# taz.de -- Debatte EU-Osterweiterung: Radwege und Rassismus | |
> Seit zehn Jahren ist Bulgarien Mitglied der EU. Es gab viele Hoffnungen. | |
> Doch es ist noch immer das ärmste und korrupteste Mitgliedsland der EU. | |
Bild: In der EU ist Bulgarien seit zehn Jahren, doch die Probleme sind geblieben | |
Als der bulgarische Politikwissenschaftler Iwan Krastew unlängst in Sofia | |
seinen Essay „Sled Evropa“ (auf Deutsch „Europadämmerung“) vorstellte,… | |
der Saal voll. Mindestens genauso interessant wie Krastews Analyse der | |
aktuellen Situation sowie möglicher künftiger Entwicklungen waren die | |
Fragen und Kommentare aus dem Publikum. Ein Zuhörer brachte es auf den | |
Punkt: Bulgarien, sagte er, sei schon immer der Hintern Europas gewesen. | |
Der Mann hat recht – leider. 2006 zeigte eine große Uhr im Zentrum der | |
Hauptstadt Sofia die noch verbleibende Anzahl der Tage bis zum EU-Beitritt | |
an. Die Erwartungen der Bevölkerung waren immens – auch wenn der damalige | |
sozialistische Regierungschef Sergei Stanischew in einem Interview mit der | |
taz einräumte, niemand solle sich einbilden, am 1. Januar 2007 in einem | |
anderen Land aufzuwachen. Schon damals konnte jeder wissen, der es wissen | |
wollte, dass die Aufnahme Bulgariens, wie auch Rumäniens, vor allem eine | |
politische Entscheidung war. Doch Brüssel hatte einen Zug aufs Gleis | |
gesetzt, der nicht mehr aufzuhalten war. | |
Heute, zehn Jahre danach, fällt die Bilanz eher ernüchternd aus. Bulgarien | |
ist mit einem jährlichen Bruttoinlandsprodukt von 6.500 Euro (Deutschland: | |
40.000 Euro) nicht nur das ärmste, sondern auch das korrupteste Land in der | |
EU. Laut einer Analyse der US-Organisation Global Financial Integrity gehen | |
dem Staat dadurch jährlich 14 bis 22 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, das | |
entspricht zwischen 10 und 6 Milliarden Euro, verloren. Im vergangenen Juni | |
wurden 22 bulgarische Grenzpolizisten festgenommen, die kräftig abkassiert | |
hatten, wie die Beschlagnahme von umgerechnet 33.000 Euro zeigte. | |
Auch was die Schattenwirtschaft betrifft, ist Bulgarien mit einem Anteil | |
von 30 Prozent am Bruttoinlandsprodukt in der EU Spitzenreiter. Die | |
Verluste für die Staatskasse betragen jährlich rund 1 Milliarde Euro. Bei | |
Durchschnittslöhnen von 500 Euro monatlich – der Mindestlohn liegt bei 235 | |
Euro – und Lebenshaltungskosten, die sich westlichen Standards annähern, | |
kommen viele Bulgaren nur knapp über die Runden. Rentner müssen sich mit | |
lausigen Altersruhegeldern bescheiden und sind vielfach auf die | |
Unterstützung von Verwandten angewiesen. | |
## Der Braindrain hält unverändert an | |
Anfang November demonstrierten in Sofia Mitarbeiter wissenschaftlicher | |
Einrichtungen, die mit umgerechnet 350 Euro monatlich abgespeist werden, | |
für eine Lohnerhöhung. Der Braindrain, der Bulgarien schon seit dem Fall | |
des Kommunismus 1989 beutelt, hält unverändert an. Angaben der Bulgarischen | |
Akademie der Wissenschaften zufolge wird das Land mit sieben Millionen | |
Einwohnern in den kommenden fünf bis zehn Jahren bis zu 400.000 gut | |
qualifizierte Arbeitskräfte verlieren. | |
Auch bei der Infrastruktur, für deren Ausbau Sofia allein im kommenden Jahr | |
800 Millionen Euro aus dem Budget der EU erhält, gibt es noch reichlich | |
Luft nach oben. Die Straßen in Sofia sind, abseits der Hauptverkehrsadern, | |
