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# taz.de -- Die Wahrheit: Wuppertal mischt die Karten neu
> Am Geburtsort von Christian Lindner findet sich ein ziviles Bündnis nicht
> mit den desolaten politischen Zuständen im Bund ab. Ein Ortsbesuch.
Vordenker. Einige Vordenkerinnen sind auch dabei. Vordenker – kein Begriff
trifft besser diese Gruppe von Menschen aus dem Bergischen Land. Erst
vergangenen Montag, nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche in Berlin,
hatte man sich gegen Abend im Wetterkrug in Wuppertal-Oberbarmen gegründet.
Zuvor hatten die 31 Männer und 17 Frauen bei Biergedeck und Bütterchen
sondiert, insgesamt knapp acht Stunden. Ganz schlicht, ohne Show.
„Wir haben uns gegenseitig Heimat gegeben, denn von den bundespolitischen
Kräften, die im Geschäft sind, erwarten wir ab sofort nichts mehr für unser
Land“, führt Pit Kärcher aus, langjähriger Archivar im Schwebebahndepot der
Stadt Wuppertal. Auch die AfD scheide als „gesellschaftlicher
Verbrennungsmotor“ zu 100 Prozent aus. „Damit wir uns da nicht falsch
verstehen: Wir lieben Menschen, was man ja von der AfD nicht unbedingt
behaupten kann.“ Auch einen „Kurzprozess“ wie in Österreich könne man s…
so Kärcher, für Deutschland nicht vorstellen.
Die neue Initiative „Wuppertal bewegt“, spontan spendenfinanziert, versteht
sich als gesellschaftlicher Thinktank an der Wurzel und am Zahn der
deutschen Halbwertzeit. Jene hält sie für „sehr bald abgelaufen – kommen
jetzt nicht neue Optionen des politischen Mit- und Übereinanders auf den
Tresen“, so Heike Wölk, die mit nur 29 Jahren eine Damenboutique in
Solingen führt. „Unsere ganze Gesellschaft steht auf dem Spielbrett!“
Auf den FDP-Fregattenkapitän Christian Lindner ist die Gruppe gar nicht gut
zu sprechen. Erst dessen „Fahnenflucht“ im Kindesalter aus Wuppertal, jetzt
die „Fahnenflucht“ im Nassdunklen aus der baden-württembergischen
Landesvertretung zu Berlin. Unschön das. Einst sei es für den „krassen
Chris“, so Wölk, ins nahe Wermelskirchen gegangen, weg von der
großelterlichen „gut“ geführten Wuppertaler Bäckerei – „heute ist de…
ins grell beleuchtete Abseits unterwegs“. Pit Kärcher trommelt sich derweil
mit dem rechten Daumen noch ein Wicküler Pils im Wetterkrug herbei.
Seit Montag tagen die Aktivisten hier unermüdlich, „mehr als eine
Narrenkappe Schlaf ist nicht drin“, grinst Heike Wölk ihre Übermüdung weg.
Dann tippt sie eine „Spirit-SMS“ voller Emojis an die „Kumpels“ von „…
Marsch“ im nordostfranzösischen Kohlebecken. Das Interesse an der Bewegung
„Wuppertal bewegt“ ist weltweit auf allen Kanälen enorm.
## Mitgliedslisten zum Mitnehmen liegen im Bierlokal aus
Ganz analog strömen jetzt auch immer mehr Besucher in das Bierlokal,
vollgekrakelte Mitgliedslisten liegen zum Mitnehmen aus. Vereinzelt wird
der Ruf „nach einem neuen Johannes Rau“ laut. Kurz vor der heutigen
Sperrstunde hat sich später auch noch Brüssel in flüssiger Form von
Jean-Claude Juncker angesagt. „Europa scheitert, wird Deutschland jetzt
nicht endlich zacki, zacki wieder voll handlungsfähig!“, ruft Pit Kärcher
ins Hinterzimmer des Wetterkrugs hinein. „Wohlsein!“, schallt es heraus.
Draußen vor den Butzenscheiben drängen sich Aufnahmeschubkarren, Mikrofone
und Diktiergeräte, Journalistenvolk auch. Uwe Becker vom
Investigativmagazin Italien raucht Querflöte.
