# taz.de -- Der Hausbesuch: „Das ist Mazel, ist Glück“ | |
> Siebzig Jahre Israel, siebzig Jahre Israeli – das Leben von Schlomo Kann | |
> ist wie ein Spiegel, in dem die Geschichte des zerrissenen Landes | |
> aufscheint. | |
Bild: Schlomo Kann zeigt Fotos seiner deutschen Vorfahren | |
RISHON LEZION taz | Am 14. Mai jährt sich die Staatsgründung Israels. 70 | |
Jahre wird das Land – so alt wie Schlomo Kann. Oft sagte sein Vater: „Du | |
bist das siebte in Israel geborene Kind.“ | |
Draußen: Die hell getünchten Hochhäuser von Rishon LeZion saugen Licht auf, | |
dazwischen liegen Einkaufszentren mit Franchise-Läden, überdimensionalen | |
Dinosaurierfiguren, Sicherheitskontrollen am Eingang. Dahinter ist das | |
Meer. In Israel wachsen Städte in die Höhe. In Rishon LeZion, die Erste in | |
Zion heißt das, unweit von Tel Aviv, wohnt Schlomo Kann mit seiner Frau | |
Anat im 19. Stock. | |
Drinnen: Die Wohnung wirkt wie eine Erste-Klasse-Lounge auf einem Flughafen | |
mit ihrer Weite, ihrer Luftigkeit, dem Ausblick auf die Skyline von Tel | |
Aviv – und der Erste-Klasse-Bewirtung. Anat, Schlomo Kanns Frau, hat | |
aufgetischt: Salat, Gemüse, Nudeln, Soße, Hummus, Thunfisch, Oliven, | |
Erdbeeren, Kuchen. Über dem Flachbildschirm im Wohnzimmer hängt ein großes | |
Bild des Sohnes. | |
Kein Deutscher sein: „Mein Vater war ein Deutscher, meine Mutter war eine | |
Deutsche, meine Großeltern waren Deutsche, aber ich hatte keinen deutschen | |
Pass“, sagt Schlomo Kann beim Essen. Sein Vater kam aus Wolfshagen in | |
Hessen, Alex Kann hieß er, hatte eine Schuhfabrik, „Schuhe und | |
Stiefellagen, Maass + Reparaturwerkstatt“, steht auf einem alten | |
Schuhlöffel aus Metall, den er aus einer Kiste holt, in der Fotos und | |
Erinnerungsstücke an seine verlorene Familie sind. | |
Das Eiserne Kreuz: In der Kiste liegen auch die Orden, die sein Großvater, | |
der Offizier im Ersten Weltkrieg war, erhalten hatte. „Wir sind Deutsche“, | |
habe er immer gesagt, „ich habe im Ersten Weltkrieg gekämpft.“ Er konnte | |
sich nicht vorstellen, dass das bei den Nazis nicht zählt. Ins Getto nach | |
Riga wurden er und seine Frau verschleppt. „Verschollen sind sie“, sagt | |
Schlomo, „verschollen, was soll das heißen?“, er hebt seine Arme gegen die | |
Decke der Wohnung, gegen die Luft, gegen den Himmel. | |
Die Flucht des Vaters: Ein Bruder des Großvaters war weniger optimistisch | |
und drängte, dass wenigstens der Sohn und die Tochter des Großvaters nach | |
Palästina, damals britisches Mandatsgebiet, auswandern. 1938 gelang die | |
Flucht. Noch nicht 16 war der Vater von Schlomo. Seine Schwester und er | |
gingen in ein Kibbuz und er bald darauf in die jüdische Brigade der | |
britischen Armee. Er war Deutscher und kämpfte gegen die Deutschen. | |
Nach dem Krieg: „Nach dem Zweiten Weltkrieg hat mein Vater seine Geschichte | |
gesucht“, sagt Schlomo. Auch weil er nicht sofort zurück konnte nach | |
Palästina, die Briten erlaubten es nicht, sie fürchteten, dass ihnen | |
ausgebildete Soldaten im Unabhängigkeitskampf gefährlich werden könnten. | |
Deshalb besuchte sein Vater nach dem Krieg auch Wolfshagen. In sein | |
Elternhaus ließen ihn die neuen Bewohner nicht, aber er bekam die Kiste mit | |
den Erinnerungsstücken. Sein Großvater hatte sie einem Nachbarn gegeben, | |
bevor er deportiert wurde. „Er wusste also, dass er nicht zurückkommt“, | |
meint Schlomo. „Was wird sein mit meiner Kiste“, soll Schlomos Vater immer | |
gesagt haben. Wenn es so etwas wie Familienwurzeln gibt, dann liegen sie | |
darin. „Wir waren 300 Jahre lang Deutsche.“ | |
Freude: Bald nachdem der Vater 1947 zurück in Palästina war, lernte er in | |
Tel Aviv seine Frau kennen, sie heirateten, wohnten in einem Zelt, feierten | |
im Mai 1948 die Gründung des Staates Israel und die Geburt des Sohnes. | |
Schon drei Monate nach der Geburt allerdings verließ die Mutter seinen | |
Vater und den Jungen. Sein Vater brachte ihn zur Schwester in den Kibbuz. | |
