| # taz.de -- Abstimmung zu Asylrechtsverschärfungen: Testfall für grüne Willk… | |
| > Die Grünen sehen sich als Bastion für Weltoffenheit. Doch nun droht ein | |
| > Dilemma im Bundesrat. Steht die Ökopartei zu ihren Überzeugungen? | |
| Bild: Grünen-Chef Robert Habeck glaubt, dass die Blockade bei sicheren Herkunf… | |
| Berlin taz | Auf Parteitagen sind die Grünen sehr stolz auf ihre humane | |
| Flüchtlingspolitik. Als sich Annalena Baerbock Ende Januar um den | |
| Parteivorsitz bewarb, donnerte sie gepfefferte Kritik an der Großen | |
| Koalition in den Saal. Die Abgeordneten der Koalition, rief sie, sollten | |
| beim Familiennachzug – „verdammt nochmal!“ – alles tun, um diese Kinder… | |
| Familien zu retten. Robert Habeck sagte wenig später am Rednerpult, es | |
| seien existenzielle Zeiten, weil Menschen im Mittelmeer „verrecken“. | |
| Das ist das Selbstbild der Grünen. Sie verstehen sich als Bastion der | |
| Weltoffenheit. Angesichts des Erstarkens der AfD, einer sich an Wagenknecht | |
| spaltenden Linken und einem polarisierenden Heimatminister Horst Seehofer | |
| (CSU) werben sie für flüchtlingsfreundliche Politik. Doch die | |
| Willkommens-Rhetorik wird schon bald einem Realitätscheck unterzogen. Die | |
| Frage wird sein, ob die Grünen zu ihren Überzeugungen stehen – oder ob sie | |
| sich dem flüchtlingskritischen Mainstream der Großen Koalition beugen. | |
| Der Gegner der Grünen ist Seehofer. Er macht gerade Tempo. Die Landtagswahl | |
| in Bayern naht, die CSU will im Oktober die absolute Mehrheit im Freistaat | |
| verteidigen. Auch deshalb schiebt Seehofer schnell restriktive Gesetze an. | |
| Sie sind gedacht als Munition für einen harten Wahlkampf, der der AfD das | |
| Wasser abgraben soll. | |
| So will die Regierung zum Beispiel die Maghreb-Staaten Algerien, Tunesien | |
| und Marokko als sichere Herkunftsstaaten deklarieren. Dann kann sie dorthin | |
| schneller und unkomplizierter abschieben. Mehr noch, sie will das Konzept | |
| der sicheren Herkunftsstaaten massiv ausweiten. Alle Länder, bei denen die | |
| Anerkennungsquote für Flüchtlinge unter fünf Prozent liegt, sollen in | |
| Zukunft automatisch als sicher gelten. Außerdem sind große Asylzentren | |
| geplant, in denen Flüchtlinge 18 Monate lang festgehalten werden sollen – | |
| möglichst bis zu ihrer Abschiebung. | |
| ## Seehofer macht Tempo | |
| „Ziel ist es, alle Gesetzesvorhaben so schnell wie möglich auf den Weg zu | |
| bringen“, heißt es im Innenministerium. Ein Referentenentwurf zum Gesetz | |
| zum Familiennachzug sei fertig. Jenes soll den Nachzug von | |
| Familienmitgliedern für Flüchtlinge mit befristetem Schutzstatus drastisch | |
| einschränken. Das Gesetz zur Ausweitung der sicheren Herkunftsstaaten auf | |
| Algerien, Tunesien und Marokko sei „rechtlich vergleichsweise | |
| unkompliziert.“ Auch bei den Asylzentren, die offiziell AnKER-Zentren (für | |
| Ankunft, Entscheidung, kommunale Verteilung und Rückführung) heißen, geht | |
| Seehofer in die Offensive. Er will die gesetzliche Regelungen laut | |
| Ministerium „bis zur Sommerpause angehen“. | |
| Eigentlich lehnen die Grünen solche Asylrechtsverschärfungen ab. In | |
| Tunesien, Algerien und Marokko, so ihr Argument, gebe es staatliche | |
| Repressionen gegen Schwule und Lesben. Seehofers Asylzentren nennt die | |
