Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Mit Dschihadisten verhandeln?
> In Asien und Afrika werden muslimische Terroristen als Kämpfer ernst
> genommen. Experten raten dazu, mit ihnen zu reden, statt sie umzubringen.
Bild: Dschihadisten zu jagen ist nicht immer das beste Mittel
Neutralisieren, unschädlich machen. Für das Töten muslimischer Terroristen
werden Worte verwandt, die aus der Insektenvernichtung stammen. Es scheint
sich um Täter jenseits aller gemeinhin geltenden Maßstäbe zu handeln, bei
deren Bekämpfung folglich das Völkerrecht keine Anwendung zu finden
braucht.
Der War on Terror, psychologisch und rechtlich derart entgrenzt geführt,
ist auf den meisten Schauplätzen militärisch gescheitert. Damit verliert
auch die westliche Definition vom totalen Feind an Deutungsmacht.
Dschihadisten – oft religiös mehr drapiert als motiviert – sind aus Sicht
der Bevölkerungen in Afrika und Asien oft keine blindwütigen Fanatiker,
sondern Kämpfer mit Zielen und Interessen. Und wo es die gibt, öffnet sich
ein Fenster: um den Dialog zu suchen, womöglich zu verhandeln.
Die afghanische Regierung hat den Taliban jüngst ein [1][weitreichendes
Gesprächsangebot gemacht]: Anerkennung als politische Partei, Freilassung
von Gefangenen. Nach 17 Jahren Krieg lebt heute ein Drittel der Afghanen
erneut unter der Herrschaft der Taliban, und es gilt als folgenreicher
Fehler, sie 2001/02 von den Petersberger Verhandlungen über die Zukunft des
Landes ferngehalten zu haben.
In den Sahelstaaten setzen Brüssel, Paris und Washington weiterhin allein
auf die militärische Option. Als Frankreich 2013 in Mali intervenierte,
schien der Vergleich mit Afghanistan („Sahelistan“) noch abwegig, doch nach
fünf Jahren internationaler Interventionen ist Mali von einem komplexen
Muster der Gewalt gezeichnet. [2][Kaum ein Tag vergeht ohne Anschläge],
meist zielen sie auf die ausländischen Truppen (12.000 Blauhelm-Soldaten,
davon 1.000 deutsche sowie 1.000 französische Spezialkräfte).
## Respekt trotz Verbrechen
Der dortige Friedensprozess schließt nur nichtislamistische Milizen ein,
insbesondere die Tuareg-Rebellen, einst Auslöser der Krise. Gegenüber ihren
zeitweiligen dschihadistischen Verbündeten gilt die Linie: nicht reden,
sondern liquidieren. Für Mali war dies immer eine fremdbestimmte
Unterscheidung zwischen Feind und Partner. Viele sehen in den
Tuareg-Separatisten das größere Übel: Immerhin hatten sie in Nordmali so
viel Unheil angerichtet, dass die nachfolgenden religiösen Besatzer
zunächst als Ordnungsmacht begrüßt wurden.
Ab 2014 warben dann einzelne malische Prominente für einen Dialog mit den
Dschihadisten. Die Forderung gewann in jenem Maß an Rückhalt, wie die
militärische Bekämpfung des Dschihadismus misslang. Außerdem ist dessen
Gesicht heute eindeutiger einheimisch als in früheren Jahren; an der
westlichen Liquidierungsstrategie nahm die malische Öffentlichkeit weniger
Anstoß, solange es sich bei den Getöteten eher um Ausländer handelte.
Nun stechen zwei wohlbekannte Akteure heraus: in Zentralmali der Prediger
Amadou Koufa, im Norden der Tuareg-Führer Iyad Ag Ghali – Letzterer die
personifizierte fließende Grenze zwischen Rebellion, Terror, Drogenhandel
und al-Qaida im Maghreb. Beide Anführer signalisierten verhaltene
Dialogbereitschaft. Und für beide empfinden zahlreiche Malier trotz aller
Verbrechen einen gewissen Respekt. „Wir können diese Leute nicht in den
Fluss werfen. Wir brauchen eine politische Lösung“, sagt der Politiker
Tiébilé Dramé.
Als im vergangenen Jahr die 900 Teilnehmer einer „Konferenz zur Nationalen
Verständigung“ ebenfalls einen Dialogversuch forderten, ließ
Staatspräsident Ibrahim Boubacar Keïta seinen Versöhnungsminister
verkünden: „Mali ist bereit, mit all seinen Söhnen zu verhandeln.“ Wenige
Tage später widerrief er unter französischem Druck. Der damalige
Außenminister Jean-Marc Ayrault befand bei einem Mali-Besuch kategorisch,
es gebe im Kampf gegen den Terrorismus „nur einen Weg, nicht zwei“, und der
malische Präsident versprach Gehorsam.
