# taz.de -- Die Wahrheit: Ich als fotografierende Geschwister | |
> Generation Prä-Selfie: Schizophrenes Aufwachsen mit alten Geräten. | |
Bild: Schlimm, schlimm – diese „Generation Selfie“ und ihre notorische Se… | |
In einem anderen Leben war ich ein minderjähriges Geschwisterpaar, | |
bestehend aus Bruder und jüngerer Schwester (Namen unbekannt). Der Bruder | |
neigte stark zum Fotografieren, und die Schwester hantierte bisweilen | |
ebenfalls mit der Kamera. So entstanden im Laufe der Jahre zwangsläufig | |
viele Familienbilder, die meisten davon in unserer großen Wohnung im | |
Stadtzentrum. Mein Bruder- und mein Schwester-Ich fotografierten einander | |
hin und wieder, ein paarmal sogar beim Fotografieren. Da es zahlreiche | |
Aufnahmen gab, die beide Geschwister zugleich zeigten, muss vermutet | |
werden, dass ein weiteres Familienmitglied sie gemacht hat. | |
Wir hatten eine Mutter und eine mutmaßliche Großmutter, doch weder die eine | |
noch die andere pflegte zu fotografieren. Wie es sich mit einem Vater | |
verhielt, weiß ich nicht. Gelegentlich war da ein Mann in Mutters Alter, | |
doch der sah uns kaum ähnlich genug, um unser Vater zu sein. Gleichwohl | |
konnte mein Schwester-Ich wenigstens seine Vierschrötigkeit geerbt haben. | |
Der Mann hatte irgendetwas mit dem Reisebüro unter unserer Wohnung zu tun, | |
vielleicht war er sogar der Inhaber. Wie es schien, unternahm er des | |
öfteren gemeinsame Weltreisen mit Mutter. Von diesen Reisen gab es | |
anschließend immer Erinnerungsfotos, die laut Mutter besagter Mann gemacht | |
hatte. Er könnte also auch welche von uns Geschwistern gemacht haben. | |
Beim Bleigießen, beim Anmalen von Gegenständen, beim Schreiben und Lesen, | |
beim Sitzen an Tischen, beim Herumstehen mit und ohne Aktentasche, bei | |
chemischen Experimenten, beim Rührlöffelablecken und auf der Straße. Ein | |
einziges Mal nur ist dieser Mann selbst auf einem Bild zu sehen, zusammen | |
mit meinem Bruder-Ich und einer großen Eisscholle, die beide hochhalten wie | |
eine Anglertrophäe. Vermutlich hat mein Schwester-Ich das Foto gemacht. | |
Näheres hierzu ist nicht überliefert. | |
Es war auf Dauer sehr anstrengend für mich, zur selben Zeit zwei Personen | |
sein müssen. Als dann die Schwester zur Tanzschule und der inzwischen | |
volljährige Bruder zum Militärdienst sollten, war es endgültig soweit. | |
Unausweichlich kam der Tag, an dem das Fass überlief. Mein Schwester-Ich | |
schwang sich, immer vierschrötiger werdend, vor der Wohnzimmerschrankwand | |
zu einer gar klumpigen Ekstase auf, und mein Bruder-Ich sprang von früh bis | |
spät bellend an die Decke. Das hätte jemand fotografieren müssen! | |
Entweder unsere Mutter oder besagter Mann brachte uns zur Graafschen | |
Heilanstalt. Diese Heilanstalt, die vielleicht gar keine war, sondern etwas | |
Geheimes und Monströses, füllte die Etagen sämtlicher Häuser einer Straße | |
in Bahnhofsnähe. Durch eine so einfache wie geniale Maßnahme, bei der eine | |
kleine Gummipuppe zum Einsatz kam, konnten die Geschwister zum Abklingen | |
gebracht werden. Was übrigblieb, war ein Strunk von einem | |
Einzelbewusstsein, das sich gut zum Kuchenessen und Schlafen eignete. | |
6 Feb 2018 | |
## AUTOREN | |
Eugen Egner | |
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