Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Der Hausbesuch: Kochen über Skype
> Die Syrerin Ftiem Almousa lebt zum ersten Mal allein – in Bad Schönborn.
> Ihre Familie wartet im Libanon darauf, zu ihr kommen zu können.
Bild: Ftiem Almousa am Esstisch Ihrer Wohnung im badischen Bad Schönborn
Die Syrerin Ftiem Almousa lebt in einer badischen Kleinstadt. In Gedanken
ist sie aber die meiste Zeit bei ihrer Familie im Libanon.
Draußen: Fahrräder holpern über die Pflastersteine. Vor der Apotheke grüßen
sich Radler in Funktionskleidung. Der 12.000-Einwohner-Ort Bad Schönborn
liegt fünf S-Bahn-Stationen von Karlsruhe entfernt. Der Name von Ftiem
Almousa ist mit Kreppband auf das Klingelschild geklebt. Erst vor drei
Monaten ist sie hier eingezogen.
Drinnen: Das Licht fällt durch das Dachfenster. Almousa könnte durch das
Fenster direkt in die Wohnung ihres Nachbarn schauen. „Ich kenne niemand
hier“, sagt die 49-Jährige und schlappt in Flipflops durch die
Dreizimmerwohnung. Eine Plastiktischdecke hat sie mit Tesa am Couchtisch
befestigt, in einer Soßenschüssel liegen zwei Fernbedienungen.
Im Wohnzimmer steht neben dem Koran ein AOK-Ordner. In den Türrahmen hängen
bunte Vorhänge. Die Decken sind so niedrig, dass es wirkt, als müsste sich
die 1,70 Meter große Frau ständig ducken. Sie lebt zum ersten Mal in ihrem
Leben allein.
Am Tisch: Almousa singt, während sie das Essen vorbereitet. Heute gibt es
Mlouchia, ein Gericht aus ihrer Heimat. Die Syrerin, runde Backen, beiges
Kopftuch, erzählt, sie gebe Vorträge zum Thema Syrien. Nebenbei geht sie
wöchentlich ins Frauenkaffee, ist im Strickkreis, pflanzt Zucchini und
Tomaten im Gartenverein. Trotzdem sagt sie: „Ich bin hier ganz allein.“ Den
Tisch hat sie für eine Person zu viel gedeckt. Als sie es bemerkt,
schüttelt sie den Kopf: „Es ist zu viel, ich vergesse in letzter Zeit immer
alles.“
Digitales Band: Der wichtigste Gegenstand in Almousas Alltag ist das
Smartphone. Aufrecht lehnt es an einer Küchenrolle und klingelt bei fast
jedem Bissen. „Eine Erinnerung, dass ich meinen Termin beim Arzt nicht
vergesse“, liest sie vor und scrollt auf dem Bildschirm. Dann ist da noch
der Gruppen-Chat von ein paar Ehrenamtlichen. Als eine Nachricht von ihrer
Tochter aufleuchtet, kommen ihr die Tränen: „Riham kommt gerade von der
Schule.“
Die Familie: Seit zweieinhalb Jahren lebt Almousa getrennt von ihrer
Familie. Ihre zwei Töchter, ein Sohn und ihr Mann warten im Libanon auf den
Familiennachzug, erzählt sie, während sie Spinat in den Reis rührt. Oft
kochen sie über Skype gemeinsam. In Syrien wusste sie nicht, dass sie
allein leben könnte.
Damals war eine Mahlzeit ohne die Familie undenkbar. Familie, das bedeutet
für Almousa eine Einheit, die es für sie jetzt nicht mehr gibt. Sie hat 14
Geschwister. Zum Geburtstag ihrer Kinder kamen früher bis zu 300 Verwandte.
Drei, vier Jahre könnte es jetzt noch dauern, bis sie ihre Familie sehen
könnte, schätzt Almousa und räumt das Geschirr ab.
Die Älteste: Das Handy klingelt. Riham ruft an und erzählt von der Schule.
Im Libanon hat Almousas älteste Tochter die Mutterrolle übernommen. Sie
wäscht, kocht, putzt, kümmert sich um die Geschwister, während ihre
Schulnoten immer schlechten werden. So erzählt sie es ihrer Mutter in den
täglichen WhatsApp-Telefonaten. „Sie hat ihre Kindheit verloren“, sagt
Ftiem Almousa und hält in der Hand ein Taschentuch.
Im Juni wird Riham 18. Die Volljährigkeit bedeutet aber, dass sie auf
normalem Weg nicht als Almousas Kind mit nach Deutschland kommen darf:
„Frauen bei uns leben nicht allein“, sagt Almousa. Sie macht sich große
Sorgen um ihre Tochter: „Ich habe kein Geld, um sie hierher zu bringen. Ich
kann nicht arbeiten“, sagt sie und lässt sich auf die schwarze Ledercouch
fallen.
Die Flucht: 2015 lebt die Familie in Jarmuk, einem der größten
Flüchtlingscamps Syriens am Stadtrand von Damaskus. Als die Regierung das
Lager im April bombardiert, wird Ftiem Almousa durch die Luft geschleudert.
Sie hat immer noch Rückenschmerzen davon. Die Lage ist angespannt, trotzdem
entscheidet sie sich zu bleiben und weiter zu arbeiten. Sie ist Leiterin
einer Schule.
„Wir wollen nicht, dass unsere Kinder-Generation Analphabeten werden.“ Die
Regierung will die Schließung der Schule und wertet ihren Widerstand als
Protest. Soldaten warnen sie auf der Straße: „Wenn du morgen wieder in der
Schule bist, bringen wir dich um“. Als sie am nächsten Tag die Schule
öffnet, fallen Schüsse. Drei Tage vor dem Geburtstag ihres dreijährigen
Sohns entschließt sie, alleine zu fliehen. Das Geld reicht nicht für alle.
