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# taz.de -- Der Hausbesuch: Er ist Marx, aber kein Marxist
> Michael Thielen war schon vieles im Leben: Lehrer, Maler, Musiker,
> Journalist. Jetzt ist er Karl Marx. Aber nur, wenn er Lust dazu hat.
Bild: „Musik und Marxismus haben mich gerettet“, sagt Michael Thielen aus T…
Zu Besuch bei Michael Thielen in Trier-Süd. Dank seiner Ähnlichkeit mit
Karl Marx ist der 67-Jährige dessen offizieller Darsteller geworden.
Thielen mag es nicht, als „Double“ bezeichnet zu werden, denn er vertrete
auch Marx’ Ideen. Marx ist aber nur eine von Thiels Facetten: Er schreibt
und fotografiert für die lokale Zeitung, komponiert, nimmt Musik auf und
fühlt sich in der alternativen Theaterszene zu Hause. „Ich mache nur das,
was mir Spaß macht, solange es mir Spaß macht“, sagt Thielen.
Draußen: Spielstraße ohne Bäume, dafür klettern grüne Weinstöcke die
Fassaden hinauf. Unweit die Bundesstraße, die Mosel, Gebäude aus dem 19.
Jahrhundert. Bunt, aber blass reihen sich die Arbeiterhäuser. Im
Hintergrund: Weinberge, die Türme der Basilika St. Matthias – in der das
Grab dieses Apostels zu finden ist und Bischöfe und Römer geehrt werden.
Das sei nicht sein Ding, sagt Michael Thielen. Aber sein Viertel ist ruhig
und mittendrin, ideal für ihn. In 15 Minuten ist er zu Fuß im Stadtzentrum.
Dort könne er bei der neuen Karl-Marx-Statue „gucken, was passiert“.
Drinnen: „Meine kleine, chaotische Höhle“, sagt Michael Thielen. Er geht
vier Stufen herunter und betrachtet sein Wohn- und Arbeitszimmer voller
Bücher und Papiere („Sie müssen Lehrer sein“, sagte ihm ein Nachbar, „s…
hat niemand hier so viele Bücher“), selbst gemalter Bilder, Souvenirs und
mit Namen und Datum beschriftete Geschenke: eine pummelige Ballerina, einen
Zwerg, einen Weihnachtsstiefel (im Winter werde er oft für den
Weihnachtsmann gehalten). Auch DVDs, CDs, Schallplatten, Kassetten und
seine Instrumente – Gitarre, Bass, Keyboard. „Ohne Musik kann ich nicht
leben“, sagt Thielen. Die Figur von Karl Marx ist omnipräsent: Magnet,
Tasse, Büste, Plakate, eine Sparbüchse, auf der „Das Kapital“ steht.
Schüttelt man sie, klingelt eine einsame Münze und bringt Thielen zum
Lachen.
Der Maler: „Haben Sie das schon mal irgendwo gesehen?“, fragt Michael
Thielen und zeigt ein altes Foto, auf dem vier Menschen auf einer Bank
sitzen. Drei davon sind älter, die jüngere Frau trägt Klamotten aus den
achtziger Jahren, auf dem Bild scheint es Sommer zu sein. Thielen zeigt auf
eine Wand, an der das Bild als Gemälde hängt. „Was fällt Ihnen auf?“, fr…
er. „Das Bild heißt Balance.“ Die Bank ließ der Maler verschwinden: Seine
Eltern, seine Ex-Frau und ihre Mutter sitzen auf Luft und schauen in
verschiedenen Richtungen, „ins Nirgendwo“. Es amüsiert ihn, das Spiel mit
neuen BesucherInnen immer wieder zu spielen und seine Bilder, die überall
hängen, zu erklären.
Für ein Aktporträt wurden ihm einmal „Tausende Euros“ angeboten, er habe
abgelehnt. Seine Jahre als Maler seien sowieso längst vorbei, sagt er und
zitiert Bob Dylan: „Alles, was ich machen kann, ist, ich selbst zu sein,
wer immer das sein mag.“ Kein Vergleich, meint Thielen, „aber ich kann den
Kerl nachvollziehen“.
Der Mensch: „Ich habe entschieden, dass meine Biografie in Trier anfängt“,
sagt Thielen. Deshalb antwortet er, wenn ihn jemand nach seiner Herkunft
fragt: „Aus Trier“. Über die ersten 16 Jahre seines Lebens, die er in der
Eifel verbrachte, will er nichts im Detail erzählen. Es waren harte Zeiten:
kleines Dorf, strenge religiöse Erziehung, strenger Vater, Unterdrückung.
Als sein Vater als Schulleiter nach Trier versetzt wurde, fand er einen
Ausweg. „Hier sind wir alle aufgelebt“, sagt er. Er war 17 und Student, als
er sich das erste Mal mit Karl Marx beschäftigte. „Musik und Marxismus
haben mich gerettet“, sagt Michael Thielen. Dass er Jahre später als
Marx-Darsteller anerkannt und sogar von seiner Wahlstadt engagiert werden
würde, das konnte er sich damals nicht vorstellen.