in einem erbärmlichen Zustand. Das Gesamtbild wird auch nicht dadurch | |
besser, dass es jetzt, sehr zum Unmut vieler Autofahrer, in Sofia die | |
ersten Radwege gibt. | |
Von den enttäuschten Hoffnungen vieler Bulgaren profitieren, wie in anderen | |
Ländern auch, vor allem rechtspopulistische Gruppierungen. Bevorzugtes | |
Hassobjekt der „Vereinigten Patrioten“, die seit den Neuwahlen im März | |
dieses Jahres an der Seite der konservativen Partei GERB (Bürger für eine | |
europäische Entwicklung Bulgariens) in der Regierung sitzen, sind | |
Geflüchtete und Migranten. | |
Für eine entsprechend negative Stimmung sorgt der parteieigene | |
Fernsehsender SKAT, der sich auch gern in Hetztiraden gegen die EU ergeht. | |
Da tut es dann auch nichts zur Sache, dass die Anzahl von Geflüchteten in | |
Bulgarien 2017 drastisch gesunken ist und die Unterbringungskapazitäten | |
derzeit nur zu einem Fünftel ausgeschöpft sind. Laut einer Umfrage vom | |
vergangenen Oktober waren 84 Prozent der Meinung, dass Geflüchteten aus dem | |
Nahen Osten die Einreise nach Bulgarien verweigert werden solle. Zwei | |
Drittel der Befragten wollen keine Geflüchteten als Nachbarn haben. | |
## Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2018 | |
Im Umgang mit der türkischen Minderheit sind die Rechten ebenfalls nicht | |
zimperlich. Unlängst verstieg sich der patriotische Abgeordnete Walentin | |
Kasabow zu der Aussage, die Türken sollten ihr Maul halten, andernfalls | |
würden sie wie Kakerlaken zermalmt. Vor dem Hintergrund dieser wenig | |
erfreulichen Entwicklungen darf man auf das erste Halbjahr 2018 gespannt | |
sein, wenn Bulgarien zum ersten Mal die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt. | |
Ob dieser Vorsitz unter dem Motto „Einigkeit macht stark“ zu einem Erfolg | |
oder Desaster wird, hängt jedoch nicht nur von den Verantwortlichen in | |
Sofia ab, sondern auch von Brüssel. In diesem Zusammenhang muten die | |
Einlassungen von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bei einem | |
Treffen mit dem bulgarischen Ministerpräsidenten Bojko Borissow am 8. | |
November in Brüssel bizarr an. Europa sei Teil der DNA Bulgariens. Das | |
Land habe seit dem ersten Tag nach dem Beitritt wie einer der Gründer der | |
Union agiert, sagte Juncker. | |
Eine derartige Einschätzung zeugt von Realitätsferne. Und die ist absolut | |
kontraproduktiv, wenn es darum geht, die genannten Probleme Bulgariens | |
ernsthaft anzugehen. Wie sehr das nottut, ist in einem Bericht der | |
Kommission, also Junckers Behörde, von vergangener Woche nachzulesen. Beim | |
Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität seien Bulgariens | |
Fortschritte bei weitem noch nicht ausreichend, heißt es da – mal wieder. | |
Aber es gibt auch andere Stimmen in Brüssel. Věra Jourová, EU-Kommissarin | |
für Justiz, Verbraucherschutz und Gleichstellung, regte an, die Vergabe von | |
Geldern an die Entwicklung des Rechtsstaats zu koppeln – eine | |
unmissverständliche Botschaft nicht nur an Polen und Ungarn, sondern auch | |
an Bulgarien. Noch unterstützen 55 Prozent der Bulgaren die | |
EU-Mitgliedschaft ihres Landes. Doch die Stimmung könnte kippen. Und das | |
kann sich keiner ernsthaft wünschen. | |
26 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Barbara Oertel | |
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