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# taz.de -- Opfer und Täter sexueller Belästigung: Ende des Schweigens
> In den USA scheinen zwei prominente Vorkämpfer gegen sexuelle Übergriffe
> nicht nur Ankläger und Opfer, sondern auch selbst Täter zu sein.
Bild: Auch in Südkorea schließen sich Frauen im Rahmen der Metoo-Bewegung zus…
Es ist keinen Monat her, dass Eric Schneiderman dem [1][New Yorker] und der
[2][New York Times ] zum Pulitzer-Preis gratulierte: Ohne ihre Recherchen
zu sexuellen Übergriffen wäre jetzt keine landesweite Abrechnung im Gange.
Vor einer Woche erschien dann im New Yorker ein Artikel über Schneiderman
selbst – wenige Stunden später [3][trat er als New Yorker
Generalstaatsanwalt zurück]. Vier Frauen werfen ihm vor, sie misshandelt zu
haben.
Die #MeToo-Bewegung hat es geschafft, dass die vermeintlich progressive
Politik oder Kunst eines Manns nicht mehr dafür herhalten können, dass
seine sexistischen Übergriffe unter den Teppich gekehrt werden. Das ist ein
Fortschritt. #MeToo kann die Komplexität aushalten, dass jemand Vorkämpfer
gegen sexistische Gewalt und gleichzeitig Täter sein kann. Mehr noch: Die
Debatte kann auch damit umgehen, dass ein Mann gleichzeitig Täter und Opfer
sexualisierter Gewalt sein kann – [4][wie ein weiterer aktueller Fall
zeigt, der des Schriftstellers Junot Díaz]. Und vielleicht stellt sie
endlich ein effektives Mittel dar, sexistische Gewalt einzudämmen.
Zunächst zu Schneiderman: Der prominente demokratische Politiker und
Trump-Kritiker war seit 2011 Attorney General von New York, also der
Generalstaatsanwalt und Justizminister des US-Bundesstaates. Schneiderman
hat sich für die #MeToo-Bewegung eingesetzt und gegen Gewalt gegen Frauen,
so hat er im Februar 2018 gegen Harvey Weinstein ein Verfahren eingeleitet.
Offenbar hat Schneiderman aber auch selbst die Gewalt angewendet, gegen
die er beruflich vorgegangen ist: Exfreundinnen berichten von Schlägen,
Würgen, Drohungen und emotionalem Missbrauch. [5][Er bestreitet die
Anschuldigungen] und spricht von einvernehmlichen Rollenspielen. Die
Betroffenen sehen das ganz anders: Sie sprechen von unvermittelter Gewalt,
sowohl beim Sex als auch in allen möglichen anderen Situationen.
Sie sprechen auch über ihre Scham darüber, zu lange in der Beziehung
geblieben zu sein und danach geschwiegen zu haben. Sie berichten von
Drohungen, die Schneiderman ausgesprochen habe, und fürchteten um ihren
Ruf, ihre Karriere und auch ihr Leben. Eine der Betroffenen habe sich
FreundInnen anvertraut, die ihr rieten, die Geschichte für sich zu behalten
– Schneiderman sei für die Demokraten ein zu wertvoller Politiker.
## Solidarität geht vor
Trotz alldem sind vier Frauen an die Öffentlichkeit getreten, Michelle
Manning Barish und Tanya Selvaratnam mit ihren Namen, zwei weitere anonym.
Weil sie es unsolidarisch fanden, ihr „Me too“ zu verschweigen. Weil sie
durch die Recherche voneinander erfahren hatten und weitere Frauen schützen
wollten. Vor allem aber fanden sie Schneidermans Verlogenheit unerträglich.
[6][Er behauptet,] die Anschuldigungen haben mit seinem beruflichen
Verhalten nichts zu tun. Gewissermaßen stimmt das: Er war offensichtlich in
der Lage, gleichzeitig in seinen Beziehungen Gewalt auszuüben und sie
beruflich zu bekämpfen.
