# taz.de -- Körper und Geschlecht im Mittelalter: Bube, Dame, König, Penis | |
> „Männlich“ und „weiblich“ sind in unserer Gesellschaft natürliche | |
> Begriffe. Die Literatur des Mittelalters kann den Horizont erweitern. | |
Bild: Begehren richtete sich im Mittelalter vor allem auf das, was oberhalb der… | |
Gahmuret, der Vater Parzivals, möchte Eindruck schinden. Beim Einzug in die | |
Stadt Kanvoleis will er dem staunenden Volk beweisen, was für ein | |
vollkommener Ritter er ist. Ihm kommt eine Idee. Auf seinem Pferd sitzend, | |
stellt er sein nacktes Bein zur Schau. Derweil leuchtet seine Mund | |
rubinrot: „Als ob er in Flammen stünde; volle Lippen, wahrlich keine | |
schmalen.“ Der Plan geht auf, die Menge tobt. Alle wollen sie wissen, wer | |
denn der „Ritter ohne Bart sei.“ | |
Der „Parzival“ Wolframs von Eschenbach ist um das Jahr 1200 in | |
mittelhochdeutscher Sprache entstanden. In ihm findet sich nicht nur die | |
Geschichte Parzivals; sein Weg vom Toren zum Ritter. Auch ist der Versroman | |
eine Fundgrube für Körperbeschreibungen, die heutigen Leser*innen | |
befremdlich erscheinen können. Das Bein eines Ritters als seine | |
Visitenkarte? Seine vollen roten Lippen kein Widerspruch zu seiner | |
Männlichkeit? | |
Körperbilder verändern sich. Von der Vorstellung einer Verbundenheit mit | |
dem Universum, die im Mittelalter mit der Astronomie entstand, über die | |
Sorge der Abgeschlossenheit eines Systems, das durch Aderlass und Erbrechen | |
gereinigt werden muss, hin zum [1][modernen Bild einer Maschine], die durch | |
Fitness, Ernährung, [2][Meditation] und [3][Hygiene] optimierbar ist. Über | |
die Jahrhunderte hinweg hatten Menschen stets ein anderes Verständnis von | |
ihrem Körper – und entsprechend von ihrem Geschlecht. Sie sprachen | |
unterschiedlich darüber – fühlten daher wohl auch unterschiedlich. Und | |
immer wurden diese Bilder auch durch die Künste mitkonstruiert. | |
„Der Körper übernimmt Symbolfunktionen, ist Zeichenträger“, sagt Jutta | |
Eming, Professorin für ältere deutsche Literatur an der Freien Universität | |
Berlin. Eming beschäftigt sich mit der Geschlechterdarstellung in der | |
Literatur des Mittelalters. Vielmehr: „Darstellungen“. Im Plural. „Es lä… | |
sich nicht einfach so aus der Literatur ein Körperempfinden des | |
Mittelalters rekonstruieren. Die Literatur folgt Stilisierungsprinzipien, | |
das kann man nicht hintergehen. Aber man kann Hypothesen aufstellen“, so | |
Eming. | |
## Klasse statt Gender | |
Zum Beispiel die Hypothese, dass im Mittelalter der Unterschied zwischen | |
männlichen und weiblichen Körpern weniger bedeutsam war als zwischen | |
Körpern verschiedener Stände. Der „Tristan“ von Gottfried von Straßburg, | |
entstanden um 1210, erzählt von Tristan und Isolde, die sich begehren. Doch | |
was sie aneinander begehren, hat nicht vornehmlich mit ihrem Geschlecht zu | |
tun. | |
„Was immer eine Frau an einem Mann betrachten soll, das alles gefiel ihr | |
gut an ihm“, heißt es, als Isolde Tristan beobachtet, während er ein Bad | |
nimmt. Uns modernen Leser*innen ist klar, welche Körperteile Isolde da | |
angestiert haben könnte. Falsch. Es sind seine „Hände, Augen, Arme und | |
Beine“. Großes Begehren bricht in ihr aus. „Ein so stattlicher Mann mit so | |
vielen Vorzügen.“ Bei einem solchen Körper kommt ihr nur ein Gedanke – | |
nein, nicht Sex. Dieser Mann habe vielmehr einen besseren Stand verdient. | |
Denn Tristan ist zu diesem Zeitpunkt noch als Spielmann unterwegs. Nicht | |
als der höfische Ritter, der er eigentlich ist. | |
Jutta Eming sagt, dass in den literarischen Texten des Mittelalters häufig | |
körperliches Verlangen nach höfischen Körpern inszeniert wird – egal ob | |
männlich oder weiblich. „An der Standeszugehörigkeit und ihrer Ästhetik | |
entzündet sich das Begehren.“ Die Grenzlinien scheinen, so deutet es die | |
Literatur an, also weniger zwischen Mann und Frau als zwischen höfisch und | |
nichthöfisch zu verlaufen. Der höfische Körper ist makellos, ist gehüllt in | |
feine Stoffe. Sowohl Isolde als auch Tristan haben diese Körper. In den | |
Beschreibungen im Text sind sie kaum auseinanderzuhalten. Auch König Marke, | |