Der Neuanfänger: Seit sieben Jahren ist Michael Thielen pensioniert und tut
nur noch das, was ihm Freude bereitet. „Was für ein tolles Leben“, sagen
ihm viele. „Ja, das ist ein tolles Leben“, sagt Thielen. „Ich bin ein alt…
Sack und habe dafür schwer geschuftet.“ 25 Jahre war er als Englisch- und
Deutschlehrer in London, Bad Hersfeld und Saarbrücken tätig. Als er auf die
Arbeit „keinen Bock“ mehr hatte, überlegte er sich eine Liste der Städte,
in denen er sich vorstellen konnte, seine letzten Jahre zu verbringen.
Trier gewann. „Hier habe ich die schönsten Erinnerungen. Trier erwies sich
als ideal, um den Kreis zu schließen“, sagt er. „Pack und zack“, von ein…
Tag auf den anderen zog Thielen vor drei Jahren dahin.
Die Intuition war richtig, sofort habe in seiner „neuen alten Heimat“ alles
geklappt. Er fand die Wohnung in der Albanastraße, kam schnell in Kontakt
mit der alternativen Kulturszene der Stadt und entdeckte eine neue Facette
an sich als Autor. Einer seiner zwei Söhne empfahl ihm, der lokalen Zeitung
seine Fotos anzubieten. Die Redaktion stimmte zu, unter der Bedingung, dass
er auch Artikel schreibt. Seinen letzten Artikel klebt Thielen immer mit
Tesa-Film an die Bücherregale, um das, was er geschafft hat, vor Augen zu
haben. Als autodidaktischer Mensch findet er es in Ordnung, „ein bisschen
stolz auf sich zu sein“.
Der Karl: Seit einiger Zeit hängen bei Michael Thielen auch Artikel, die
ihn selbst zum Protagonisten haben. Auf ihnen steht: „Das Karl-Marx-Double
aus Trier“, oder: „Karl Marx lebt!“ In der Ähnlichkeit zwischen Thielen …
Marx habe ein guter Freund Potenzial gesehen. So fingen die beiden an,
Stadtführungen zu organisieren, die die Biografie von Marx zum Schwerpunkt
hatten. Im Karl-Marx-Haus in der Brückenstraße ging es los.
Während sein Freund draußen mit der Einführung anfing, lief Thielen im
Museum herum wie ein Schauspieler, der gleich auf die Bühne tritt.
„Manchmal begegnete ich Touristen, die zusammenzuckten, als wäre ich
wirklich ein Geist.“ Dann erklärte der Freund: „Karl Marx ist heute da, um
uns alles zu erzählen“, und Thielen kam heraus. Die TeilnehmerInnen freuten
sich und jubelten wie Kinder. Die Führung endete mit Marx’ Lieblingsmotto,
Thielen sucht es aus seinem Notizblock heraus: „De omnibus dubitandum“ –
„An allem ist zu zweifeln“.
Der Versteher:Seitdem Thielens Freund nicht mehr da ist, gibt es keine
Führungen mehr. Auf der Straße zieht er aber immer noch alle Blicke auf
sich. „Guck mal, ist das nicht …?“ oder „Karl lebt!“, sagen die Passa…
und kichern. Wenn Thielen spazieren geht, gehören Selfies mit Fremden zum
Programm. „Wie würde dieser paradiesische Endzustand, den du schaffen
wolltest, in der Realität aussehen?“, würde er den echten Philosophen
fragen, wenn er ihn träfe. Denn Thielen ist überzeugt davon, dass Marx
nicht einverstanden wäre mit dem, was die Menschen in seinem Namen
anstellen. „Alles, was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin“, zitiert
Thielen aus einem späten Brief von Marx. Mit seiner Persönlichkeit könne er
sich gut identifizieren. „Er war ein guter Vater, ein kluger Mensch und
wollte die Welt retten.“ Das habe er auch, auf seine Art, als Lehrer
versucht.
Der Lebensphilosoph: Dass die Zeit mit dem Alter immer knapper wird, mache
ihm Sorgen und gebe ihm zugleich Kraft. „Wann, wenn nicht jetzt?“, fragt
sich Thielen immer, wenn er eine neue Aktivität anfängt. „Mit dem Geld, das
ich verdiene, komme ich klar. Aber die Zeit ist unbezahlbar, und das merkt
man als junger Mensch nicht.“
Thielen wünscht sich, dass die Zeit reicht, um vieles von dem zu
unternehmen, was er möchte. Zum Beispiel mit seinen Kindern wieder mit dem
Wohnwagen auf Tour zu fahren, weiter Musik zu spielen, weiter als Karl Marx
aufzutreten. Doch diese Rolle nehme er nicht so ernst. Fünf Minuten reichen
ihm, um sich zu verwandeln. „Die Hauptsache ist schon da“, sagt Michael
Thielen und zeigt auf seine buschigen weißen Haare. Und wenn er Lust auf
etwas Neues bekommt? „Dann rasiere ich alles ab – und fertig“, sagt er.
6 May 2018
## AUTOREN
Luciana Ferrando
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