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# taz.de -- Deniz Yücel über die Haft und die Türkei: „Die Wut habe ich im…
> Ein Jahr saß Deniz Yücel ohne Anklage im türkischen Knast. Er und seine
> Frau sprechen erstmals nach seiner Freilassung gemeinsam mit der taz und
> der „Welt“.
Bild: In Freiheit: Deniz und Dilek Mayatürk Yücel
Doris Akrap: Jedes Mal, wenn Daniel oder ich in den letzten zwölf Monaten
zu deinem Fall interviewt wurden, lautete die erste Frage: „Wie geht es
Deniz?“ Jetzt kannst du endlich selbst drauf antworten.
Deniz Yücel: Danke, sehr gut. Und zwar aus zwei Gründen: Zum einen, weil
ich das große Glück hatte, dass meine Frau Dilek immer an meiner Seite
stand, mir den Heiratsantrag in den Knast geschickt und alles für mich
getan hat, das gerade nötig war – Angela Merkel treffen, Socken in den
Knast bringen, was auch immer. Außerdem waren meine Anwälte eine riesige
Stütze. Dazu die [1][FreeDeniz-Solidarität], meine Zeitung, die Welt, die
taz, Kollegen in anderen Redaktionen, die Mahnwachen in meiner Heimatstadt
Flörsheim, die Autokorsos, Lesungen, Solidaritätsanzeigen, Preise, Briefe…
All das gab mir das Gefühl: Ich bin nicht vergessen, ich werde hier nicht
verfaulen.
Daniel-Dylan Böhmer: Und der zweite Grund?
Yücel: Im Knast dachte ich immer: Das hier geht vorbei. Ob es ein paar
Monate länger oder kürzer dauert, ist nicht egal. Aber wichtiger ist, wie
es mir gehen wird, wenn ich hier rauskomme. Das Wichtigste ist, dass ich
mich nicht fertigmachen lasse. Das hieß allem voran, dass ich mir
Möglichkeiten schaffe, meine Stimme zu erheben. Die wollten mich zum
Verstummen bringen. Das haben sie nicht geschafft. Ich habe Interviews
gegeben und einige Texte für meine Zeitung geschrieben. Diese öffentlichen
Wortmeldungen waren eine Art vorweggenommene Eigentherapie – und Ausgleich
dafür, dass ich ein Jahr lang ohne Anklage festgehalten wurde. Man hat mir
keine Möglichkeit gegeben, mich vor Gericht gegen die Anschuldigungen von
Tayyip Erdoğan und anderen zu verteidigen. So wurde ich zur größten
Laberbacke wo gibt im türkischen Knast.
Böhmer: Gibt es Dinge, an die du dich in Freiheit erst wieder gewöhnen
musst?
Yücel: Heute bin ich frühmorgens in den Ort hier gegangen. Ich war beim
Friseur, habe einen Kaffee getrunken, bin über den Markt geschlendert und
habe ein paar Sachen gekauft. Auf dem Weg zurück, mit meinen Einkaufstüten
voller Orangen, Erdbeeren und Petersilie dachte ich: Wie schön das ist,
über einen Markt gehen zu können. Dasselbe denke ich manchmal, wenn ich in
den Nachthimmel schaue. Nachts war die Tür zum Innenhof immer verschlossen,
darum habe ich ein Jahr lang keine Sterne gesehen. Und keinen Himmel ohne
Draht. Ich guck’ jetzt zwar nicht in den Himmel und denke: „Oh, da fehlt ja
der Draht! Ich muss mich bei der Anstaltsleitung beschweren.“ Aber es gibt
immer wieder Momente, an denen ich innehalte und merke, dass Dinge, die ich
vorher für selbstverständlich hielt, etwas Kostbares geworden sind. Mit
Dilek im Gras zu liegen beispielsweise.
Böhmer: [2][Im Dezember wurdest du in eine Zelle verlegt, die über einen
kleinen Innenhof mit der Zelle des türkischen Journalisten Oğuz Usluer
verbunden war.] Aber wie waren die Monate davor, in strenger Isolation? Was
macht das mit einem? Wie beobachtet man das an sich selbst?
Yücel: Als das Hafturteil gesprochen wurde, sagte [3][mein Anwalt Veysel
Ok] zu mir: „Höchstens fünf Monate! Länger können sie dich nicht
festhalten.“ So habe auch ich das eingeschätzt. So einen Konflikt mit
Deutschland wird sich die Türkei aus politischen und wirtschaftlichen
Gründen nicht leisten können, nur wegen eines Journalisten einer großen
deutschen Tageszeitung, dem nichts als ein paar Artikel vorgeworfen werden.
Ich habe dann am eigenen Leib erfahren, dass diese Prämissen der türkischen
Außenpolitik nicht mehr gelten. Doch gegen Ende der fünf Monate, im Juli,
[4][wurde Peter Steudtner mit den anderen Menschenrechtlern verhaftet],
zugleich wurde eine Liste mit deutschen Großunternehmen bekannt, die bei
türkischen Behörden unter Terrorverdacht standen. Dieses Regime hat keine
Außenpolitik, sondern lebt von einem Tag auf den anderen. Ab Steudtners
Festnahme habe ich mir kein Datum mehr gesetzt. Ich kam stattdessen auf die
Idee, aus meinen alten Texten, die auf den Solidaritätslesungen in
Deutschland so gut ankamen, [5][das Buch „Wir sind ja nicht zum Spaß hier“]
zu machen. Daran habe ich, zusammen mit Doris, so intensiv gearbeitet, dass
ich keine Zeit mehr hatte, darüber nachzudenken, was die Isolationshaft mit
mir macht.
Böhmer: Was du jetzt beschreibst, ist ja schon der zweite Schritt, nämlich
wie man das bekämpft, was da möglicherweise in der Isolation mit einem
passiert. Aber was ist das, was man da bekämpft?
Yücel: Verzweiflung, Wut, Angst.
Böhmer: Angst davor, dass man sich verändert?