der Mann Isoldes und Onkel Tristans, gerät immer wieder ins Schwärmen, | |
sowohl wenn er seine Frau, als auch wenn er seinen Neffen sieht. Tristans | |
Körper zieht ihn an, er möchte ihn immer um sich haben. Sexuelles | |
Verlangen? | |
Diese Texte, sind lange vor dem modernen Konstrukt der Sexualität | |
entstanden. „Homoerotisches wird positiv dargestellt. Nicht aber | |
Homosexuelles. Unsere – nach Freud – sexualisierten Gehirne verstehen den | |
Unterschied nicht immer so richtig“, sagt Jutta Eming. Eine körperliche | |
Nähe zwischen Männern wird in der Literatur des Mittelalters immer wieder | |
zelebriert. Es sind höfische Körper, die sich anziehen, ihre „Höfischkeit�… | |
somit noch vermehren. Von heißen Küssen bis hin zu gemeinsamen Nächten | |
findet sich vieles in den Texten, das wir heute wohl als | |
[4][Homosexualität] deuten würden. An unserem modernen Ort der | |
wissenschaftlichen Gewissheiten meinen wir alles kategorisieren zu können. | |
Homo/Hetero. Mann/Frau. Körper/Psyche. Kategorien jedoch, die zu anderen | |
Zeiten weder verstanden noch gefühlt wurden. | |
## Der Penis als autarkes Wesen | |
An einer anderen Stelle finden wir derweil einen Penis im Zwiegespräch mit | |
einem Haufen Nonnen. Ein Ritter hatte sich von seinem Geschlecht getrennt, | |
nachdem die Geliebte ihm sexuelle Maßlosigkeit vorwarf. Er verendet darauf, | |
der Penis überlebt jedoch unter der Treppe eines Nonnenklosters. Die Nonnen | |
– nach Jahren der sexuellen Entsagung – entdecken ihn, als er durch das | |
Kloster läuft. Ja, dieser Text, entstanden im 15. Jahrhundert, lässt einen | |
Penis durch ein Kloster laufen. Von wem der Text niedergeschrieben wurde, | |
ist nicht bekannt. Die Nonnen jedenfalls veranstalten ein Turnier, um zu | |
bestimmen, wer zweisame Stunden mit dem Penis verbringen darf. Dabei sind | |
Turniere doch eigentlich den Rittern vorbehalten. Das Ganze geht dann auch | |
nicht gut aus. Der Penis verschwindet während des Turniers. Die Nonnen | |
vereinbaren Stillschweigen. Kein Wort soll gesagt werden über diese allzu | |
fleischliche Episode. Im Mittelalter folgte die Niederschrift von Texten | |
auf eine orale Tradition von Geschichten und Stoffen. Der Umstand, dass | |
dieser Text dann niedergeschrieben wurde, deutet also darauf hin, dass er | |
ein gewisses Interesse hervorgerufen hat. | |
Die Idee, dass Geschlechtsteile veränderbar sind, dass etwa ein Penis eine | |
ausgestülpte Vagina sein kann – diese Vorstellungen laufen einem immer | |
wieder, wie der flüchtende Penis, über den Weg. Das Geschlecht ist | |
lediglich eine beliebige körperliche Form, keine Identität. | |
Greifen wir zu einem letzten Buch. Beim „Eneasroman“ Heinrichs von Veldeke, | |
um 1170 entstanden, handelt es sich um einen sogenannten Antikenroman, also | |
die Übersetzung und Christianisierung eines antiken Stoffes – samt | |
heidnischer Götter und Helden. Eine davon ist Camilla. Eine „berühmte und | |
mächtige Frau“. Doch mehr noch, „ritterlich gerüstet“ ist sie, hat ein | |
„tapferes Herz“ und „Beinschienen aus Eisen“. Brienne von Tarth aus der | |
Serie [5][„Game of Thrones“] erinnert an sie. Eine Ritterin, beschrieben in | |
einen Roman aus dem Mittelalter, erschrieben von einem männlichen Autor. | |
Alle diese Beispiele zeigen dabei nicht, dass das Mittelalter eine bessere | |
Zeit war. Dass es damals keine Frauenfeindlichkeit gab, keine Verfolgung | |
und Tötung von sogenannten „Sodomiten“. Aber sie zeigen, dass in der | |
Literatur des Mittelalters Raum war für Vorstellungen von Körper, | |
Geschlecht und Begehren, die viele Leser*innen überraschen dürften. | |
Ein Abstecher in die Literatur des Mittelalters zeigt, dass unsere Körper, | |
unser Geschlecht, unser Begehren keine natürlichen Kategorien sind, sondern | |
historische. Sie formen sich im Diskurs. Wenn es also wieder einmal darum | |
geht, dass Männer wieder „männlicher“ sein sollen, dann denken wir an | |
Gahmuret, sein nacktes Bein und seine brennenden roten Lippen. | |
17 Feb 2018 | |
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## AUTOREN | |
Matthias Kreienbrink | |
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