Heute ist Ahmad fünf.
Ankunft: Ihre erste Station ist Mannheim. Es ist der 11. November 2015, der
Himmel hängt voller Wolken. Nächtelang sitzt sie auf einem Stuhl in der
Flüchtlingsunterkunft und weint. Warum sie sich nicht hinlegen will, fragt
der Sicherheitsmann. Weil die Betten wie die Tragen aussehen, mit denen die
Toten weggebracht werden, antwortet sie. Zwei Jahre lebt sie in einer
Gemeinschaftsunterkunft. „Ich wusste, dass ich es gut hatte“, sagt Ftiem
Almousa heute. Gleichzeitig aber, dass ihre Zukunft, wie sie sie geplant
hatte, vorbei war.
Ankommen: In der ersten Zeit fühlt sie sich wie ein Orangenbaum, der samt
Wurzeln umgepflanzt wurde, sagt sie. Einmal versucht ein älterer Herr an
der Bushaltestelle, ihr das Kopftuch vom Kopf zu reißen. Sie will ihm
erklären, dass sie Muslimin, aber nicht aggressiv sei.
Sich nicht ausdrücken zu können, macht Almousa sauer. Während sie auf den
Deutschkurs wartet, bringt sie sich mit dem Onlinedienst Duolingo selbst
etwas Deutsch bei: Ein Jahr später habe sie denselben Mann an der
Bushaltestelle auf die Schulter getippt, ihn mit erhobenem Kinn auf Deutsch
gefragt: „Na, alles gut?“ Almousa lächelt: „Er hat mich als Mensch
akzeptiert.“
Laute Stimme: Wieder klingelt das Handy, eine Gruppennachricht von „Familie
für alle“. In zwei Tagen organisiert das Bündnis eine Demonstration in
Berlin. Die Forderung dahinter: das Recht auf Familiennachzug.
In der Hauptstadt sei sie nicht die strickende Geflüchtete, dort nennen
Aktivisten und Freunde sie „den Kerl“, weil sie bei Demos am lautesten
brüllt. „Ich verhalte mich anders als andere Frauen aus dem Orient“, sagt
Almousa und: „Die Starken sind die, die sich adaptieren.“ Was sie damit
meint: allein klar kommen, ohne Jobcenter, ohne Freunde. Manchmal sei ihr
Mann eifersüchtig.
Die Liebe: Ftiem Almousa hat ihren Mann an der Uni kennengelernt. Sie,
angehende Lehrerin, sitzt auf einer Bank, als er fragt, ob er sich setzen
dürfe. Sie verneint, er setzt sich trotzdem und lächelt freundlich. Das
gefällt ihr: „Er ist so schön einfach – wie ich.“ Almousa lacht und wed…
mit der Hand durch die Luft: „Er war hässlich, aber yalla, die Liebe fragt
nicht nach Erlaubnis.“ Vier Monate später heiraten sie. Gemeinsam bauen sie
sich eine Farm auf und vier Wohnungen – eine für jedes Kind. Die Wände dort
waren mintgrün, erinnert sie sich und streicht über die Wand: „Wie hier.“
Zukunft: Aus dem Regal fischt sie eine Bewerbung als Bibliothekarin. Sie
hat sich noch nicht getraut, sie abzuschicken. Das Leben soll endlich
weitergehen, sagt Almousa. Drei Jahre hat sie das Leben ihrer Kinder
verpasst. Das will sie so schnell wie möglich nachholen: „Wenn sie endlich
hier sind, will ich ihnen beibringen, wie man sich durchkämpft.“
1 Jun 2018
## AUTOREN
Ann Esswein
## TAGS
Der Hausbesuch
Schwerpunkt Syrien
Schwerpunkt Flucht
Libanon
Baden
Der Hausbesuch
Rollenbilder
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
Israel
Der Hausbesuch
## ARTIKEL ZUM THEMA
Der Hausbesuch: Dunkelbunt, nicht schwarz
Er war Ost-Punk, der im Westen nicht klar kam. Drogen, Prostitution, Knast.
Heute betreibt Joachim Thiele einen Waschsalon mit Schanklizenz.
Der Hausbesuch: „Alter, wo bin ich hier gelandet?“
Seine erste Rolle in Deutschland: Rotkäppchen. Es war Fasching. Heute ist
er Schauspieler und will Rollenbilder aufbrechen. Bei Hadi Khanjanpour in
Berlin.
Der Hausbesuch: Wir sehen uns im Laubengang
Sie bezeichnet sich als „Friedenskind“, auf der Arbeit war sie die „Rote
Helga“. Heute lebt Helga Wilhelmer in einem Wohnprojekt in Oldenburg.
Der Hausbesuch: Große Liebe Sibirien
Konstantin Milash lebt in der kleinsten Stadt Baden-Württembergs.
Eigentlich kommt er aus Sibirien – und will zurück.
Der Hausbesuch: Er ist Marx, aber kein Marxist
Michael Thielen war schon vieles im Leben: Lehrer, Maler, Musiker,
Journalist. Jetzt ist er Karl Marx. Aber nur, wenn er Lust dazu hat.
Der Hausbesuch: „Das ist Mazel, ist Glück“
Siebzig Jahre Israel, siebzig Jahre Israeli – das Leben von Schlomo Kann
ist wie ein Spiegel, in dem die Geschichte des zerrissenen Landes
aufscheint.
Der Hausbesuch: Jetzt streckt sie die Hand aus
Petra Landers ist Fußballpionierin. Sie spielte bei WMs, als diese noch
inoffiziell waren. Heute will sie Mädchen in Afrika den Sport beibringen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.