| grüne Bundestagsfraktion „Großlager zur Integrationsverhinderung – mit | |
| enormer Sprengkraft.“ Die Frage ist nur, was von der Kritik übrig bleibt, | |
| wenn es um reale Entscheidungen geht. Denn die Grünen haben im Bundesrat | |
| einen Hebel, um die Pläne zu stoppen. | |
| Die Beschlüsse zu sicheren Herkunftsstaaten sind in der Länderkammer | |
| zustimmungspflichtig. Auch bei den Asylzentren kann das der Fall sein. Aus | |
| Sicht des Innenministeriums spricht jedenfalls viel dafür, „weil viele | |
| Zuständigkeiten der Länder tangiert werden.“ | |
| Die Grünen sind an neun Landesregierungen beteiligt. Wenn sie in ihren | |
| Landeskabinetten jeweils auf eine Enthaltung bestehen, dann hätten die | |
| Groko-Pläne keine Mehrheit. Enthaltungen zählen im Bundesrat wie ein Nein. | |
| Die Herkunftsstaaten und die Asylzentren werden deshalb zum Testfall. Wie | |
| ernst meinen die Grünen es mit der „harten Opposition“, die sie vollmundig | |
| angekündigt haben? | |
| ## Trittin fordert Widerstand | |
| Der Linksgrüne Jürgen Trittin fordert Widerstand. „Die Grünen müssen der | |
| progressive, sozial-ökologische Gegenpol zur Rechtswende der Gesellschaft | |
| werden“, schreibt er in einem Thesenpapier. Sie müssten aufhören, sich im | |
| Parlament als Regierung im Wartestand zu gerieren und unbequem sein. | |
| Trittins Fazit: „Dafür müssen ihre Landesregierungen auch bei den | |
| anstehenden Gesetzesvorlagen zu sicheren Herkunftsstaaten oder den | |
| Ankerzentren Farbe bekennen und diese im Bundesrat ablehnen.“ | |
| Auch Nordrhein-Westfalens Grünen-Chef Felix Banaszak findet, dass Tunesien, | |
| Marokko und Algerien keine sicheren Herkunftsstaaten sind. Selbst das | |
| Bundesamt für Migration und Flüchtlinge berichte von Verfolgung von Frauen | |
| und Homosexuellen, Foltervorwürfen, mangelnder Religionsfreiheit, | |
| Menschenhandel und politischer Verfolgung. „Diese Fakten ignoriert die | |
| Große Koalition, weil es ihr innenpolitisch opportun scheint“, sagt | |
| Banaszak. „Daran sollte man sich nicht beteiligen.“ | |
| Luise Amtsberg ist die Flüchtlingsexpertin der Grünen-Fraktion im | |
| Bundestag. Sie ist neulich nach Tunesien gereist. Dort ist Homosexualität | |
| laut Gesetz strafbar. Aktivisten aus der Zivilgesellschaft kämpften gegen | |
| den Paragraphen, erzählt sie. Das Land sei noch lange keine stabile | |
| Demokratie, es gebe etwa kein Verfassungsgericht. „Die Aktivisten sagen | |
| uns: Wenn ihr uns den Stempel sicheres Herkunftsland verpasst, tötet ihr | |
| diese Debatten und unser Engagement für eine stabile Demokratie.“ In | |
| Marokko und Algerien sei die menschenrechtliche Situation wesentlich | |
| schlimmer. | |
| Die Koalition lobt Asylzentren, weil in ihnen Asylverfahren schnell, | |
| umfassend und rechtssicher bearbeitet werden sollen. Vertreter des | |
| Bundesamtes für Flüchtlinge, der Justiz, der Ausländerbehörden und der | |
| Jugendämter sollen in ihnen „Hand in Hand arbeiten“, verspricht der | |
| Koalitionsvertrag. Amtsberg hält die Zentren, in denen tausende Flüchtlinge | |
| untergebracht wären, für hochproblematisch. „Sie kasernieren alle | |
| Asylbewerber und schneiden sie von ehrenamtlicher Hilfe, also von der | |
| Zivilgesellschaft ab.“ Auch Familien mit Kindern sollten in der Regel | |
| mehrere Monate in den Zentren leben. „Das ist ein Tabubruch“, sagt | |
