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# taz.de -- Kulturgeschichte eines Fabelwesens: So rette doch jemand das Einhor…
> Seit Jahrhunderten erzählen sich Menschen von Einhörnern. Als Symbol für
> Existenz und Identität. Jetzt hat es der Kapitalismus für sich entdeckt.
Bild: Sex sells, Einhorn auch
Es ist ein Tier, das es nicht gibt, und trotzdem wird es sterben: das
Einhorn.
Ein paar Beweise: Der Schokoladenhersteller Ritter Sport brachte eine
Einhorn-Schokolade heraus, eine knallpinke Verpackung mit glitzerndem
Regenbogen und debil grinsendem Porträt jenes Fabeltieres,
Geschmacksrichtung „Weiße Schokolade mit Joghurt &
Himbeer-Cassis-Regenbogen“.
Nach gleichem Muster vermarktet die Supermarktkette Edeka
Einhorn-Toilettenpapier. Das Tier hüpft da nicht nur auf der Verpackung,
sondern ist auch in bunten Farben auf das Papier gedruckt. Es riecht nach
Zuckerwatte. Und als wäre das nicht schon genug, steht daneben auch noch
„Believe in your dreams“, also „Glaube an deine Träume“. Ein
Motivationsspruch für’n Arsch. Schön.
Der mecklenburgische Fleischhersteller Puttkammer produziert seit Neuestem
eine Einhorn-Bratwurst. Natürlich in Pink. Und im Bioladen gibt es den dazu
passenden Tee von Sonnentor in einer limitierten Edition. Natürlich in
Rosa.
Das Einhorn ist nicht mehr nur Fabelwesen, sondern anscheinend auch
wundersames Erfolgsrezept des Marktes. Pack ein Einhorn drauf und es kommt
gut an. „Da Einhörner positive Wesen sind, die den Menschen Freude
schenken, passen sie perfekt in unser Sortiment“, sagt
Sonnentor-Pressesprecherin Marie-Theres Chaloupek.
## Die totale Infantilisierung der Gesellschaft?
Seit dem Verkaufsstart im Februar gehöre der Tee zu den Bestsellern. Und
auch die anderen Artikel laufen gut. Edeka erhebt zwar keine genauen
Verkaufszahlen, produziert jedoch bald noch mehr im Einhorn-Look, was auf
einen Erfolg schließen lässt. Und die „quadratisch, praktisch, magische“
Schokolade von Ritter Sport brachte den Server des Herstellers zum Absturz,
Tafeln wurden auf eBay in den dreistelligen Bereich geboten und der
Schokoladenhersteller brachte noch eine zweite Auflage heraus. „Wir hatten
zwar mit großer Begeisterung gerechnet, weil die Nachfrage so hoch war,
waren dann aber doch überrascht, wie schnell die Schokolade ausverkauft
war“, sagt Ritter Sport-Pressesprecherin Franziska Schlotz.
Ritter Sport kam, genau wie Sonnentor, durch ihre Online-Community zu der
Einhorn-Idee. Auf der Homepage des Schokoladenherstellers kreierten
Nutzer:innen in einem Tool, mit dem man neue Sorten erfinden kann, immer
wieder Einhorn-Schokolade. Bei Sonnentor wählten viele ein Einhorn-Etikett
für die gestaltbare Probierbox. „Unsere Fans in den sozialen Netzwerken
waren ganz begeistert von dem Einhorn-Motiv. Deswegen haben wir uns
entschieden, eine limitierte Edition auf den Markt zu bringen“, sagt
Chaloupek.
Instagram und Co sind voll mit Fotos von Einhorn-Kuchen,
Einhorn-Partyhütchen und „Sei immer du selbst – außer, du kannst ein
Einhorn sein, dann sei ein Einhorn“-Memes.
Wer bei dem Anblick all jener zuckerwattenfarbenen Fotos auf die totale
Infantilisierung der Gesellschaft schimpft, liegt falsch. Immerhin ist das
Tier seit Jahrhunderten Teil der Kultur.
## „Teil einer sexy Fruchtbarkeitsgeschichte“
Und seine Geschichte ist beachtlich. „Das erste Mal findet man das Einhorn
in dem großen indischen Epos ‚Mahabharata‘, also weit vor Christus“, sagt
der Professor für Literatur- und Medienwissenschaften Jochen Hörisch von
der Universität Mannheim, der zu Einhörnern forschte und das Buch „Das
Tier, das es nicht gibt“ schrieb.
„Da ist das Einhorn Teil einer sexy Fruchtbarkeitsgeschichte: Es ist Dürre
im Land, die Weisen kommen zusammen und beraten, was man machen könne. Sie
beschließen, sich den Einsiedler Einhorn, also einen Mensch, der ein Horn
auf der Stirn trägt, zu holen. Sie bauen ein Floß und locken ihn damit zur
Königstochter.“ Prinzessin und Einsiedler haben Sex, es regnet, das Land
ist wieder fruchtbar.
