# taz.de -- Familiennachzug aus Syrien: Flughafen München, Ankunft 7.21 Uhr | |
> Nach drei Jahren darf die Familie von Ayman Hasna, Flüchtling aus Syrien, | |
> nach Deutschland. Endlich – es heißt auch für ihn ankommen. | |
Bild: Wiedersehen nach drei Jahren | |
Am Abend vor der Ankunft seiner Familie sitzt Ayman Hasna mit seinem | |
Schwager in seiner 10-Quadratmeter-Wohnung in Reutlingen. Der Geruch von | |
frisch gekochtem Kaffee mischt sich mit Tabakrauch. Ob er heute noch | |
schlafen wird? Er lacht. Nein, „Kaffee, Zigaretten, Kaffee, Zigaretten.“ | |
Die ganze Nacht, bis es endlich losgeht, um halb vier Uhr morgens. | |
Hasna kniet auf dem Teppich. Vor ihm auf einem kleinen Couchtisch: die | |
Schalen aufgebrochener Sonnenblumenkerne, Kürbiskerne, getrocknete | |
Melonenkerne. Nervennahrung. Daneben randvolle Aschenbecher. Bei der Frage, | |
wie er sich jetzt fühlt, wenige Stunden vor der Ankunft seiner Familie, | |
blickt er auf den Boden. Er sucht nach Worten. Er findet keine. Es gibt | |
keine Worte, nur eine Angst kann er aussprechen: Dass sein achtjähriger | |
Sohn ihn nicht erkennen wird. | |
Drei Jahre hat Hasna auf diesen Moment gewartet. Seit knapp drei Jahren ist | |
er in Deutschland. Ankommen wird er erst morgen. | |
Es war eines der Streitthemen der Koalitionsverhandlungen. Der | |
Familiennachzug für subsidiär Geschützte wurde zunächst bis Juli weiter | |
ausgesetzt. Danach gilt eine Obergrenze von 1.000 Personen pro Monat. | |
Migrationsforscher der Bundesagentur für Arbeit sagen, dass die Familie und | |
damit die Perspektive in Deutschland entscheidend für eine erfolgreiche | |
Integration ist. Sie schätzen die Angehörigen, die nachziehen wollen, auf | |
insgesamt 50.000 bis 60.000 Menschen. | |
## In Syrien war er jemand | |
Sein ganzes Leben war Hasna Flüchtling. Geboren und aufgewachsen in Syrien, | |
im palästinensischen Flüchtlingslager Jarmuk am Rande von Damaskus. Dort | |
hatte er sich und seinen vier Kindern, heute im Alter von 8 bis 22 Jahren, | |
ein erträgliches Leben aufgebaut. Drei Wohnungen besaß er. Neben seiner | |
Arbeit als Schreiner machte er Immobiliengeschäfte, kaufte | |
heruntergekommene Wohnungen auf, renovierte sie, verkaufte sie wieder. Er | |
hatte zwei Autos. Er war jemand. | |
Bis auf den sauber gestutzten, ergrauten Schnurrbart ist Hasna immer | |
glattrasiert. Seine Stirn ist hoch, die Haare an den Schläfen sind grau. Er | |
ist knapp 1,70 groß, füllig, aber nicht dick, trägt meistens eine Stoffhose | |
und Lederschuhe. Sein Auftreten ist das eines betriebsamen, berufstätigen | |
Mannes, auch wenn das kaum die letzten drei Jahre seines Lebens | |
widerspiegelt. | |
„Drei Jahre war das Warten mein Leben“, sagt Hasna. Und drei Versuche | |
brauchte er, um überhaupt nach Europa zu gelangen. Im September 2013 machte | |
er sich mit seinem älteren Sohn Ahmad, seinem Bruder und dessen | |
vierjähriger Tochter auf den Weg, über Ägypten. Fotos der | |
Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch zeigen ihn am 18. September | |
2013 in einem ägyptischen Gefängnis, fünfzehn Tage verbrachte er dort, | |
schlief neben seinem damals zehnjährigen Sohn auf dem Boden. Nach zwei | |
Stunden auf See war ihr Boot vom ägyptischen Militär abgefangen worden. | |
Soldaten schossen in den Rumpf des Boots. Zwei Menschen starben. | |
Wenn sich Hasna daran erinnert, wiederholt er den Namen der erschossenen | |