| Amtsberg. „Kinder gehören nicht in geschlossene Einrichtungen.“ | |
| ## Bundesregierung mit Bonbons | |
| Allerdings ist Amtsberg, die überzeugte Gegnerin der Reformen, skeptisch, | |
| wenn es um die Grünen im Bundesrat geht. „Ich fände es richtig, diese | |
| Vorhaben zu stoppen. Aber die Bundesregierung ist ja nicht doof.“ Sie werde | |
| ein Asylpaket mit positiven und negativen Punkten schnüren, „das es unseren | |
| Grünen in den Ländern sehr schwer machen wird, Nein zu sagen.“ | |
| Die Bundesregierung hat gleich mehrere Bonbons in petto: Sie plant zum | |
| Beispiel eine unabhängige Asylverfahrensberatung, die die Grünen sinnvoll | |
| finden. Und sie will sich bis 2021 mit acht Milliarden Euro an | |
| Integrationskosten der Länder und Kommunen beteiligen. Eine Kombination | |
| solcher Punkte mit Verschärfungen könnte die Grünen locken. | |
| In der Vergangenheit lief es ähnlich. Die Bundesregierung holte die Grünen | |
| bei Asylrechtsverschärfungen mit Zugeständnissen ins Boot. Im September | |
| 2014 deklarierte der Bundesrat die Westbalkanstaaten Bosnien-Herzegowina, | |
| Mazedonien und Serbien als sicher. Winfried Kretschmann, der grüne | |
| Ministerpräsident von Baden-Württemberg, verhalf der Koalition zur Mehrheit | |
| – und handelte einen vereinfachten Zugang zum Arbeitsmarkt für Asylbewerber | |
| heraus, eine Lockerung der Residenzpflicht und die Auszahlung von | |
| Unterstützung in Geld, statt in Sachleistungen. Im Oktober 2015 wurden | |
| Albanien, Montenegro und Kosovo als weitere sichere Herkunftsstaaten | |
| definiert. | |
| Doch bei den Maghreb-Staaten blieben die Grünen bisher hart. Die | |
| grün-mitregierten Länder ließen das Gesetz der vorherigen Koalition 2017 im | |
| Bundesrat scheitern. Kretschmann, der Ultrarealo aus dem Südwesten, hätte | |
| es damals durchgewinkt, konnte sich aber nicht durchsetzen. | |
| ## Ausweichende Antworten sagen viel | |
| Grünen-Chef Robert Habeck geht deshalb davon aus, dass die Blockade auch | |
| dieses Mal steht. Die Mehrheit der von Grünen mitregierten Länder lehne die | |
| sicheren Herkunftsstaaten ab, sagt er. „Ich gehe davon aus, dass die | |
| Kabinettsvoten unverändert sind.“ Dann würde Baden-Württemberg zustimmen | |
| und die anderen von Grünen mitregierten Länder nicht. „Keine | |
| Überraschungen.“ | |
| Sicher ist: Diese Asylrechtsverschärfung beträfe wenige Menschen. Im Jahr | |
| 2017 wurden 186.644 Asylbewerber in Deutschland neu registriert. Darunter | |
| waren 1.910 algerische, 1.799 marokkanische und 421 tunesische | |
| Staatsangehörige. Gerade mal 2,2 Prozent der Asylbewerber kamen also im | |
| vergangenen Jahr aus den Maghreb-Staaten. Das geht aus einer Antwort des | |
| Innenministeriums auf eine Frage der Linken-Abgeordneten Ulla Jelpke | |
| hervor. | |
| In wichtigen Landesverbänden hält man sich zu dem Thema bisher bedeckt. | |
| Eine Stellungnahme von Kretschmann war am Mittwoch nicht zu bekommen. | |
| Interessant wird zum Beispiel sein, wie sich die hessischen Grünen | |
| verhalten. Der Landesverband tickt ebenfalls realpolitisch. Tarek Al-Wazir, | |
| Wirtschaftsminister und Spitzenkandidat, kämpft für ein gutes Ergebnis bei | |
| der Landtagswahl im Oktober – und hätte nichts dagegen, die schwarz-grüne | |
| Koalition fortzusetzen. Würde er im Kabinett auf eine Enthaltung zu den | |
