Giebel. Aufregender ist, was sich hinten im Garten | |
erhebt: ein Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg, gebaut von Zwangsarbeitern. | |
Nebenan stand damals noch eine Kaserne, das Haus bekam auch einen | |
Bombentreffer ab. Es gibt noch die Rechnung der „durch Feindeinwirkung“ | |
zerstörten Toilette. | |
Drinnen: Geschichten wie diese erzählt Günther Hartig mit voller, ruhiger | |
Stimme und am liebsten in Szenen: „Der kam dann her und sagte: …“ Um ihn | |
herum in seinem Musikzimmer: Wände voller Schallplatten, 85 Regalmeter, | |
fast alles Rock ’n’ Roll. An der Decke hängen 50er-Jahre-Lampen, an einer | |
Wand stehen alte Musikabspielgeräte, manche groß wie Möbelstücke, und in | |
der Ecke auf dem Schreibtisch ein Computer. | |
Der Bruder: Manfred ist zehn Jahre älter als Günther, als Erster bringt er | |
Rock-’n’-Roll-Platten ins Haus. Der Vater hört damals Freddy Quinn und | |
Margot Eskens, „diese richtig seichten Schlagersachen“, Rock ’n’ Roll | |
findet er schlimm: „Für ihn war das ‚Hottentottenmusik‘. Wir durften es … | |
auflegen, wenn er nicht da war.“ | |
Der Vater: Geboren wurde Hartig im Dezember 1951, in Oldenburg. Mit drei | |
Geschwistern wächst er auf, sein Vater ist Verwaltungsangestellter, | |
Alkoholiker – und wählt die rechtsextreme Deutsche Reichspartei. „Er war | |
für uns nur ‚Der Alte‘ und es gab immer Kontra.“ Gut wurde das Verhältn… | |
zum Vater bis zu dessen Tod nie mehr. | |
Der Lehrling: Nach dem Realschulabschluss beginnt Günther Hartig 1968 eine | |
Lehre als Buchdrucker. „Damals war es noch so, dass nach der ersten Woche | |
einer ankam und sagte: Du musst in die Gewerkschaft. Da dachte ich: Wenn | |
das so üblich ist, dann machst du das einfach.“ Neben der Studentenbewegung | |
gab es damals auch eine Lehrlingsbewegung. „Da bin ich politisiert worden. | |
Allerdings auch durch den Vietnamkrieg und weil Vater so ’n alter Nazi | |
war“, sagt Hartig. Er tritt aus der Kirche aus, versucht den Kriegsdienst | |
zu verweigern. Alles wird diskutiert, von der Ausbeutung der Lehrlinge bis | |
zur sexuellen Befreiung. „Wie sollte man da unpolitisch bleiben?“ | |
Der Funktionär: In der Gewerkschaftsjugend hatte Günther Hartig viel übers | |
Arbeitsrecht gelernt, in der Druckerei liegt einiges im Argen – mit 23 | |
Jahren ist er auf einmal Betriebsratsvorsitzender und bleibt das, fast | |
ununterbrochen, bis zu seiner Pensionierung 2012. In der Gewerkschaft | |
engagiert er sich im Landesbezirksvorstand, auch in die DKP tritt Hartig | |
ein. „Einmal kam unser Chef mit Kunden rein, ich glaube, aus Schweden, und | |
sagte: Und das hier ist unser Herr Hartig, unser Betriebsratsvorsitzender. | |
Ist ein netter Kerl, sieht gut aus, aber: Kommunist!“ | |
Der Sammler: Seine erste Schallplatte kauft Hartig sich 1963, zum Sammler | |
wird er aber es erst Mitte der 70er Jahre, als ihm die neuere Popmusik | |
nicht mehr so gut gefällt. „Ich versuchte, mir vieles zu besorgen, was mein | |
Bruder gespielt hat.“ Der hatte seine Platten immer nach einiger Zeit | |
verkauft. „Das tat mir in der Seele weh. Die schöne Musik!“ Zur gleichen | |
Zeit kommen die Flohmärkte auf, Hartig findet Gleichgesinnte. | |
Das Magazin: Im Frühjahr 1977 hat einer der Sammler, ein Buchbinder, die | |
Idee mit der Fan-Zeitschrift. Heute hat [1][das Rock ’n’ Roll | |
Musikmagazin] noch rund 800 Abonnenten, Tendenz: rückläufig, wobei die | |
meisten nicht kündigen, sondern sterben. „Aber solange es uns Spaß macht, | |
wir auch zu Konzerten hinkommen oder Künstler treffen, machen wir weiter.“ | |
Buddy Holly: Von einem sammelt er alles: Buddy Holly. Los ging es mit | |
„Peggy Sue“. „Das fand ich super. Und dann erzählte Manfred: Ja, der ist | |
übrigens jetzt gestorben, mit dem Flugzeug abgestürzt.“ The day the music | |