Yücel: Ich hatte immer die Hoffnung, in absehbarer Zeit freizukommen. Ich
weiß also nicht, wie sich Knast anfühlt, wenn du zu zehn, zwanzig Jahren
verurteilt wurdest, alle Rechtsmittel erschöpft sind und du weißt: Es gibt
keine Hoffnung mehr. Und dennoch gab es gerade anfangs die Angst, in diesem
Loch zu verrotten.
Böhmer: Und hat deine Gegenwehr immer geholfen?
Yücel: Am schwierigsten waren die ersten Wochen. Ich hatte Angst, nach der
ersten Aufregung vergessen zu werden. Und außer meiner Schwester Ilkay und
meinem Vater Ziya, die mich zweimal für eine Stunde besuchen kamen, habe
ich nur meine Anwälte gesehen. Erst nachdem Dilek und ich im April
geheiratet hatten, durfte sie mich besuchen. Wichtig in dieser ersten Zeit
war zu merken, dass ich kämpfen konnte; dass es an mir lag, ob sie die
totale Kontrolle über mein Leben bekamen, die sie wollten. Das fing im
Polizeigewahrsam an, wo Papier und Stift verboten waren, ich aber mit einem
geklauten Stift in ein Exemplar des „Kleinen Prinzen“ [6][einen Bericht
über die Haftbedingungen schrieb] und hinausschmuggelte. Das hat mir Kraft
gegeben für die folgende Isolationshaft. Oder, eine kleinere Geschichte:
Bei der ersten wöchentlichen Bestellung im Knastladen habe ich
Rasierklingen gekauft, aber den Rasierstab vergessen. Daraufhin habe ich
die Klinge auf den Stiel einer Gabel gesteckt und mich rasiert. Solche
Erfahrungen waren ungemein wichtig: Auch wenn schreiben verboten ist oder
ich nicht einfach im Laden um die Ecke mir besorgen kann, was gerade fehlt,
oder wenn der Staatspräsident rumquäkt und mich als Agenten und Terroristen
beschimpft und ich hier ganz allein bin – ich komme damit klar. Ich schaffe
das.
Böhmer: Haben dich diese Erfahrungen im Kleinen auch im Großen stärker
gemacht?
Yücel: Bestimmt.
Böhmer: Bleibt das?
Yücel: Das weiß ich nicht. Ich bin milder geworden. Auch gegenüber
Redakteuren. Man lernt, dass man nicht über jede Zwischenüberschrift
diskutieren muss.
Akrap: Dazu braucht es nicht unbedingt Knasterfahrung.
Yücel: Bei mir schon. Aber was ist erstrebenswerter? Im Knast seine Fehler
und Macken zu überwinden und zu lernen, falsche Prioritäten von richtigen
zu unterscheiden – also das Gefängnis als Besserungsanstalt anzuerkennen?
Oder sich von so ein bisschen Knast nicht beeindrucken zu lassen? Ich
denke, es ist erstrebenswerter, im Bescheuerten wie im Schönen derselbe zu
bleiben.
Böhmer: Dilek, wie hast du die Zeit ohne Deniz erlebt?
Mayatürk Yücel: Unsere Beziehung war ja noch relativ neu, als Deniz ins
Gefängnis kam. Wir haben unsere Beziehung in einer Situation entwickelt, in
der wir durch eine Scheibe getrennt waren, in der unsere Gespräche
aufgezeichnet wurden und wir unter der Beobachtung standen. Aber auch in
einer anderen Hinsicht waren wir nie zu zweit: Wir kannten uns noch nicht
so lange und plötzlich habe ich lauter Menschen kennengelernt, die in
Deniz’ Leben eine Rolle spielen, die ich aber bislang nicht oder kaum
kannte. Jetzt war ich ständig mit diesen Menschen zusammen und habe mit
ihnen über Deniz gesprochen. Aber er war nicht da.
Akrap: Wie übersteht man so eine Situation?
Mayatürk Yücel: Mir war klar, dass es lange dauern würde. Dass wir einen
Marathon laufen, ohne zu wissen, wie lang die Strecke ist. Das Wichtige war
für mich, wie wir diese Sache erleben und wie wir sie zu Ende bringen. Das
bedeutete für mich auch, mich körperlich und mental gesund zu halten und
Deniz in guter Verfassung zu besuchen. Ich habe ihm immer, bei jedem Besuch
gesagt: „Das hier wird zu Ende gehen. Wir werden das zu Ende bringen. Es
wird ein Leben danach geben.“ Aber ich wusste auch: Selbst nach der
Freilassung wird nicht plötzlich alles aufhören. Was wir erlebt haben, wird
uns noch eine ganze Weile lang beschäftigen.
Böhmer: Was wünschst du dir für deine und eure Zukunft?
Mayatürk Yücel: Dieses Jahr hat mir sehr viel Lebenserfahrung gebracht.
Aber ich will wieder in meinem Beruf arbeiten. Ich bin Fernsehproduzentin
und Dokumentarfilmerin. Und prinzipiell kann ich von jedem Punkt der Welt
über einen anderen Punkt der Welt arbeiten. Ich wünsche mir ein Leben an
einem schönen Flecken Erde mit Deniz an meiner Seite.
Akrap: Habt ihr schon im Gefängnis über die Zeit danach geredet?
Yücel: Dilek schrieb mir ins Gefängnis, sie würde gern irgendwo leben, wo
unsere Füße die Erde berühren. Darüber haben wir uns ein paar Mal in
Briefen ausgetauscht und uns überlegt, wo wir uns niederlassen können. Aber
ich bin stets davon ausgegangen, dass wir erst mal in der Türkei bleiben
würden, weil ich angenommen habe, dass sie den Schein wahren und wie bei
den anderen freigelassenen Kollegen eine Ausreisesperre verfügen würden.
Mayatürk Yücel: Wenn man versucht, ganz schnell Entscheidungen für die
Zukunft zu treffen, funktioniert das nicht. Man braucht Zeit, um sich zu
erholen. Vieles geht ja weiter.
Böhmer: Was geht weiter?
Mayatürk Yücel: Zum Beispiel, dass ich ausnahmslos jede Nacht davon träume,
wie Deniz im Gefängnis ist und dann freigelassen wird. Also, die Haft, die
Vorbereitung der Freilassung – jede Nacht führe ich dieselben Gespräche mit
anderen Beteiligten und kämpfe um seine Freilassung. Das hört nicht auf.
