| # taz.de -- Flüchtlinge in Not: Freiwillig obdachlos? | |
| > Der Bezirk Mitte verweigere vielen Geflüchteten in Not eine Unterkunft, | |
| > kritisieren Vereine wie Moabit hilft. Die Begründung: Sie hätten ihre | |
| > Lage selbst verschuldet | |
| Bild: Obdachlose schlafen an einem Straßenrand in Berlin | |
| Der Flüchtlingsrat erhebt schwere Vorwürfe gegen den Bezirk Mitte. Dieser | |
| schicke immer wieder anerkannte Geflüchtete „rechtswidrig in die | |
| Obdachlosigkeit“. Zumeist geschehe dies mit dem Argument, man sei nicht für | |
| die Unterbringung zuständig, weil der oder die Betreffende „freiwillig | |
| obdachlos“ sei. | |
| „Das vom Bezirk Mitte angeführte Konstrukt der ‚freiwilligen | |
| Obdachlosigkeit‘ ist ein ungeheuerlicher Skandal“, erklärt der Sprecher des | |
| Rates, Georg Classen. „Menschen, die sich hilfesuchend mit der Bitte um | |
| Unterbringung an die Behörde wenden, sind niemals freiwillig obdachlos“, | |
| sagt er. | |
| In diesem Sinne hatte sich vor zwei Wochen auch Sozialsenatorin Elke | |
| Breitenbach (Linke) anlässlich der 1. Berliner Strategiekonferenz zur | |
| Wohnungslosenhilfe geäußert. Jeder Mensch habe das Recht auf Unterbringung | |
| nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (Asog), sagte sie. | |
| Abweisungen durch Bezirksämter dürfe es nicht geben. „In der Notsituation | |
| müssen wir alle Menschen unterbringen.“ Sie wisse aber: „Die Bezirke stehen | |
| mit dem Rücken an der Wand.“ | |
| Mit dem Überforderungsargument hatte der Bezirksstadtrat für Soziales von | |
| Mitte, Ephraim Gothe (SPD), bereits im vorigen Februar in der Antwort auf | |
| eine Große Anfrage der Linksfraktion im Bezirksparlament die restriktive | |
| Haltung erklärt. Auf die Frage, wie das Bezirksamt erkläre, dass „nahezu“ | |
| alle anderen Bezirke Geflüchtete auch dann erneut unterbringen, wenn sie in | |
| einer Unterkunft Hausverbot bekommen haben, erklärte Gothe, „dass der | |
| Bezirk für rund 30 Prozent aller geflüchteten und ohne wirtschaftliche | |
| Absicherung migrierten Menschen in dieser Stadt zuständig ist“. | |
| ## Druck auf die Verwaltung | |
| „Freiwillig obdachlos“ sind nach Auffassung des Bezirks zum Beispiel | |
| Menschen, die in ihrem Heim Hausverbot bekommen haben, etwa weil sie auf | |
| ihrem Zimmer gekocht oder geraucht haben. Vereine wie Moabit hilft und | |
| Mitarbeiter aus Sammelunterkünften für Geflüchtete beklagen, dass das | |
| Sozialamt von Mitte in letzter Zeit wiederholt Geflüchtete die | |
| Unterbringung mit der Begründung verweigert, sie hätten etwa durch | |
| wiederholtes Rauchen ihre Lage selbst verschuldet. | |
| Laut Gothe ist dies ein „Phänomen“ der neueren Zeit, erklärte er in der | |
| Antwort auf die erwähnte Anfrage. Statusgewandelte Flüchtlinge, also jene, | |
| die trotz ihrer Anerkennung aus Wohnraummangel weiter in einer Einrichtung | |
| leben müssen, würden so versuchen, „die Verwaltung unter Zugzwang zu | |
| setzen“. Sprich: Die Flüchtlinge würden ein Hausverbot provozieren, damit | |
| das Amt ihnen eine Wohnung besorgen muss, um sie vor Obdachlosigkeit zu | |
| bewahren. Dafür werde der Brandschutz missachtet „und damit der Tod von | |
| vielen Mitbewohnern billigend in Kauf genommen“. | |
| Christiane Beckmann von Moabit hilft findet diese Darstellung völlig | |
| übertrieben. Erstens wüssten die Geflüchteten inzwischen, dass es keine | |
| Wohnungen für sie gibt und absichtliche Provokationen sinnlos seien. | |
| Zweitens seien alle ihr bekannten Fälle – inzwischen eine zweistellige Zahl | |