„Es war schockierend zu sehen, wie begrenzt unser Handlungsspielraum ist“,
sagt die Oppositionelle und Exaußenministerin Sy Kadiatou Sow. „Mali
steht faktisch unter Vormundschaft. Aber wir müssen den Mut haben, zu
debattieren, was gut ist für uns selbst, für unser Land.“ Die Politikerin
ist als Verfechterin von Frauenrechten bekannt; niemand unterstellt ihr
Sympathie für einen radikalisierten Islam.
## Die Bevölkerung reagiert zufrieden
Auch die nordirische IRA und Palästinas PLO galten früher als
Ultraterroristen, mit denen Gespräche niemals möglich sein würden. Das
Ausmaß begangener Verbrechen sei kein Kriterium, schreibt Jonathan Powell
in seinem Buch „Terrorists at the Table“. Der einstige Stabschef von Tony
Blair, ein Experte in internationaler Konfliktmediation, schlug bereits vor
zehn Jahren Gespräche mit al-Qaida vor.
Dennoch hält sich die Vorstellung, mit Dschihadisten könne schon deshalb
nicht rational verkehrt werden, weil es sich um religiöse Fanatiker mit
wirren Kalifatsfantasien handele, ohne Bezug zum sozialen Geschehen vor
Ort. Für Afrika trifft das kaum zu. Leonhard Harding, emeritierter
Professor für afrikanische Geschichte an der Universität Hamburg, schreibt
über die Sahel-Dschihadisten: „Ein gemeinsames Konzept zur Schaffung eines
islamischen Staats oder die Ausrufung eines neuen Kalifats ist nirgendwo in
Sicht.“ Die Kämpfer seien primär an lokalen Veränderungen interessiert und
wollten die Bevölkerung gewinnen. Über Boko Haram sagt der französische
Politologe Jean-François Bayart, es handele sich um [3][„den religiösen
Ausdruck eines sozialen Phänomens“].
Bereits im Westafrika des 18. und 19. Jahrhunderts kämpften sogenannte
Dschihadisten mit religiösen Losungen gegen ungerechte Herrscher. Ähnlich
präsentiert sich der heutige Dschihadismus in Zentralmali als Antwort auf
staatliche Willkür und soziales Unrecht. Die Region wird von einer Bewegung
erschüttert, in der sich Terror mit sozialer Revolte verbindet. Diese
rekrutiert sich oftmals aus jungen Fulbe-Hirten; sie vertreiben die
Repräsentanten eines Staats, den sie nur als Unterdrücker kennen, richten
Steuereintreiber und Bürgermeister hin. Als ein Richter auf offener Straße
entführt wurde, habe die örtliche Bevölkerung „zufrieden“ reagiert,
berichtet ein Regisseur aus der Region. „Wenn derartiges passiert, höre ich
jedes Mal: ‚Das geschieht den Beamten recht!‘ “
In dieser Atmosphäre sucht nun der Vorsitzende des Hohen Islamischen Rats
von Mali Pfade zum Dialog. Mahmoud Dicko, ein politisch agiler und religiös
gemäßigter Wahhabit, hat dafür zunächst die Koranschulleiter und
traditionellen Autoritäten der Region zu mehreren großen Versammlungen
geladen; 800 folgten dem Ruf. Sie haben dort, wo kein Staat mehr existiert,
den größten Einfluss und sollen für Dicko Kontakte zum Kern der
Dschihadisten herstellen. „Ich will Wege zum Dialog öffnen, indem ich
frage, was wir für die Region tun können.“ Womöglich könne jenseits der
staatlichen Justiz, unter deren Korruptheit besonders die Ärmsten leiden,
die Einsetzung von traditionellen islamischen Richtern (Kadis) befriedend
wirken.
## Andere schicken Killerdrohnen
„Wir müssen die Bevölkerung dazu bringen, aus dem Sog der Gewalt
herauszukommen“, sagt Dicko. „Aber wo ist die rote Linie, über die eine
Republik nicht hinausgehen darf? Das muss das Land, das Volk entscheiden.“
Ein offizielles Mandat für seine Bemühungen hat er nicht.
Ein malischer General a. D., dem Westen freundlich zugetan, mit schönen
Erinnerungen an einen Lehrgang der Hamburger Führungsakademie der
Bundeswehr, beschreibt ein mögliches Szenario nach einem Abzug
ausländischer Truppen so: „Dann würden wir mit den Dschihadisten
verhandeln, und wenn sie islamisches Recht einführen wollen, werden wir
sehen, was genau das sein soll. Vielleicht ist es ja nicht schlecht. Die
Dschihadisten wollen eine saubere Gerichtsbarkeit und haben in manchen
Fragen recht.“
Ob und wie verhandelt werden kann, muss auf jedem Schauplatz gesondert
bestimmt werden. Und niemand vermag vorherzusagen, wie groß die Chance auf
Erfolg ist. Es aber zumindest zu versuchen, dazu ermuntern zahlreiche
Experten.