Akrap: Wovon träumst du, Deniz?
Yücel: Ich habe keine Traumgeschichte zu erzählen. Nur ein einziges Mal sah
ich meinen Zellennachbarn Oğuz, mit dem ich in kurzer Zeit Freundschaft
geschlossen habe. Vielleicht würde der Fachmann sagen, ich verdränge etwas.
Akrap: Dilek, Deniz hat aus dem Gefängnis einige ziemlich meinungsstarke
Texte veröffentlicht und [7][recht pointierte schriftliche Interviews
gegeben]. Was hast du da durchgemacht, wenn das mal wieder bevorstand?
Mayatürk Yücel: Herzrasen! In einem Land, in dem Menschen wegen Tweets
verhaftet und Dinge in Texte reininterpretiert werden, kann alles
passieren. Alles kann Eingang in eine Anklage finden. Wir haben schon bei
der Verhaftung die Erfahrung gemacht, dass sie seine Worte böswillig
auslegen und Sachen falsch übersetzen. In einer Situation, in der die
Anklage noch nicht vorlag, bedeutete jede Wortmeldung ein Risiko. Aber ich
wusste auch, warum das Deniz wichtig war. Und viele seiner Texte habe ich
abgetippt.
Böhmer: Deniz, deine Zeitung, ich und du, waren uns auch nicht immer einig,
was gerade klug ist zu sagen. Gab es Momente, wo du dich zensiert gefühlt
hast?
Yücel: Nein. Erinnerst du dich an den letzten Text, den ich für die Welt
geschrieben habe? Das waren meine Antworten auf einige Leserbriefe. Da habe
ich dir die Ansage gemacht: „Du kriegst 20.000 Zeichen, super Text, räum’
den Platz frei!“ Solche Ansagen kann man als Autor seinem Redakteur
normalerweise nicht machen. Nur ganz am Anfang, bei meiner ersten
ausführlichen Veröffentlichung, hatten wir eine Diskussion. Ihr habt zur
Zurückhaltung geraten, konntet mich aber nicht überzeugen. Schließlich habe
ich gedroht, meinen Kram notfalls woanders zu veröffentlichen. Das hat
funktioniert. Du siehst: Zu enger Umgang mit dem türkischen
Staatspräsidenten färbt ab – eine kleine Erpressung hier, ein bisschen
Nötigung dort… Nein, im Ernst: Ich habe eure Sorgen verstanden. Aber vor
allem habt ihr meine Gründe verstanden, glaube ich jedenfalls. Und nach
dieser ersten Diskussion hat Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt gesagt: „Wir
drucken alles, was von Deniz kommt. In voller Länge.“ Das hört man
natürlich gerne von seinem Chefredakteur.
Akrap: Hat die Kampagne für deine Freilassung dazu geführt, dass du länger
im Gefängnis saßt?
Yücel: Nein. Selbst wenn es keine FreeDeniz-Kampagne gegeben hätte, keinen
Autokorso, keine Lesungen, hätten andere Journalisten und
Oppositionspolitiker die Bundesregierung nach mir gefragt. Es wäre nicht
möglich gewesen, meinen Fall aus der Öffentlichkeit zu halten, zumal auch
der türkische Präsident immer wieder öffentlich über mich gesprochen hat.
Sicher ist: Mir tat die Solidarität gut. Und ich bin ja nicht im Gefängnis
gelandet, weil ich Pech hatte, sondern weil ich meine Arbeit als Journalist
gemacht habe. Ich bin nicht zum Spaß zum Interview mit dem PKK-Vizechef
gefahren, sondern im Auftrag meiner Zeitung und im weiteren Sinne im
Auftrag der Öffentlichkeit. Wenn ich im Zusammenhang mit dieser Aufgabe
verhaftet werde, wäre es widersinnig, danach aus der Öffentlichkeit zu
verschwinden.
Akrap: Den Diplomaten wäre Stille vielleicht lieber gewesen.
Yücel: Zwischenstaatliche Probleme möglichst leise zu verhandeln, steht im
Diplomatenlehrbuch. Das galt vielleicht für die Sowjetunion, aber das gilt
nicht für Tayyipistan. Wenn du es mit einem Politiker zu tun hast, der
seinen Anhängern ein neues Feindbild präsentieren muss, helfen diese
Lehrsätze nicht.
Mayatürk Yücel: Ich bin nicht dieser Ansicht. Erst durch die öffentliche
Aufmerksamkeit, die Kampagne, die Medien und Statements deutscher Politiker
hat die türkische Seite bemerkt, dass sie Deniz als Trumpf im
deutsch-türkischen Verhältnis benutzen kann. Ich glaube, das hat dazu
geführt, dass Deniz in Isolationshaft kam, dass er ein Jahr lang auf seine
Anklage gewartet und länger im Gefängnis gesessen hat.
Yücel: Vielleicht hätte ich mit etwas weniger Kampagne und etwas weniger
Politikeräußerungen drei Monate kürzer gesessen. Aber mich zu fragen „Habe
ich keine Freunde, habe ich keine Kollegen, gibt es niemanden, der sich für
mich einsetzt?“ wäre viel deprimierender gewesen als die Aussicht, ein paar
Monate länger im Knast zu verbringen.
Mayatürk Yücel: Ich hätte mir gewünscht, dass unsere Unterstützer und die
Bundesregierung sich stärker vergegenwärtigt hätten, wie bestimmte Sachen
in der Türkei ankommen. Wir hatten es schließlich mit einem unberechenbaren
Regime zu tun.
Böhmer: Auch wir bei der Welt haben uns immer wieder gefragt: Wie können
wir adäquat auf diese Situation in der Türkei eingehen? Aber die türkische
Regierung hat ja selbst polarisiert, weil sie davon beim
Verfassungsreferendum profitieren wollte.
Mayatürk Yücel: Als die Referendumskampagne losging, war der Fall schon
prominent. Und auch in Deutschland wurde Deniz zum Wahlkampfthema.