died, es war im Februar 1959, Hartig nahm sich vor: „Irgendwann willst du | |
mal sein Grab besuchen! Wie man das eben als Siebenjähriger macht.“ Es | |
dauert 21 Jahre bis zu seiner ersten Reise ins Heimatland des Rock ’n’ | |
Roll. Gemeinsam mit einem Holländer fährt er nach Texas zu Buddy Hollys | |
Grab, sie treffen seine Eltern, seine Geschwister, seine Witwe, | |
Mitmusiker. Bis ihnen nach zwei Wochen das Geld ausgeht. | |
Moment: USA? Kommunist und Musik aus dem imperialistischen Feindesland – | |
wie geht das zusammen? „Das haben mich damals viele gefragt. Aber weil ich | |
die Musik mochte, heißt das ja nicht, dass die USA bei mir wohlgelitten | |
ist, ganz im Gegenteil.“ Außerdem, sagt Hartig, war Rock ’n’ Roll eben a… | |
Rebellion und habe dazu beigetragen, dass in den USA Barrieren zwischen | |
Schwarzen und Weißen gefallen sind. „Es gibt halt nicht nur das schlechte | |
Amerika“, sagt er, „aber was ich dort auf Reisen immer wieder erlebe: wie | |
wenig die Leute von der Welt wissen. Die werden so richtig dumm gehalten | |
von den Medien.“ | |
Das Musical: Als in den 90er-Jahren ein Buddy-Holly-Musical nach Hamburg | |
kommt, arbeitet Hartig als ehrenamtlicher Berater mit. „Ich finde nichts | |
schlimmer, als wenn Buddy da mit der falschen Gitarre steht“, sagt er, | |
„Auch wenn das 98 Prozent nicht sehen.“ Auch inhaltlich kann Hartig | |
Einfluss nehmen. Besucht hat er „Buddy“ um die 50 Mal – und traf auch Bud… | |
Hollys Witwe wieder. | |
Ein Fass ohne Boden: Zu Flohmärkten ist längst eBay dazugekommen, denn es | |
gibt immer noch Platten, die Günther Hartig noch nicht hat, die besonders | |
seltenen. „Also es gibt schon Grenzen, ich muss nicht von Elvis jede | |
Pressung haben. Von Buddy Holly schon, aber ich sehe nicht, dass das | |
irgendwann der Fall sein wird.“ Ist es nicht frustrierend, wenn man niemals | |
fertig werden kann? Im Gegenteil, sagt er. „Wenn’s denn vollständig wäre, | |
dann ist das Thema ja durch und abgeschlossen. Und damit nicht mehr | |
interessant.“ | |
Zusammenleben: „Ich kenne viele Sammler, die sind längst geschieden“, sagt | |
Günther Hartig. Die Beziehung zu seiner Frau Waltraut hält seit 38 Jahren, | |
auch, weil es Regeln gibt. Wohnzimmer und Küche sind plattenfrei zum | |
Beispiel. Schade findet sie nur, dass die Platten ausgerechnet das Zimmer | |
zum Garten belegen müssen – weil es der einzige Raum ist, der nicht | |
unterkellert ist und damit der Boden stabil genug. „Denn Schallplatten sind | |
schwer. Schwerer als Papier.“ | |
Musikhören: Die meisten seiner Platten hat Günther Hartig auch gehört, | |
jedenfalls kurz. Als er noch gearbeitet hat, hatte er ein Ritual: Jeden | |
Morgen vor der Arbeit, um 6.40 Uhr, hat er sich in seinen Sessel gesetzt | |
und eine halbe Stunde Musik angemacht. Mit Kopfhörer und Augen zu. | |
„Waltraut hat noch gepennt, das war die Zeit, wo ich einfach Ruhe hatte. | |
Das hab ich richtig genossen.“ Heute macht er das nur noch ganz selten. | |
Seit dem Ruhestand steht er erst um 8 Uhr auf. | |
Ruhestand, kein Ruhestand: Denn da ist natürlich noch immer das Rock ’n’ | |
Roll Musikmagazin. Da ist die Pressearbeit für das Moormuseum im nahen | |
Benthullen, wohin Hartig seine Sammlung von 50er-Jahre-Möbeln und -Geräten | |
ausgelagert hat. Da ist die Arbeit an einem Stadtteilprojekt eines | |
Oldenburger Medienarchivs. Da ist die Aufgabe als ehrenamtlicher | |
Arbeitsrichter – und dann da auch noch die Doppelkopfrunde und die | |
Hobby-Mixed-Gruppe im Volleyball, jeden Montagabend. Sieht so aus, als wäre | |
er gut beschäftigt. „Ja“, sagt Günther Hartig. „Und das würde ich gern… | |
noch lange machen.“ | |
14 Sep 2018 | |
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## AUTOREN | |
Michael Brake | |
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