Frau, die er an Deck trug und deren Sohn direkt neben ihr saß, als sie | |
verblutete. Eine Narbe rechts an seinem Nacken wird ihn immer daran | |
erinnern. Ein Holzsplitter traf ihn, als die Soldaten auf das Boot | |
schossen. Im Frühling 2015 unternimmt er den zweiten Versuch. Dieses Mal | |
alleine, über Sudan und Libyen. Wieder wird das Boot abgefangen. Zwei | |
Wochen später klappt es dann. Italien, Frankreich, Deutschland. | |
Hasna ist aufgeregt, kniet mal auf dem Boden, setzt sich dann wieder auf | |
die Sofalehne. Zwischendurch kocht er frischen Kaffee, der überläuft. Er | |
fuchtelt mit den Armen, wenn er Geschichten von seiner Flucht erzählt. | |
Spricht er von seiner Familie, legt er seine Hand auf die Brust. Er zeigt | |
ein Video von seinem Enkelkind. Die älteste Tochter, Wala, lebt | |
mittlerweile in China. Ihr Mann hatte seine beruflichen Kontakte genutzt, | |
um in China Schutz zu suchen vor dem Krieg. Mit traurigem Lächeln schaut | |
Hasna sich sein Enkelkind an, das er noch nie im Arm halten konnte. Er | |
pustet kräftig aus. „Dieser Krieg hat Familien auseinandergetrieben“, sagt | |
sein Schwager Mohammed Debs, der neben ihm sitzt und schon seit fünfzehn | |
Jahren in Deutschland lebt. | |
Zwölf Tage zuvor, am 16. Januar gegen neun Uhr morgens, sitzt Hasna im | |
Integrationskurs. Er schaut auf sein Handy und fängt an zu lächeln. Eine | |
Mitschülerin fragt ihn, weshalb er plötzlich so fröhlich schaut. Seine Frau | |
hat ihm geschrieben, die deutsche Botschaft in Beirut hat den Nachzug der | |
Familie endlich genehmigt, 18 Monate nachdem Hasna in Deutschland Asyl | |
erhielt. | |
## In Deutschland ist er kopflos | |
In der Pause, als die anderen Kaffee trinken, besorgt Hasna Baklava, ein | |
Gebäck, das zu feierlichen Anlässen serviert wird. Als der Unterricht | |
wieder beginnt, geht er durch den Raum und bietet die Süßspeise reihum an. | |
Jeder muss ein Stück nehmen. Und noch eins. Und noch eins. Hasna hört gar | |
nicht mehr auf, bis die Lehrerin ihn bittet, sich zu setzen. Den Rest des | |
Unterrichts ist Hasna aufmerksam, meldet sich ein paar Mal zu Wort. „Ich | |
sehe ihn heute zum ersten Mal aufpassen. Vorher war er mit dem Kopf nicht | |
hier“, sagt seine Lehrerin nach Unterrichtsschluss. | |
Kurz nach drei Uhr setzen sich Hasna und sein Schwager ins Auto. Die | |
Temperatur ist nahe dem Gefrierpunkt. Die Fahrt geht über die Schwäbische | |
Alb nach München. Auf dem Asphalt droht der morgendliche Tau zu gefrieren. | |
Aus den Boxen klingt die Stimme der libanesischen Pop-Ikone Nancy Ajram. | |
Hasna redet nicht viel. Macht er sich Sorgen, dass die Kinder | |
Schwierigkeiten haben werden, sich einzuleben? Er betont, dass sie fleißig | |
sind, sehr gute Noten schreiben. Auf einem Foto hält der achtjährige | |
Youssef eine Urkunde in die Kamera, die ihn als Klassenbesten ehrt. Seit | |
einem halben Jahr kann er nicht mehr zu Schule gehen. | |
Hasna hat viel darüber nachgedacht, ob er mit seiner Familie eines Tages in | |
ein friedliches Syrien zurückkehren würde. „Aber wenn die Kinder sich | |
eingelebt haben, soll ich sie dann wieder entwurzeln, hin und her? Das ist | |
doch nicht gut für sie, oder? Ich habe mein Leben gelebt. Jetzt lebe ich | |
nur noch für meine Kinder. Damit sie Ärzte und Ingenieure werden können.“ | |