Yücel: Für alle Beteiligten war diese Geschichte eine ohne Vorlage, ohne
Erfahrung, auf die man hätte zurückgreifen können. Deswegen würde ich mit
allen Beteiligten nicht so scharf ins Gericht gehen. Natürlich gab es
Konflikte und Diskussionen zwischen uns, vielleicht hat jeder Einzelne und
haben wir alle zusammen das eine oder andere gemacht, das wir besser
gelassen hätten. Aber meine Güte! Meine Bilanz ist: Das haben wir alle
zusammen gut hingekriegt.
Akrap: Glaubst du, dass die Bundesregierung genug für dich getan hat?
Yücel: Ich glaube, die Bundesregierung war sehr in Sorge und hat sich nach
Kräften um meine Freilassung bemüht. Wir hatten manchmal Differenzen. Aber
die Bundesregierung stand sowohl politisch an meiner Seite als auch
juristisch, also im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte. Und der deutsche Generalkonsul Georg Birgelen, der mich
etwa einmal im Monat besuchen kam, hat seine Sache wirklich großartig
gemacht.
Akrap: Eine der Forderungen von #FreeDeniz war, dass die Bundesregierung
Hermes-Bürgschaften für den Handel mit der Türkei einschränken solle. Nun
stellt sich heraus, dass ausgerechnet 2017 deutlich mehr Exporte in die
Türkei abgesichert wurden als im Vorjahr. Waren Wirtschaftsinteressen am
Ende wichtiger?
Yücel: Bis zu meiner Inhaftierung war ich Journalist, Beobachter dieses
Verhältnisses. Plötzlich wurde ich selbst zu dessen Gegenstand. Darum
möchte ich die Türkei-Politik der Bundesregierung von Angela Merkel nicht
im Lichte meiner Geschichte bewerten. Das eine ist das, was ich aus dem
Gefängnis gesagt habe: [8][Für schmutzige Deals stehe ich nicht zur
Verfügung.] Aber ich wusste auch, dass es zur Natur einer Geiselnahme
gehört, dass der Geiselnehmer seine Geisel freilässt, wenn er meint, eine
Gegenleistung bekommen zu haben. So wie man mich nicht nach meiner Meinung
gefragt hat, ob ich in den Knast will, war mir auch klar, dass man mich
nicht nach meiner Meinung fragen würde, ob ich wieder rausmöchte. Da hätte
ich lange sagen können: „Nee, ich weiß jetzt nicht so ganz genau, was da
abgesprochen wurde, deswegen verlasse ich den Knast nicht.“
Akrap: Zugetraut hätte ich es dir.
Yücel: Vielleicht. Aber ich sag dir, wie die darauf reagiert hätten: „Raus
hier, Spinner!“
Böhmer: Aber du hast doch sicher eine Meinung zur deutschen Türkei-Politik.
Yücel: Grundsätzlich denke ich, dass die Regierung von Angela Merkel alle
progressiven und demokratischen Kräfte in der Türkei zweimal verraten hat.
Das erste Mal 2005, als die politische Entwicklung der Türkei noch in
Richtung einer Europäisierung ging. Da hat die Bundesregierung den Türken
klargemacht: Ihr kommt nicht in die EU, völlig egal, was ihr tut. Der
zweite Verrat war der Besuch der Bundeskanzlerin im Zuge der
Flüchtlingskrise und zwei Wochen vor der Wahlwiederholung im November 2015,
als sie der Türkei eine Aufhebung der Visumspflicht in Aussicht gestellt
hat. Das war eine in der internationalen Diplomatie völlig unübliche
Wahlkampfhilfe. Bis zu meiner Verhaftung war die deutsche Regierung
diejenige innerhalb der EU, die am freundlichsten gegenüber der Türkei war.
Auch nach dem Ausnahmezustand; auch als die Verhaftungen von
Oppositionspolitikern und Journalisten begannen. Natürlich ist die Türkei
kein Land, bei dem Deutschland einfach sagen kann: Wir wollen mit denen
nichts mehr zu tun haben. Umgekehrt ist die Türkei, so großmäulig sie
auftritt, extrem abhängig vom Ausland. Damit kann und muss man arbeiten.
Das türkische Regime hofft, dass es in den außenpolitischen Beziehungen
Politik und Geschäft trennen kann. Ich glaube, es wäre falsch, dieses Spiel
mitzuspielen.
Akrap: Der Ton gegenüber Ankara wurde im Zuge deiner Freilassung
entschieden freundlicher. Stört dich das?
Yücel: Ich würde mich nicht so sehr an mit der Frage des Tons aufhalten.
Wenn dieses Regime eines kann, dann ist es Krawall. Auf diesen Wettbewerb
sollte man sich nicht einlassen, weil man den nur verlieren kann. Das ist
so, als würde man die Türken im Autokorsofahren herausfordern anstatt im
Fußball.
Akrap: Entschuldige, aber ich würde sagen, im deutsch-türkischen
Autokorso-Wettbewerb steht es derzeit unentschieden.
Yücel: Okay, dann im Börekbacken. Entscheidender als der Ton jedenfalls
ist, was Gegenstand von Politik und auch von Wirtschaftspolitik ist. Man
kann ruhig Tee einschenken, wenn man mit dem Tee reinen Wein einschenkt.
Böhmer: [9][Seit dieser Teestunde des damaligen Außenministers Sigmar
Gabriel mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Çavuşoğlu in Goslar] wird
über ein Tauschgeschäft spekuliert. Wenn jetzt deutsche Rüstungsgüter an
die Türkei geliefert werden oder deutsche Behörden Druck auf kurdische
Verbände ausüben, sagen manche, du seist doch Teil eines schmutzigen Deals
gewesen.
Yücel: Ich weiß nichts von einem Deal. Mir wurde vor meiner Freilassung
durch die Vertreter des Generalkonsulats, mit denen ich an diesem Tag
zweimal gesprochen habe, versichert, dass es keinen Deal gegeben habe. Ich
glaube, mehr als der Bundesregierung diese Erklärung abzuverlangen, konnte
ich im Knast nicht tun.