Wie passt das zusammen? Der Mann hat eine [7][Broschüre] herausgegeben,
damit die Opfer von sogenannter häuslicher Gewalt ihre Rechte kennen.
Gleichzeitig schüchtert er seine Freundin mit dem Hinweis ein, er sei das
Gesetz. Wer weiß – vielleicht versuchte er bei anderen zu bekämpfen, was er
bei sich selbst nicht im Griff hatte.
Es hat viele schockiert, dass ein vermeintlicher Kämpfer für Frauenrechte
Frauen so terrorisiert hat. FeministInnen versuchen schon ewig darauf
aufmerksam zu machen: Die Männer, die gewalttätig werden, das sind nicht
die „Anderen“. Das sind Menschen, die sich selbst für progressiv, nett und
sogar feministisch halten, denen niemand das zugetraut hätte.
Die #MeToo-Bewegung und ihre Recherchen haben einen Raum geschaffen, in dem
Vorwürfe gegen Männer wie Schneiderman öffentlich gemacht werden können und
geglaubt werden. Übergriffige werden nicht mehr so leicht geschützt, indem
sie oder ihr Umfeld sich auf ihre vorgeblich progressive Politik,
künstlerischen Erfolg oder ihren Status als Aushängeschild einer
marginalisierten Gruppe berufen.
## Kein Nebenwiderspruch mehr
Darüber hinaus ist es #MeToo gelungen, diese Männer zur Verantwortung zu
ziehen, ohne dass es einen großen Backlash gegen die Politik gäbe, für die
sie stehen. Die Zeiten scheinen endlich vorbei zu sein, in denen der Kampf
gegen Sexismus als vermeintlicher Nebenwiderspruch einem anderen
gemeinsamen Ziel geopfert wird.
So könnte es gerade ihre Scheinheiligkeit gewesen zu sein, die dazu
motiviert hat, Übergriffe zu outen: Wie bei Schneiderman war das offenbar
auch der Fall beim gefeierten Autor und Pulitzer-Preisträger Junot Díaz.
Dieser hat sich vor Kurzem als Opfer sexualisierter Gewalt in die
#MeToo-Debatte eingeschrieben: In einem eindrücklichen Essay im [8][New
Yorker ] berichtet er, wie er als Kind vergewaltigt worden ist und wie das
sein Leben zerstört hat. Es ist sehr selten, dass Männer es wagen, das Tabu
zu brechen, über die ihnen widerfahrene sexualisierte Gewalt zu sprechen.
Junot Díaz gibt einen intimen Einblick in das, was „toxische Männlichkeit“
genannt wird: niemals die erfahrene Gewalt zuzugeben, sich verletzlich zu
zeigen oder gar sich helfen zu lassen – und die Wut gegen sich selbst und
andere, vermeintlich Schwächere, zu richten. Über die Verletzungen, die er
anderen zugefügt habe – außer seine Freundinnen betrogen zu haben –, blei…
er vage.
Nun haben sich mehrere Schriftstellerinnen mit Vorwürfen gegen Díaz
[9][geäußert]. Eine schreibt, er habe sie gewaltsam in eine Ecke gedrängt
und geküsst, andere berichten von verstörender verbaler Aggression. Anders
als bei Schneiderman scheinen die Vorwürfe gegen Díaz eher übergriffiges
und sexistisches Arschloch-Verhalten zu sein, nicht unbedingt strafbare
Gewalt. Und er geht anders mit ihnen um: [10][Er sei in Therapie] und
übernehme Verantwortung für seine Vergangenheit. Deshalb habe er von seiner
Vergewaltigung gesprochen, jetzt höre er Frauen zu und lerne. Das ist schön
und hoffentlich wahr. Besser wäre es gewesen, wenn er seine Übergriffe
nicht verschwiegen hätte. Es gibt Spekulationen darüber, ob Díaz mit dem
Essay den Vorwürfen zuvorkommen wollte. Was er wirklich bei wem angerichtet
hat, ob er es jetzt besser macht und ob er tatsächlich versucht, Dinge
wieder gut zu machen – das muss er noch beweisen.