| – in der Tat „Nichtigkeiten“ wie Rauchen auf dem Zimmer. „Bei uns wiegt | |
| Brandschutz ja mehr als Menschenrechte“, so Beckmann. Man müsse jedoch | |
| bedenken, dass Geflüchtete nach spätestens sechs Monaten ein Anrecht auf | |
| eine eigene Wohnung hätten, und dürfe den Frust über die Wohnsituation im | |
| Heim nicht außen vor lassen. | |
| Auch Classen vom Flüchtlingsrat weist darauf hin, dass insbesondere das | |
| Kochen in Heimen eine Folge der langen Unterbringung in Sammelunterkünften | |
| ist – weil für die Menschen das Fertigessen auf Dauer unerträglich sei. Er | |
| zitiert zudem einen Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin, nach dem auch | |
| Wohnungslose, die in ihrer bisherigen Unterkunft wegen mehrfachen Rauchens | |
| Hausverbot haben, einen Anspruch auf Zuweisung einer Unterkunft haben (VG | |
| 23 L 144.17). | |
| Auch die Sozialsenatorin hatte auf der Tagung vor zwei Wochen erklärt, der | |
| Begriff der „freiwilligen“ Obdachlosigkeit sei schwierig. „Das kann nur d… | |
| Betreffende selbst sagen“, so Breitenbach, etwa wenn er eine angebotene | |
| Unterkunft ablehnt – was das gute Recht eines jeden sei. | |
| Zudem weist der Bezirk nicht nur Menschen ab, die Hausverbot bekommen | |
| haben. Der taz liegt der Gerichtsbeschluss zu einem jungen Palästinenser | |
| vor, der legal und mit Zustimmung der Ausländerbehörde von Thüringen nach | |
| Berlin umzogen war und dem das Sozialamt dennoch die Unterbringung | |
| verweigerte. Auch dem Beschluss des Verwaltungsgerichts vom Dezember, den | |
| Mann unterzubringen (VG 23 L 921.17), verweigerte sich die Behörde. Dies | |
| sei erst geschehen, nachdem sein Anwalt bei Gericht die Festsetzung eines | |
| Zwangsgeldes für das Bezirksamt beantragt habe, so der Flüchtlingsrat. | |
| ## Der Bezirk verteidigt sich | |
| Mittes Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel (Grüne) erklärte auf | |
| taz-Anfrage, die vom Flüchtlingsrat genannten Beispiele „geben keinen | |
| Anlass, von einer rechtsfreien Zone Bezirksamt Mitte zu sprechen“. Sie | |
| zeigten vielmehr ein „rechtlich sauberes Verhalten“. Zwar könne es bei 200 | |
| bis 400 Vorsprachen pro Woche auch einmal zu „unangemessenen Verhalten von | |
| Beschäftigten des Bezirksamtes gegenüber den Hilfesuchenden“ kommen. | |
| „Allerdings weiß ich, dass sich alle Beschäftigten ihrer Verantwortung und | |
| auch der schweren Lebensumstände der Hilfesuchenden bewusst sind.“ | |
| Zur Frage, ob er das Argument von Sozialstadtrat Gothe teile, der die | |
| restriktive Haltung des Bezirks mit der Vielzahl der Fälle begründet hatte, | |
| erklärt der Bezirksbürgermeister: Wenn Hausverbote vorliegen oder jemand | |
| mehrfach „zu aus unserer Sicht nicht gerechtfertigten Anliegen“ beim Amt | |
| vorspricht, „muss dann des Öfteren priorisiert werden, was die Gewährung | |
| der knappen Unterbringungskapazitäten angeht“. Im Klartext: Wer „schwierig… | |
| ist, hat schlechte Karten – als ob die Gewährung des Rechts auf | |
| Unterbringung vom Wohlverhalten des Hilfesuchenden abhänge. | |
| ## Auf wackliger Grundlage | |
| Gleichzeitig gibt von Dassel offen zu, dass die Beurteilung der | |
| Hilfesuchenden oft auf wackeliger Grundlage stehe. Die von den Heimen des | |
| Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) ausgesprochenen Hausverbote | |
| „sind für uns oft nur schwer einschätzbar“, schreibt er in seiner | |
| schriftlichen Antwort auf die Fragen der taz. | |
| 24 Jan 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Memarnia | |
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