„Man kann nicht alle Dschihadisten töten. Es gibt auch in Mali keine
Alternative zu Verhandlungen“, sagt die Leiterin des Berliner Zentrums für
internationale Friedenseinsätze, Almut Wieland-Karimi. Dass dies
zuallererst eine Entscheidung der Malier sei, meint nun immerhin auch das
Auswärtige Amt.
Zwölf Forscher aus Mali, Senegal, den USA und Frankreich warnten jüngst die
französische Regierung, sie drohe mit ihrer Blockade von Dialogversuchen
[4][„auf der falschen Seite der Geschichte“ zu stehen]. Das militärische
Vorgehen sei einem politischen Ziel unterzuordnen, über das die
Gesellschaften des Sahel bestimmen müssten.
Bei der Bekämpfung des Terrors nationale Souveränität wiederzuerlangen,
danach rufen nun auch Intellektuelle der Region, etwa Moussa Tchangari, der
im nigrischen Niamey die „Alternative Espaces Citoyens“ leitet. In Mali,
Niger und Nigeria seien Verhandlungen mit Dschihadisten immer dann zulässig
gewesen, wenn sie der Freilassung westlicher Geiseln dienten. Dies zeige,
wie sehr „die Entscheidung über Dialog oder Krieg von den Interessen der
großen Mächte des Westens dominiert“ sei. In der Tat: Frankreichs
Außenminister Jean-Yves Le Drian antwortete in einer derartigen Situation
einmal auf die Frage, ob der berüchtigte Iyad Ag Ghali ein Terrorist sei,
ganz behutsam: „Es liegt an ihm selbst zu sagen, als was er sich
betrachtet.“
Für die Forderung ihrer Bürger nach mehr nationaler Eigenständigkeit sind
die Regierenden in Mali wie in Niger bisher schlechte Bündnispartner: weil
ausländische Militärpräsenz ihre Macht stärkt und aufgeblähte
Verteidigungsbudgets Einnahmen aus Korruption sichern. Der bitterarme Niger
gibt 15 Prozent seines Haushalts für Militärisches aus – und erlaubt nun
den USA, von einer neuen Basis aus erstmals Killerdrohnen in die Sahara zu
schicken.
12 Apr 2018
## LINKS
[1] /Friedensplan-in-Afghanistan/!5485693
[2] https://www.boell.de/de/2018/01/31/viel-militaer-weniger-sicherheit
[3] http://www.jeuneafrique.com/543396/politique/terrorisme-jean-francois-bayar…
[4] http://www.lemonde.fr/afrique/article/2018/02/21/la-france-doit-rompre-avec…
## AUTOREN
Charlotte Wiedemann
## TAGS
Lesestück Meinung und Analyse
Tuareg
Mali
Dschihadisten
Islamismus
Schwerpunkt Islamistischer Terror
Mali
Nigeria
Asylpolitik
Nigeria
Schwerpunkt Afghanistan
Sahel
## ARTIKEL ZUM THEMA
Massaker in Mali: IS strahlt nach Westafrika aus
Eine Serie ethnischer Massaker verschärft Malis Krise. Mitverantwortlich:
Eine Untergruppe des „Islamischen Staates“, die neuerdings aktiv ist
Terroranschläge in Nigeria: Bis zu 60 Tote
In der Stadt Mubi gab es zwei Selbstmordanschläge mit vielen Toten. Alles
spricht dafür, dass die Terrorgruppe Boko Haram dahintersteckt.
Kommentar Abschiebung von Afghanen: Im Kreis der Intransparenz
Deutschte Behörden schieben „Mitwirkungsverweigerer“ an den Hindukusch ab.
Nicht nur der Begriff ist strittig, auch die Lage vor Ort.
Angriffe und Entführungen in Westafrika: Terroristen ohne Grenzen
In Nigeria entführen sie Schulmädchen. In Burkina Faso schlagen sie in der
Hauptstadt zu. Westafrikas Islamisten organisieren sich neu.
Einsatz der Bundeswehr: Mehr Soldaten nach Afghanistan
Ein Einsatz ohne Ende? Eigentlich sollte die Bundeswehr schon raus sein aus
Afghanistan. Nun soll die Truppe dort kräftig aufgestockt werden.
Gebertreffen für Einsatztruppe „G5-Sahel“: Viel Geld gegen den Terror
Die EU-Kommission finanziert eine gemeinsame Antiterrorgruppe für die
Sahelregion. Auch die Enwicklungshilfe soll gefördert werden.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.