## Verantwortung und Mitgefühl
Diese beiden Fälle zeigen, wie vertrackt patriarchale Gewalt auch für
Männer ist. Sie können Vorkämpfer gegen Gewalt, können Opfer und Täter in
einer Person sein. Es sieht zum Glück so aus, als sei die Debatte in der
Lage, die Komplexität auszuhalten: Wir können sowohl Empathie für jemanden
wie Díaz spüren und ihn auch zur Verantwortung ziehen. Beides gleichzeitig
zu tun, so schreibt Chitra Ramaswamy im [11][Guardian,] sei der beste Weg,
um aus dem Kreislauf der Gewalt auszubrechen. Ähnliches schreibt die
Autorin Aya de Leon auf ihrem [12][Blog]: Die männliche Vorherrschaft muss
beendet werden, damit auch sexualisierte Gewalt aufhören kann. Um das zu
erreichen, müssen sich Männer mit ihrem Mitgefühl verbinden und für den
Schaden, den sie angerichtet haben, Verantwortung übernehmen. Wir brauchen
dafür „restorative justice“, schreibt sie, Verfahren für wiedergutmachende
Gerechtigkeit.
Auf dem Weg dorthin zeigt die #MeToo-Debatte vielleicht jetzt schon eine
Alternative zum strafrechtlichen Umgang mit sexualisierter Gewalt auf.
Dieser war bisher die Norm und schädigt die Betroffenen oft zusätzlich: Es
wird ihnen nicht geglaubt, die Verfahren meist eingestellt, weitere Taten
nicht verhindert. Die JournalistInnen hingegen waren in der Lage, mit
sorgfältigen Recherchen die Berichte der Betroffenen auf ihre
Glaubwürdigkeit zu überprüfen. Jetzt kämpft und verliert nicht mehr Jede(r)
isoliert vor Gericht – wenn überhaupt. Jetzt kämpfen im Zuge der Recherchen
mehrere Betroffene gemeinsam und können gleichzeitig unabhängig voneinander
die Vorwürfe bekräftigen.
So hat diese Form der Auseinandersetzung mit Übergriffen zu echten
Konsequenzen geführt – wenigstens bei etlichen prominenten Männern. Das
Ergebnis war, dass die Vorfälle bekannt wurden, die mutmaßlichen Täter mit
ihren Jobs auch einen guten Teil ihrer Machtposition verloren haben und so
wahrscheinlich weitere Übergriffe verhindert werden können. Menschen, die
Übergriffe begehen, können sich nicht mehr auf das Schweigen verlassen. Und
das wird hoffentlich nach und nach auch auf den Umgang mit sexualisierter
Gewalt bei nichtberühmten Menschen ausstrahlen.
13 May 2018
## LINKS
[1] https://www.nytimes.com/2018/05/08/nyregion/eric-schneiderman-womens-rights…
[2] https://www.newyorker.com/news/news-desk/four-women-accuse-new-yorks-attorn…
[3] /Vorwuerfe-gegen-Metoo-Unterstuetzer/!5504472
[4] /Belaestigungsvorwuerfe-gegen-Junot-Diaz/!5505081
[5] https://www.nytimes.com/2018/05/07/nyregion/new-york-attorney-general-eric-…
[6] https://ag.ny.gov/press-release/statement-attorney-general-eric-t-schneider…
[7] https://ag.ny.gov/press-release/ag-schneiderman-issues-know-your-rights-bro…
[8] https://www.newyorker.com/magazine/2018/04/16/the-silence-the-legacy-of-chi…
[9] https://www.thecut.com/2018/05/author-junot-diaz-accused-of-sexual-miscondu…
[10] https://www.nytimes.com/2018/05/04/books/junot-diaz-accusations.html
[11] https://www.theguardian.com/lifeandstyle/2018/may/07/junot-diaz-empathisin…
[12] https://ayadeleon.wordpress.com/2018/05/05/reconciling-rage-and-compassion…
## AUTOREN
Anna Böcker
## TAGS
Schwerpunkt #metoo
sexuelle Belästigung
Solidarität
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