Akrap: Das Verfahren gegen dich läuft weiter. Die erste Sitzung steht im
Juni an, die Staatsanwaltschaft fordert bis zu 18 Jahre Haft. Hast du schon
entschieden, ob du noch mal zurück in die Türkei gehst?
Yücel: Nein, so weit bin ich, sind wir noch nicht. Ich habe die Türkei
nicht mit dem Gefühl verlassen: Bloß weg aus dieser ganzen Scheiße hier,
ich will nie wieder was damit zu tun haben. Ich wusste ja, worauf ich mich
einließ, als ich im Frühjahr 2015 meinen Korrespondentenjob antrat. Zwar
war die Situation damals weniger dramatisch. Aber ich wusste, wenn man als
Journalist in diesem Land lebt und seine Sache halbwegs ordentlich macht,
lebt man gefährlich. Dann können einem schlimmstenfalls noch ganz andere
Sachen passieren, als dass man seiner Freiheit beraubt wird.
Böhmer: Du hast von Anfang an damit gerechnet, dass du ins Gefängnis kommen
könntest?
Yücel: Natürlich war das im Bereich des Denkbaren, aber es schien mir nicht
sehr wahrscheinlich. Sonst hätte ich das nicht gemacht. Ich war nicht
scharf darauf, ins Gefängnis zu kommen. Aber es ist was anderes, ob du als
Korrespondent in die Türkei gehst oder nach Norwegen. Das war auch schon
2015 oder 1995 so. Das weißt du erst recht, wenn du dieses Land und die
Sprache kennst, auch die Chiffren und die Codes.
Böhmer: Gibt es etwas, von dem du rückblickend denkst, das hättest du
anders machen sollen, um deine Verhaftung zu verhindern?
Yücel: Nein.
Böhmer: Hättest du etwas unterlassen können, was zu deiner Verhaftung
geführt hat?
Yücel: Ich denke nicht. Ich wurde zum Beispiel nicht verhaftet, weil ich
den stellvertretenden PKK-Chef interviewt habe. Das Interview habe ich im
August 2015, anderthalb Jahre vor meiner Festnahme, geführt. Noch ein paar
Wochen zuvor hatte auch die türkische Regierung mit ihm verhandelt. Das
Fiese ist ja, dass sie die Spielregeln – oder besser: die
Freund-Feind-Zuschreibungen – rückwirkend ändern.
Böhmer: Warum wurdest du dann festgenommen?
Yücel: Der Anlass war meine Berichterstattung über die gehackten E-Mails
des Energieministers, der Erdoğans Schwiegersohn ist. Darüber hatte ich wie
einige andere auch berichtet. Aber ab dem Moment, wo du durch irgendwas in
deren Fänge gerätst, schauen sie: Was können wir dem andichten? Ich war
durch meine gesamte Arbeit aufgefallen. Ich war einer von drei deutschen
Journalisten, die keinen Presseausweis bekommen haben. Die wussten, mit wem
sie es zu tun hatten.
Böhmer: Muss man das Risiko, inhaftiert zu werden, grundsätzlich in Kauf
nehmen, wenn man seinen Job als Journalist ordentlich macht unter einem
Regime, dem die Meinungs- und Pressefreiheit egal ist?
Yücel: Ich glaube: ja. Du kannst einzelne Fragen abwägen. Aber du kannst
nicht deine komplette Arbeit danach gestalten. Gerade in Ländern, in denen
Journalismus am meisten vonnöten ist, ist die Risikoabwägung besonders
schwierig. Die Frage „Ist der slowakische Kollege Ján Kuciak ein Risiko
eingegangen, indem er über Korruption berichtet hat?“ bedeutet in Wahrheit:
„War er selber schuld an seinem Tod?“ Aber nicht Ján Kuciak ist schuld an
seiner Ermordung, sondern die Mörder und deren Auftraggeber. Man erfüllt
als Journalist eine gesellschaftliche Aufgabe. Und der [10][Mord in der
Slowakei] und kurz davor die [11][Ermordung von Daphne Caruana Galizia in
Malta] und die Situation der Medien in Polen und Ungarn zeigen, dass auch
in der EU die Rechte und Freiheiten in einer Weise gefährdet sind, wie wir
es uns vor zehn Jahren nicht hätten vorstellen können. Aber im schlimmsten
Fall ist die Peripherie hierin Avantgarde. Im schlimmsten Fall steht die
Türkei heute schon dort, wo Europa in einigen Jahren ankommen könnte: am
Ende der offenen Gesellschaft, knietief in der Diktatur.
Akrap: Ist dir die Türkei durch deine Inhaftierung fremder geworden?
Yücel: Ich bin gleichermaßen deutscher und türkischer geworden. Ich habe
nie so oft Sätze formuliert, die mit „Bei uns in Deutschland ist das ja so
…“ anfingen, wie im Gefängnis. Zugleich habe ich in meiner Zelle ständig
mit einer Gebetskette herumgespielt, die mir Dilek geschenkt hatte. Mehr
Traditionstürke geht nicht. Aber das Leben draußen ging ja weiter. Ich
hatte mit dem Gezi-Aufstand von 2013 begonnen, mich journalistisch und
persönlich wieder stärker für die Türkei zu interessieren. Aber all das,
was mit dem Aufbruch von Gezi begonnen hatte, ist bis auf Weiteres
zerschmettert. Viele meiner Istanbuler Freunde haben das Land verlassen.
Oder, anderes Beispiel: Ich war im Sommer gerne im Maçka-Park, ein paar
Schritte von meiner Wohnung in Besiktas entfernt. Kürzlich wurde ein Teil
dieses Parks für ein Verkehrsvorhaben abgerissen. Und im Sommer sorgte die
Nachricht für Aufsehen, dass Sicherheitsleute eine Frau aus dem Park
geworfen haben, weil sie ihr Dekolletee zu tief fanden. In Besiktas, wo die
AKP bei gerade mal 15 Prozent liegt, wäre so etwas früher undenkbar
gewesen. Also: Ja, dieses Land ist mir fremder geworden. Aber nicht durch
meine Verhaftung. Die hat eher das Gegenteil bewirkt.
Akrap: Wie meinst du das?