Das Fabeltier erscheint hier als Sinnbild der männlichen Fruchtbarkeit. Das
Horn als Penis, der Regen als Ejakulation, das fruchtbare Land als
Schwangerschaft. Ob sich die Marketingbüros, die sich die rosa Etiketten
und die netten Sprüche ausdenken, dieser Konnotation bewusst sind?
Vielleicht das Start-up „Einhorn“, das vegane Kondome verkauft.
Damals ist das Einhorn Protagonist einer Geschichte, die viel über das
binäre Weltbild jener Zeit erzählt. Klar, dass diese Geschichte, in der
durch Sex und das aktive Zutun eines Mannes ein Land gerettet wird, gut
ankam.
Von da an tauchte das fabelhafte Tier mit dem großen Horn immer wieder auf.
„Man kann da ganz klar eine Kette bilden“, sagt Hörisch. „Der Leibarzt v…
Alexander dem Großen schrieb ein Buch über die Kulturen östlich des alten
Griechenlands. Da kommt das Einhorn vor. Das hat Aristoteles gelesen, dann
kommt es bei ihm in der Naturgeschichte vor. Und das liest natürlich Cäsar,
der auch darüber schreibt, jemanden zu kennen, der es gesehen haben will.
So wird es zum Motiv.“
## Imagewandel dank Jesus Christus
Es zeigte sich in der Bibel (oder war es da nur ein Übersetzungsfehler?),
trat dem berühmten Händler Marco Polo gegenüber (oder war es nur ein
Nashorn?) oder posierte für Kunstwerke wie das berühmte Gemälde „Dame mit
dem Einhorn“ von Raffael (oder war es da ursprünglich mal ein Hund?).
Doch irgendwann machte sich das Einhorn frei vom Sex-Image, symbolisiert
Unschuld und Reinheit. Seinem Horn wurden heilende Kräfte zugeschrieben und
es soll sogar Tote wiederbeleben. Geschafft hat es diesen Imagewandel
durch: Jesus Christus.
Erzählt die vorchristliche Geschichte noch von der körperlichen Sexualität
als Ursprung allen Seins, wird sie im christlichen Verständnis zu dem,
worin Christ:innen den Ursprung des Lebens sehen: Gott. Das Fabelwesen ist
nun keuscher und göttlicher Protagonist der unbefleckten Empfängnis.
Im Prinzip kann man sagen, dass dem Christentum die Einhorn-Produkte zu
verdanken sind. Denn die sexuelle Konnotation wurde abgeschwächt und durch
eine heilbringende ergänzt, auf die Marken wie Sonnentor sich jetzt
berufen. Gleichzeitig wurde die männliche Bedeutung aufgebrochen. Das
Einhorn symbolisierte beides: starke, männlich konnotierte Sexualität und
keusche, weiblich konnotierte Unschuld.
## Von Sex über Geistliches zu Gender
Damit wurde es beliebtes Symbolbild für die queere Szene, oft sichtbar auf
Shirts, Flaggen oder GIFs – und setzte sich über die heteronormative
Konnotation im indischen Epos hinweg. „Das Einhorn als queeres Symbol hat
mehrere Ansätze“, sagt Franziska Hesse vom Fachschaftsrat der Gender
Studies an der Ruhr-Universität Bochum, die das Einhorn als Symbol nutzen.
„Zum einen wird es häufig mit Regenbögen, Glitzer und Femininität in
Verbindung gebracht, was auch zu vielen queeren Ästhetiken passt. Außerdem
kann das Einhorn als queere Version eines Pferdes gelesen werden.“ Ihre
favorisierte Erklärung ist aber, dass Einhörner magische, mythologische
Wesen sind, an deren Existenz kaum jemand glaubt. „Ebenso wie viele
Menschen immer noch nicht an die Existenz von zum Beispiel Bi-, Pan- oder
Asexualität oder auch Transidentitäten glauben.“
Egal, zu welchem Zeitpunkt das Einhorn abgebildet wurde – ob zu
vorchristlichen Zeiten, im Mittelalter oder heute –, immer symbolisiert es
die Frage von Existenz, Identität. Dabei wandelte es von Sex über
Geistliches zu Gender und spiegelt damit die Fragestellungen und
Erklärmuster der jeweiligen Zeit wider – eben dadurch, dass seine Existenz
selbst ein Mysterium war.
Nun ist das Einhorn allgegenwärtig. Und damit keineswegs am Höhepunkt
seines Ruhmes angekommen. Denn durch all die rosa Marketing-Kampagnen
verliert es seine Symbolhaftigkeit an die reine Freude am Konsum. Oh dieses
Tier, das es nicht gibt – es wird zu Tode reproduziert.
11 Jun 2017
## AUTOREN
Maike Brülls
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Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
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