Bei der ersten Halle des Flughafengeländes fragt Hasna, ob sie nicht hier | |
rausfahren sollten. In knapp einer halben Stunde soll die Maschine aus | |
Beirut landen. Vor einem Monat war er schon mal hier, mit einem Freund, | |
dessen Familie nachkam. Heute ist er dran. Vor dem Eingang zum Terminal | |
raucht Hasna hektisch noch eine Zigarette. Am Bildschirm leuchtet die | |
erwartete Ankunftszeit: 7.25 Uhr. Mit 45 Minuten Verspätung soll der Flug | |
ST-4009 aus Beirut landen. | |
Die Maschine der Fluggesellschaft Germania startet jede Woche Montags um | |
3.30 Uhr in Beirut und landet gute vier Stunden später in München. An Bord | |
sind häufig Familien, die nach Deutschland nachziehen. | |
Mütter, Väter, Onkel, Tanten und Kinder warten im Ankunfts-Terminal. Neben | |
Hasna und seinem Schwager sitzen zwei Frauen mit drei Kindern, ebenfalls | |
Palästinenser, die im syrischen Lager Jarmuk lebten. Einer der Jungen, der | |
fünfjährige Fatih, erwartet heute nach zweieinhalb Jahren seine Eltern und | |
Geschwister. Als er mit seinen Tanten flüchtete, war er keine drei Jahre | |
alt. Ob er sich noch an seine Eltern erinnern kann? Hasna schaut den Jungen | |
von der Seite an, schüttelt den Kopf, versteinerte Miene, Tränen in den | |
Augen. Fatih ist nur ein wenig älter als sein Sohn Youssef, als er ihn | |
verließ. | |
Um 7.21 Uhr landet das Flugzeug. Hasna sitzt nach vorne gebeugt auf der | |
Vorderkante seines Sitzes, beide Hände auf die Oberschenkel gestützt, den | |
Blick fokussiert zum Empfangsbereich. Sein Atem ist schwer, seine Knie | |
zittern, er kippt mit dem Oberkörper leicht vor und zurück, klopft mit den | |
Fingern der rechten auf die Handfläche der linken Hand, rutscht schließlich | |
nach hinten in seinen Sitz. | |
Um 7.49 Uhr zeigt der Bildschirm „Gepäck“ an. Lange wird es nicht mehr | |
dauern. Hasna steht nun ein paar Meter entfernt vom Ausgang, aus dem sein | |
Leben ihm gleich wieder in die Arme fallen wird. | |
## Außer Youssef weinen alle | |
Als Erstes kommt die sechzehnjährige Tochter Alma durch die Tür. Sie | |
schiebt den Gepäckwagen in die falsche Richtung. Hasna ruft ihren Namen. | |
Dahinter seine Frau Rokalah und der jüngste Sohn, Youssef. Der Junge zögert | |
kurz, die Hände an seinem Kinn zusammengeballt. Doch als seine Mutter ihn | |
anstupst, läuft er auf seinen Vater zu. Die Arme um seinen Sohn, ihn an | |
sich drückend und hochhebend, brechen die Tränen aus Hasna heraus. Youssef | |
küsst ihn auf die Wange. Den Kleinsten noch in den Armen, schlingen sich | |
auch Alma und Ahmad um ihren Vater. Youssef schaut ungläubig umher. Außer | |
ihm weinen alle. | |
Frau und Kinder haben seit zwei Tagen kaum geschlafen. Die letzte Nacht in | |
Damaskus habe sie fast durchgeweint, erzählt Rokalah Hasna. Sie hat ihre | |
Eltern und Geschwister in Syrien zurückgelassen. Wala, ihre älteste | |
Tochter, die zu Besuch aus China da war, versuchte sie zu trösten. Es gäbe | |
keinen Grund zu weinen, denn sie werde endlich ihre Familie vereinen. Sie | |
selbst werde beim Abschied nicht weinen, sagte Wala trotzig. Dann schenkte | |
Youssef ihr einen Luftballon: „Immer, wenn du einen Luftballon siehst, | |
sollst du daran denken, dass du noch einen kleinen Bruder hast.“ Da brach | |
die große Schwester in Tränen aus. | |
21 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Armin Ghassim | |
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