Yücel: Wie könnte man ein noch intimeres Verhältnis zu einem Land aufbauen,
als in dessen Knast zu sitzen? Mein Freund Imran Ayata sagte mir an meinem
zweiten Abend in Freiheit: „Vergiss den Scheiß da! Du bist Deniz aus
Flörsheim.“ Stimmt, das war ich, als ich als Korrespondent nach Istanbul
gegangen bin und vielleicht auch noch, als ich verhaftet wurde. Aber ich
habe in der Türkei ein Jahr in einem Gefängnis verbracht. Und egal, ob ich
in absehbarer Zeit dahin zurückgehe, ich bin so eng mit diesem Land
verbunden, wie ich es nie zuvor war – obwohl die Regierung dieses Landes,
dessen Staatsbürger ich von Geburt an bin, mich als Feind behandelt und als
Geisel genommen hat, während die Regierung jenes Landes, dessen
Staatsbürgerschaft ich erst später erworben habe, sich für mich eingesetzt
hat.
Akrap: Dilek, du hattest schon im November 2016 entschieden zu gehen, weil
du ein Jobangebot in München hattest und weil du nicht mehr in der Türkei
leben wolltest. Wie siehst du das jetzt?
Mayatürk Yücel: Ich habe immer versucht, als Weltbürgerin zu leben und zu
arbeiten. Ich habe damals für eine Produktionsfirma von BBC Arabic
gearbeitet und war beruflich schon immer an Orten, an denen hässliche
Sachen passierten. Der Moment, in dem ich beschlossen habe, die Türkei zu
verlassen, war die Nacht des Putschversuchs. Ich dachte mir, dass diese
Nacht Folgen haben wird, die auch mich persönlich betreffen können. Und das
wollte ich nicht.
Akrap: Du hattest in dem Jahr ständig Kontakt mit der deutschen und der
türkischen Regierung. Waren das ähnliche Begegnungen oder ist es etwas
anderes, mit deutschen und mit türkischen Behörden zu verhandeln?
Mayatürk Yücel: Da gibt es auf der einen Seite Deutschland, eine anerkannte
Demokratie und ein Rechtsstaat. Und auf der anderen Seite ein Land, in dem
das Gegenteil davon herrscht. Trotzdem musst du für beide Seiten eine
Sprache finden. Ich bin nie so aufgetreten, als würde ich nur von der
deutschen Seite Hilfe erwarten und der türkischen den Rücken zuwenden. Den
türkischen Vertretern habe ich gesagt: „Das ist auch euer Bürger, ihr steht
in der Verantwortung. Ich habe sie gefragt: Warum ist Deniz in
Isolationshaft? Warum werden seine Briefe nicht zugestellt? Warum wird er
selbst beim Sport alleine gelassen?“ Es war mir wichtig, diesen Dialog zu
führen.
Akrap: Und der war auch fruchtbar?
Yücel: In Sachen Haftbedingungen teilweise schon. Ein Beispiel: Bei den
Besuchen ohne Trennscheibe dürfen Ehepartner nicht neben den Gefangenen
sitzen, sondern am Tisch gegenüber. Dilek hat sich im Gespräch mit dem
stellvertretenden Justizminister die Erlaubnis erkämpft, dass wir
nebeneinander sitzen dürfen.
Mayatürk Yücel: Noch wichtiger: Meine Gespräche mit der türkischen Seite
haben, zusammen mit den Bemühungen der Bundesregierung, dazu geführt, dass
Anfang Dezember die totale Isolationshaft aufgehoben wurde. Wenn ich den
Verantwortlichen das Unrecht ins Gesicht gesagt habe, wussten die manchmal
einfach nichts darauf zu sagen. Ich habe zum Beispiel dem stellvertretenden
Justizminister erzählt, dass selbst Briefe, die von der Welt ins Türkische
übersetzt worden waren, nicht an Deniz weitergegeben wurden, obwohl es
zuvor geheißen hatte, türkische Briefe würden zugestellt. Das hat auch ihn
überrascht.
Akrap: Wann und wie hast du erfahren, dass du freigelassen wirst?
Yücel: Am Freitagmittag in meiner Zelle, als im Nachrichtensender Halk TV
die Eilmeldung kam: „Deniz Yücel ist frei.“ Da habe ich auf CNN-Türk
umgeschaltet, auch dort hieß es: „Deniz Yücel ist frei.“ Ich sah mich um
und dachte: Na ja, noch nicht so ganz. Dann lief ich zu meinem Nachbarn,
dem Journalisten Oğuz Usluer. Wir haben uns umarmt. Kurz darauf kamen die
Aufseher und sagten: „Sachen packen, du kommst frei.“ Ich habe alles in
Mülltüten gepackt, die in eine Art Handkarren geladen wurden. Dann ging es
zum Gefängnisdirektor, um die Formalitäten zu erledigen. In seinem Büro
hatten sich die Oberaufseher versammelt. Alle lächelten. In so dieser
Situation wollen sie Absolution – und dass alle nett zueinander sind.
Akrap: Lass mich raten: Du warst nicht nett.
Yücel: Ich habe nach den Briefen gefragt, die mir nicht zugestellt worden
waren, der Direktor hat mir drei überreicht. Ganze drei! Ihr wisst, dass
mir die Briefe von Dilek und von meiner Schwiegermutter ausgehändigt
wurden. Ansonsten bekam ich nur sehr vereinzelt Briefe. Da musste ein
ganzer Berg auf mich warten.
Böhmer: Wir haben allein von der SchreibDeniz-Aktion ungefähr 2.000 Briefe
unserer Leser an dich ins Gefängnis geschickt. Und von den
Solidaritätspostkarten, die MyPostcard kostenlos bereitgestellt hat, wurden
bis zu deiner Freilassung mindestens noch mal 2.000 verschickt.
Yücel: Aber der Anstaltsleiter hat darauf beharrt, dass es nur drei Briefe
für mich gebe. Daraufhin sagte ich ihm, dass die Briefe illegalerweise
vernichtet worden seien. Hier laufe nichts illegal, erwiderte er.
Schließlich habe ich ihm eine Strafanzeige angekündigt. Da hörten die Leute
im Büro auf zu lächeln.
Akrap: Und haben sie dir die Briefe gegeben?