Kärcher und Wölk, die Teamleiter von „Wuppertal bewegt“, halten um 16.30
Uhr einen Zettel aus der Gaststätte auf den Bürgersteig heraus. „Gleich
Pressekonferenz drinnen“, steht darauf und: „Optionen. Jetzt. Benennen.“
Der musische Wirt des Wetterkrugs, Eugen Egner, kratzt sich am Kopf. Der
Mann, der in Wuppertal-Oberbarmen lange als Einziger zu Lindner hielt, ja
für sich in Anspruch nahm, ihn quasi erfunden zu haben, indem er das
„Start-up-Konstrukt Chris“ (O-Ton Egner) aus alten Lattenrosten
zusammenzimmerte, dieser Mann hat gerade sichtlich Probleme, eine erste
Zwischenbilanz von „Wuppertal bewegt“ hinter seinem Tresen zu erstellen.
348 kleine Wicküler Pils, 739 große, acht Tonnen Bütterchen seit Montag:
Egner, der eigentlich ein guter Kopfrechner ist, legt müde, aber doch
zufrieden ob des gegenwärtigen Umsatzes seinen Kopf neben der Spüle ab.
Wenig später klopft Pit Kärcher auf das Mikrofon aus Gelsenkirchner Barock.
„Meine Damen und Herren hier im Wetterkrug, Silentium! Jetzt ist der
Zeitpunkt da, alle Optionen für Gesamtdeutschland inklusive Soli-Land auf
den Tisch zu legen.“ Er nickt Heike Wölk zu, die einen schmalen
DIN-A4-Hefter auf den Tisch legt. „Lassen Sie es mich auf den Punkt
bringen: Unser Staat ist zu dick. So lässt sich mit Deutschland kein Staat
mehr machen.“ Kärcher stößt kurz auf. Vier Wege sind es, die aus Sicht von
„Wuppertal bewegt“ zu einer „verschlankten Gesellschaft“ führen, ein
fünfter geht im Rauschen der Zapfanlage vorübergehend unter, wird aber
„nachgereicht“.
Kärcher fingert sich durch den A4-Hefter, dann liest er mit schwerem
bergischen Zungenschlag vom Blatt ab. „Erstens: Merkel darf weg. Steinmeier
reicht. Deutschland braucht ein starkes Präsidialsystem. Ein
Bundeskanzlerpräsident oder eine Bundeskanzlerpräsidentin genügen.
Beteilige dich jetzt auf www.change.org am Wechsel und ändere das
Grundgesetz! Zweitens: Wird Steinmeier amtsmüde, wird Emmanuel Macron
vor-übergehend Kaiser von Deutschland.“
Ganz vereinzelte Pfiffe und sogar Buhrufe schallen durch den Wetterkrug.
Die fleißigen Journalisten schreiben eifrig mit, besonders Uwe Becker vom
Investigativmagazin Italien. Fast völlig geschlossen steht „Wuppertal
bewegt“ hinter seinen Teamleitern.
## Besser Minderheitenregierung statt Minderheitsregierung
Heike Wölk schenkt sich noch einen Sambuca ein, flambiert ihn per
Feuerzeug. „Drittens“, Kärcher rutscht die Lesebrille von der leicht
geschwollenen Nase, „drittens: Besser Minderheitenregierung statt
Minderheitsregierung. In den Monaten mit M regiert NRW, im Januar regieren
die Deutschtürken, im April und August schafft die katholische Kirche an,
die EU an Brückentagen.“ Reger Beifall unter den Delegierten, manche
wechseln zum Thema Weinschorle, während Kärcher zum Schluss kommt:
„Viertens. Neuwahlen sind nicht nötig.“
Draußen knirscht und knackt es plötzlich an diesem fahlen Spätnachmittag.
Ein paar schwarze Schindeln fallen von der gemütlichen bergischen
Restauration mit ihren breiten grünen Fensterläden ab. Dunkel ist die
Limousine, die genau vor dem Eingang von „Wuppertal bewegt“ hält. Martin
Schulz steigt sachte aus, nimmt eigenhändig das Blaulicht vom Auto ab,
verstaut einen 1.-FC-Köln-Schal im Kofferraum. Dann hält er sich
umständlich selbst die Tür des Wetterkrugs auf, kommt dabei ins Straucheln,
landet schließlich punktgenau am Tisch von Pit Kärcher und Heike Wölk.
„Guten Abend allerseits“, sagt der Ex-SPD-Politiker am Boden. Als er sich
wieder aufrichtet, fällt ihm sein Vollbart ab. „Ich bin der Martin. Kann
ich bei euch mitmachen?“
25 Nov 2017
## AUTOREN
Harriet Wolff
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