# taz.de -- Die Wahrheit: Gräfelfing forever | |
> Verschwundene Politiker: Noch immer geistert der einstmalige | |
> Kommunalfürst Eberhard Reichert durch die Träume seiner bayerischen | |
> Untertanen. | |
Bild: So schaugts aus: der künftige Bayernfürst Söder | |
Neulich hatte ich einen Traum. Ich ging die Bahnhofstraße meiner Kindheit | |
entlang, bekleidet nur mit bodenlanger Regenjacke und Frotteeunterhose. Auf | |
Höhe des Papierhauses Winter fiel mir ein, dass ich meinen Radiergummi zu | |
Hause vergessen hatte. Gerade als ich kehrtmachen wollte, streckte sich mir | |
eine Hand entgegen. „Ich grüße dich mein Kind, hier hast du deinen | |
Radiergummi. Viel Erfolg damit in der Musikschule!“ Und schon war die Hand | |
im Schleier des Traumes verschwunden. | |
Jedoch noch vor dem Aufwachen wusste ich den mildtätigen Spender zu | |
benennen – es war kein geringerer als Dr. Eberhard Reichert, 1972 der | |
jüngste Bürgermeister Deutschlands bei Amtsantritt und gleichzeitig der | |
wohl altersloseste Mensch, der je einer westdeutschen Kommune vorgestanden | |
hat. Als Reichert, das fiel mir dann beim Aufwachen wieder ein, 30 Jahre | |
später die Amtskette von Gräfelfing, Landkreis München, niederlegte, war er | |
60 Jahre alt. Genauso gut hätte er aber noch 40 Jahre weiter Deutschlands | |
jüngster oder ältester Bürgermeister bleiben können. | |
Hellblondgrauer Ostpreussenschopf, allseits freundliches, kegelrobbenhaftes | |
Mondgesicht: So wandelte Reichert 30 Jahre lang durch die mit Speck und | |
wohliger Zufriedenheit gepflasterten Straßen der Suburbia. 1912 wollte man | |
dort eine rein Esperanto sprechende Villensiedlung namens „Parkurbo | |
Esperanto“ errichten; später lebten Horst Tappert und Rennfahrer Adrian | |
Sutil in Gräfelfing. | |
Beim mit sich selbst Gassi gehen trug Eberhard Reichert als promovierter | |
Jurist – außer einem staubbeigen Überzieher und einem doppelreihigen Sakko | |
nebst Rollkragenpulli – stets das Mantra seiner Vereinigung, der | |
„Interessengemeinschaft Gartenstadt Gräfelfing“ (IGG) auf den Lippen: | |
„Gutes bewahren, Gefahren abwehren, parteifrei bleiben“. | |
Was nach Pfadfindermotto riecht, ist die Essenz eines „kommunalpolitischen | |
Urgesteins“, wie die Gazetten Eberhard Reichert gleich nach Amtsantritt | |
tauften. Ursprünglich als Verhinderungsverein der A 96 gedacht, die heute | |
längst durch die „Insel der Seligen“ (O-Ton Gräfelfing) führt, stellt die | |
IGG bis dato, im Windschatten der bräsigen CSU, den obersten Bürger der | |
Gemeinde, mittlerweile eine Frau. An das Eberhard Reichert innewohnende, | |
herzlich leitz-ordnersche Charisma kann seine Nachfolgerin jedoch leider | |
nicht anknüpfen. | |
Er, der Ehrenbürger Gräfelfings, und davon gibt es in der über 1.250 Jahre | |
alten Geschichte der Gemarkung nur insgesamt Stücker acht, ist also seit 15 | |
Jahren als ewiger jüngster westdeutscher Bürgermeister verschwunden. Einer | |
behördlichen Wiedervorlage gleich, geistert er jedoch ob seiner profunden | |
Ausstrahlung, nicht nur durch meine Träume. Da bin ich mir sicher. Den | |
Radiergummi, den mir Eberhard Reichert letztens vor dem Papierhaus Winter | |
zusteckte, verwahre ich jedenfalls gut. Auch Frotteeunterhosen und | |
bodenlange Regenjacken sind nicht zu verachten. Nur die Bahnhofstraße | |
meiner Kindheit, die ist immer noch grottenhässlich. | |
19 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Harriet Wolff | |
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