Yücel: Nein. Meine Anwälte gehen der Sache nach. Ich war ein letztes Mal
wütend. Aber als ich vor das Gefängnistor trat, war das vorbei. Damit ist
nichts vergessen und schon gar nicht vergeben. Aber meine Wut habe ich im
Gefängnis gelassen. Ich glaube, auch gehört dazu, sich nicht fertigmachen
zu lassen: nicht verbittert rauszukommen. Dann hätten die gewonnen.
Akrap: Für mich begann deine Freilassung am Vortag, am Donnerstag, dem 15.
Februar. Da rief Daniel mich an und fragte, ob ich mal schnell in die
Welt-Redaktion kommen könne. Dort lautete die erste Information: Deniz kann
sofort das Gefängnis verlassen, aber er will nicht. Und ich habe etwas
entgeistert gefragt: Warum denn nicht? Jetzt kann ich dich fragen.
Yücel: Natürlich wollte ich raus. Aber mir wurde gesagt, ich solle das Land
mit einem Flugzeug der Bundesregierung verlassen. Das habe ich abgelehnt.
Ich bin kein Angestellter der Bundesregierung, und kein deutscher Agent,
den man ausfliegt. Nach einem Jahr Haft aus politischen Gründen wollte ich
nicht als Spielball benutzt werden. Wenn Erdoğan sich etwas davon
verspricht, mich einzubuchten, werde ich eingebuchtet. Und wenn er sich
etwas davon verspricht, mich rauszulassen, dann soll ich wieder raus – und
dazu soll ich nichts sagen? So lasse ich mit mir nicht umgehen.
Akrap: Sorry, aber das klingt etwas crazy.
Yücel: Es war ja nicht so: Entweder dieses Flugzeug oder lebenslang in
diesem Loch. Mein Antrag vor dem türkischen Verfassungsgericht lief, ebenso
das Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Und was
sollte mir schon passieren? Mit Gefängnis konnte man mir nicht mehr drohen.
Nach einem Jahr jagt dir das keine Angst mehr ein. Allerdings hat diese
Furchtlosigkeit etwas Ambivalentes. Das ist mir im Gespräch mit Dilek
bewusst geworden.
Mayatürk Yücel: Ich habe dir gesagt: Auch das ist eine Form, sich der Haft
zu ergeben. Zu akzeptieren, dass du im Gefängnis bist und bleibst.
Böhmer: Der türkische Ministerpräsident Binali Yıldırım hatte am Mittwoch,
dem Jahrestag deiner Festnahme am 14. Februar, im Interview mit der ARD
gesagt, [12][er hoffe auf deine baldige Freilassung.]
Yücel: Ja. Aber dass sie mich dann so schnell freigelassen haben, ist
beinah beängstigend. Da hat jemand offensichtlich auf Anweisung der
Regierung gehandelt – und zwar nicht nur der Staatsanwalt, der dem
Justizministerium unterstellt ist, sondern auch der Richter. Dieses Regime
tut nicht einmal mehr so, als gäbe es eine Unabhängigkeit der Justiz. Ich
denke, die haben das für eine freundliche Geste gehalten, an dem Tag, an
dem Yıldırım zu Besuch in Deutschland war, meine Freilassung zu verkünden �…
ungefähr so, wie sie es beim G20-Gipfel Ende 2015 in Antalya für eine
freundliche Geste gehalten haben, für jeden Staatsgast einen Bademantel
herstellen zu lassen, mit dem jeweiligen Namensschriftzug und Nationalfahne
auf der Brust. Dieser Staat ist in jeder Hinsicht kaputt – institutionell,
moralisch, ästhetisch.
Böhmer: In oppositionellen Kreisen in der Türkei hieß es nach deiner
Verhaftung vereinzelt, du seist privilegiert, weil hinter dir Angela Merkel
gestanden habe, während andere verhaftete türkische Journalisten ohne diese
Hilfe auskommen mussten.
Yücel: Dieser internationale Kontext war nicht nur ein Privileg, er hat
mich auch besonders zur Zielscheibe gemacht. Das war der Grund, warum mich
Tayyip Erdoğan mehrfach öffentlich angriff. Meine Verhaftung und meine
Freilassung waren genauso politisch motiviert wie jene der Kollegen von der
Cumhuriyet oder die lebenslangen Haftstrafen für Ahmet und Mehmet Altan und
Nazlı Ilıcak.
Akrap: War es die Bedingung der Türkei, dass du mit einer deutschen
Regierungsmaschine ausgeflogen wirst?
Yücel: Das weiß ich nicht. Das habe ich den deutschen Generalkonsul und
dessen Stellvertreter auch gefragt, aber keine eindeutige Antwort bekommen.
Die haben mir ausgerichtet: Du kannst sofort raus, aber es muss schnell und
geräuschlos laufen. Das habe ich abgelehnt. So ist der Donnertag
verstrichen. In der folgenden Nacht, meiner letzten im Gefängnis, habe ich
wenig geschlafen. Am Freitagvormittag passierte nicht viel. Ich wurde zum
Anwaltsgespräch gerufen, aber es war keiner meiner Verteidiger, sondern
eine Anwältin aus Istanbul, die wie einige andere Juristen aus Solidarität
Gefangene in Silivri besuchen. Auf dem Korridor traf ich meinen
Cumhuriyet-Kollegen Ahmet Şık. Meine Freilassung lag ja in der Luft und
Ahmet rief mir zu: „Das ist super! Mach das! Das kannst du benutzen!“
Akrap: Im Sinne von: Nutz die Chance, hier rauszukommen?