Mit weicher Stimme beteuert Schlomo, wie sehr er diese Tante liebte. „Sie | |
hatte selber drei Kinder.“ Er wohnt im Kinderhaus, wie alle Kinder. Sein | |
Vater kommt abends vorbei, zieht ihm den Schlafanzug an, bringt ihn ins | |
Bett. Es sei eine glückliche Kindheit gewesen. Als er in der zweiten Klasse | |
ist, holt ihn der Vater wieder zu sich. „Mein Vater hatte dann von den | |
Deutschen ein paar Piaster bekommen und hatte eine neue Frau.“ Als sich die | |
Eltern 1966 neuerlich trennen, die Stiefmutter nach Jerusalem zieht und | |
sein Vater nach Berlin, bleibt er in Tel Aviv. „Da waren alle meine | |
Freunde.“ | |
Kriege: Mit 18 geht Schlomo Kann, wie alle jungen Israelis, zur Armee und | |
kommt zu den Pionieren, leitet bald einen Spähtrupp, ist Minenräumer, wird | |
Offizier. Der 6-Tage-Krieg 1967 ist der erste Krieg, in dem er kämpft. 1968 | |
kommt die Suezkrise, „jeden Tag sind Soldaten gestorben“. Obwohl inzwischen | |
Offizier der Reserve, ist er auch 1973 im Jom-Kippur-Krieg und 1982 im | |
Libanon-Krieg. Der Jom-Kippur-Krieg ist ihm besonders in Erinnerung. Er war | |
in Berlin damals, als er vom Krieg erfuhr, Flugzeuge von Deutschland aus | |
flogen nicht mehr. „Aber meine Einheit brauchte mich“, er reiste über | |
Aachen nach London. „Ich fühlte mich wie ein Flüchtender.“ In London bekam | |
er einen Flug und zwei Tage später war er an der Front. Es war ein | |
schlimmer Krieg für ihn. „Ich habe viele Freunde verloren, wirklich gute | |
Freunde. Die besten.“ | |
Verstehen: Mit der Zeit habe er die jüdische Geschichte verstanden: „In | |
unserem Land muss man immer kämpfen. Wir leben mit den Arabern. Wir wollen | |
ihr Land; sie wollen unser Land. Wir sind stärker, aber die Araber | |
verstehen das nicht. Sie wollen uns zurückschicken ins Meer.“ Er arbeitet | |
auch heute noch beim Militär als Programmierer für Radaranlagen. | |
Das Glück: 1976 war es, er sieht Anat. „Liebe auf den ersten Blick“, sagt | |
er. Er sei aber erst einmal für ein paar Monate nach Berlin. Als er zurück | |
in Israel ist, war Anat, die Hebamme ist, beim Militär eine Sanitäreinheit | |
leitet, nicht mehr da, versetzt worden, sie hatte geglaubt, er habe keine | |
Interesse an ihr. Schlomo findet sie. „Zu kriegen eine nette Frau, eine | |
kluge Frau, eine schöne Frau, das ist Mazel, ist Glück“, sagt er. 1977 | |
wurde die Tochter geboren, 1980 der Sohn. | |
Unglück: Der Sohn war 20 Jahre alt, als er einen Wasserfall herunter | |
sprang, dabei das Gleichgewicht verlor und abstürzte, weil ein zweiter | |
Springer, vom Wind abgetrieben, ihn touchiert hatte. Der Sohn brach sich | |
das Genick. Schlomo kommen die Tränen, als er von ihm spricht. Der Sohn | |
starb während seines Militärdienstes. Er gilt als Gefallener. Deshalb | |
bekommen die Eltern die Unterstützung der Armee, deshalb kann Schlomo bis | |
heute arbeiten. Arbeiten, um mit der Gegenwart klar zu kommen. „Ich habe | |
verloren meinen Sohn, das ist das Schwerste. 38 Jahre wäre er jetzt.“ | |
Die Zwiesprache: Jedes Jahr am Unabhängigkeitstag geht Schlomo auf den | |
Friedhof. Früher zu den gefallenen Freunden. „Und jetzt zu meinem Sohn.“ Er | |
erzählt ihm, wie es geht, was sie tun, dass sie gerade in Tansania waren | |
mit den zwei Enkelinnen, dort Löwen gesehen haben, Gnus. „Aber du sprichst | |
zu einem Stein.“ Der Sohn war Hundeführer beim Militär. Sein Hund hieß | |
Grizzly – wie heute der Hund der Enkelinnen. | |
Das Leben: „Das Leben geht weiter“, sagt er. „Die kleinen Leute leben nic… | |
die Politik, sie leben das Leben. Sie haben Kinder, Enkelkinder. Ich fahre | |
jede Woche 100 Kilometer mit dem Rad.“ Er muss sich bewegen, seit dem | |
Herzinfarkt. „Das Leben ist kompliziert. Wir dachten immer, die nächste | |
Generation wird nicht kämpfen. Aber leider, das wird nicht sein.“ | |
22 Apr 2018 | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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