| Maghreb-Staaten drängen? | |
| Jochen Ruoff, politischer Geschäftsführer der Hessen-Grünen, antwortet | |
| offen: „Bevor wir sagen können, wie wir uns verhalten, müssen wir erst | |
| einmal wissen, was Bundesregierung und Bundestag uns vorlegen.“ Man gehe | |
| allerdings nicht davon aus, dass es klug sei, zum zweiten Mal mit dem | |
| gleichen Kopf gegen die gleiche Wand zu rennen, sagt er mit Blick auf die | |
| Bundesregierung. | |
| Bei den Grünen wird intern bereits gerechnet: Stimmt nur Kretschmann mit | |
| der Koalition, enthalten sich aber alle anderen von Grünen mitregierten | |
| Länder und das rot-rot-regierte Brandenburg, scheitert das Gesetz. Stimmt | |
| noch ein Land, etwa Hessen, zu, ist es durch. | |
| Fragt man Habeck, ob eine Zustimmung im Bundesrat das grüne Image | |
| beeinflussen würde, sagt er: „Wir brauchen bei der Flüchtlings- und | |
| Zuwanderungspolitik Humanität und Ordnung.“ Willkürliche Instrumente wie | |
| die sicheren Herkunftsländer schafften weder das eine noch das andere. | |
| Auch ausweichende Antworten sagen manchmal viel. | |
| 28 Mar 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Schulte | |
| ## TAGS | |
| Asylrecht | |
| Bundesrat | |
| Bündnis 90/Die Grünen | |
| sichere Herkunftsländer | |
| Asylrecht | |
| Maghreb | |
| Religionsfreiheit | |
| Lesestück Interview | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Schwerpunkt AfD | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Schwarz-rote Koalition | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Juristin über sichere Herkunftsländer: „Eine nicht unerhebliche Entlastung�… | |
| Die Maghrebstaaten sollten als „sicher“ eingestuft werden, plädiert Miriam | |
| Marnich im Innenausschuss des Bundestags für den Städte- und Gemeindebund. | |
| Asylrechtsverschärfung Maghreb-Staaten: Grüne meiden eine Festlegung | |
| Die von den Grünen mitregierten Länder könnten im Bundesrat eine | |
| Verschärfung des Asylrechts verhindern. Doch das Thema ist heikel. | |
| Kolumne Fremd und befremdlich: Der Druck steigt | |
| Religion darf nicht als Grund genommen werden, andere zu unterdrücken. Das | |
| gilt für den Islam ebenso wie für das Christentum. | |
| Habeck und Klever über Europa: „Links ist immer besser“ | |
| Gehört Grünlinks die Zukunft? Lässt sich die Gesellschaft wirklich | |
| verändern? Darüber reden die grünen Parteichefs der Niederlande und | |
| Deutschlands. | |
| Flüchtlinge geben deutsche Papiere weiter: Frustverkauf | |
| So mancher Geflüchtete sieht sich in Deutschland gescheitert und macht sich | |
| auf den Weg zurück. Laut Medienbericht veräußern einige dabei ihre Papiere. | |
| Neuer UNHCR-Chef über Koalitionsvertrag: „Sehr viele Fragen bleiben offen“ | |
| Deutschland ist nach den USA zweitgrößter Geldgeber der | |
| UN-Flüchtlingshilfe. Dennoch kritisiert Dominik Bartsch die | |
| Flüchtlingspolitik der Bundesregierung. | |
| Kommentar Flüchtlinge und Kriminalität: Argument für Familiennachzug | |
| Wer eine sichere Bleibeperspektive hat, verhält sich angepasster und | |
| friedlicher. Auch der Familennachzug fördert die Integration. | |
| Koalitionsvertrag in Niedersachsen: Groko will überwachen | |
| Die Sicherheitspolitik von SPD und CDU in Niedersachsen wird restriktiver. | |
| Asylsuchende sollen effizienter abgeschoben werden. |