Yücel: Er meinte das im Sinne von: „Halte sie nicht auf, wenn sie sich
blamieren wollen.“ In diesem Moment war das nur meine Interpretation, wir
sahen uns ja nur kurz im Vorbeigehen. Inzwischen ist Ahmet aus der
Untersuchungshaft raus. Als wir neulich miteinander sprachen, habe ihn
danach gefragt. Er sagte: „Ich habe gemerkt, wie angespannt du warst. Aber
die Art und Weise, wie sie dich freilassen wollten, hätte aller Welt
gezeigt, wie es um das Rechtssystem in diesem Land bestellt ist. Ich
dachte: Du solltest das offenlegen. Und das hast du mit deinem Video, das
du nach deiner Entlassung veröffentlich hast, getan.“ Zurück zum Tag meiner
Freilassung: Jedenfalls ging ich nach dem Gespräch mit der Anwältin zurück
in meine Zelle. Kurz darauf kam eine Handvoll neuer Briefe von Dilek – sie
hat mir haufenweise Briefe geschrieben, auf buntem Papier und in bunten
Briefumschlägen, um etwas Farbe in meine Zelle zu bringen. Ich hatte gerade
zu lesen angefangen, als diese Eilmeldung kam.
Akrap: Mit der Regierungsmaschine bist du schließlich nicht geflogen.
Yücel: Nein. Dilek überraschte mich noch vor dem Gefängnistor damit, dass
die Welt so freundlich war, ein Privatflugzeug zu mieten, damit wir alle
zusammen das Land verlassen. Ich glaube, meine Zeitung wollte aus
Sicherheitsgründen, dass ich so schnell wie möglich wegfliege. Ich hätte
damit keine Eile gehabt. Aber das Angebot, mit Dilek, euch beiden und
unseren anderen Freunden, die zu meiner Begrüßung gekommen waren, in ein
Flugzeug zu steigen, wie man sonst in ein Taxi steigt und sich zu einem
Ziel unserer Wahl fliegen zu lassen – dieses Angebot hatte Charme. Aber ich
wollte noch einmal in meine Wohnung. Unsere Katze holen. Und das Video
aufnehmen, in dem ich meine Freilassung kommentiere. Geräuschlos wollte ich
nicht gehen.
Böhmer: Als du aus dem Gefängnistor kamst, hattest du einen Strauß
Petersilie für Dilek in der Hand. Hattest du den schon vorher in deiner
Zelle?
Yücel: Petersilien habe ich immer als Raumschmuck im Knastladen gekauft.
Und natürlich, weil sie mich an Dilek erinnert hat – die „Blume unserer
Liebe“, wie Dilek sie seit unserem ersten Urlaub nannte, weil wir im
Strandkorb immer so viel Petersilie dabeihatten.
Mayatürk Yücel: Dabei war das nur ein kleiner Witz beim Strandfrühstück.
Akrap: War euer Hochzeitsstrauß auch aus Petersilie?
Yücel: Das hatte ich eigentlich so geplant. Als Ersatz für Blumen. Also
nahm ich einen Petersilienstengel. Als ich mich mit der Petersilie in der
Hand aus der Zelle auf den Weg zur Trauung machte, hieß es: „Nein, das
darfst du nicht.“ Das ist ein System, das darauf ausgerichtet ist,
Lebensfreude zu nehmen. Darum ist es auch verboten, Fotos an die Wand zu
hängen. Wir haben geheiratet und ich hatte keine Blumen, nicht mal
Petersilie. Deswegen dachte ich bei meiner Entlassung: Das schulde ich
Dilek.
Akrap: Was wäre passiert, wenn du Fotos von Dilek an die Wand gehängt
hättest?
Yücel: Sie hätten sie abgerissen. Obwohl alles, was da reinkommt, mehrfach
durchsucht wird, gibt es immer wieder Zellenrazzien. Psychoterror. So eine
Zelle ist ja kein Lebensraum, den man sich selber aussucht. Trotzdem ist es
dein Lebensraum, deine Privatsphäre. Alle paar Wochen kommt dann ein Trupp
von zehn Leuten, die alles durchwühlen.
Böhmer: Die Welt-Redaktion musste im letzten Jahr immer wieder Mails mit
derselben Frage beantworten – wie deine Kolumne gemeint sei, die du 2011 in
der taz veröffentlicht hast: [13][„Super, Deutschland schafft sich ab!“]
gemeint sei. Da fragten Leute: Wie kann sich Herr Yücel jetzt von diesem
Land rauspauken lassen, das sich seiner Meinung nach abschaffen sollte?
Willst du selber antworten?
Yücel: Ich habe nie die Forderung gestellt, dass die Bundesregierung mich
rausholt. Die Bundeskanzlerin, der Außenminister, der Generalkonsul und
andere Angehörige der Bundesregierung haben sich für meine Freilassung
eingesetzt, wofür ich sehr dankbar bin. Das hat aber auch der Flörsheimer
Bürgermeister Michael Antenbrink getan. Oder türkische
Oppositionspolitiker, die mich regelmäßig besucht und parlamentarische
Anfragen zu meinem Fall gestellt haben.
Böhmer: Wie ist dieser Text aus dem Jahr 2011, [14][über den gerade erst
der Bundestag debattiert hat], eigentlich entstanden?
Yücel: Auf einer Redaktionskonferenz in der taz erzählte jemand, dass das
Institut für Studien eine neue Studie zum Thema Geburtenrückgang
veröffentlicht habe. Die Fachredakteurin antwortete: „Ach, wir hatten in
der letzten Zeit so viel dazu, ich weiß gar nicht, was wir Neues sagen
sollten.“ Darauf sagte ich aus Jux: Wir könnten es zur Abwechslung ja mal
gut finden, wenn sich Deutschland abschafft. So bekam ich den Auftrag. In
diesem Text – und der zugrundeliegenden Statistik – schaffen sich ja alle
ab, auch die Neudeutschen. Und der Verfasser dieses Textes gehört dem
Kollektiv an, das sich abschafft. Bei Hölderlin, Heine oder Tucholsky
findet man Texte, die noch härter mit Deutschland ins Gericht gehen. Das
hat nicht allein mit dem Nationalsozialismus zu tun, sondern ist viel
älter. Das Hadern mit Deutschland ist deutsch, darum ist dieser Text auch
deutsch. Übrigens ist es genauso deutsch, für einen „unverkrampften Umgang�…
mit der Nation zu plädieren. Auch das macht kein anderer. Aber das blicken
diese Klemmnazis von der AfD nicht. Die können ja kein Deutsch, die sind
nur schwer dafür.
18 Mar 2018
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## AUTOREN
Doris Akrap
Daniel-Dylan Böhmer
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