| # taz.de -- Debatte Familiennachzug: Hochstilisiertes Problem | |
| > Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden zu Opfern des politischen | |
| > Taktierens. Dabei wird mit falschen Voraussetzungen gearbeitet. | |
| Bild: Kinder aus politischem Kalkül von ihren Eltern getrennt halten, geht mal… | |
| In den Wochen [1][der Koalitionssondierung] wurde so getan, als könnte es | |
| [2][beim Familiennachzug] für subsidiär geschützte Kriegsflüchtlinge nur | |
| Alles oder Nichts geben. Warum eigentlich? Die Zahl der Asylanträge | |
| unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge ist laut Daten des Bundesamts für | |
| Migration und Flüchtlinge (BAMF) zwischen Januar und Oktober 2017 auf etwa | |
| 8.100 gesunken. Nach einem Bericht der Bundesregierung lebten im Februar | |
| 2017 insgesamt knapp 44.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in | |
| Deutschland. | |
| Ferner reisten laut offiziellen Angaben gerade mal 442 Personen im Jahr | |
| 2015 – also vor der Aussetzung des Familiennachzugs – als Eltern | |
| unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge nach Deutschland ein. Ein | |
| erheblicher Anteil der flüchtenden Minderjährigen ist während der Flucht | |
| von den Angehörigen getrennt worden. Hier von einem Kalkül zu sprechen, | |
| dass Familien gezielt ihre Kinder als Vorhut schickten, wirkt leicht | |
| zynisch. | |
| Ein Blick in die Alters- und Geschlechterstatistik unbegleiteter | |
| Kriegsflüchtlinge zeigt, dass es sich überwiegend um männliche Jugendliche | |
| handelt. In Syrien, im Irak und in Afghanistan sind jedoch Familien mit nur | |
| einem Kind eine Seltenheit. Die betroffenen Eltern werden also durch das | |
| bestehende deutsche Aufenthaltsgesetz vor die unmenschliche | |
| (Schein-)Alternative gestellt, entweder ihre noch jüngeren Kinder im | |
| Kriegsgebiet allein lassen zu müssen oder aber ihrem durch Flucht | |
| geretteten älteren Kind nicht nach Deutschland folgen zu können. | |
| Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf eine Anfrage der Linksfraktion | |
| im März ausdrücklich ihre Auffassung bekräftigt, dass das deutsche | |
| Aufenthaltsgesetz keinen Geschwisternachzug kennt. Obwohl auf diese Weise | |
| bereits nach geltender Rechtslage ein wirksamer Hebel für die Verhinderung | |
| von Familiennachzug bestand, hat die Regierung mit der Aussetzung des | |
| Rechts auf Familiennachzug auch unbegleitete Minderjährige einbezogen. Das | |
| Argument, dass ein massenhafter Familiennachzug zu befürchten sei, kann | |
| zumindest in Bezug auf diese Gruppe im Ergebnis als grob tatsachenwidrig | |
| entlarvt werden. Wo ist also der Anlass, ein zahlenmäßig derart | |
| geringfügiges Scheinproblem derart hochzustilisieren? | |
| ## Flüchtlinge sind für die CSU reine Manövermasse | |
| Wie sehr bei der CSU die Ablehnung des Familiennachzugs zur reinen | |
| Prinzipienreiterei geworden ist, zeigte ihre Ablehnung des lächerlichen | |
| Kompromissvorschlags der Kanzlerin, man könne monatlich 500 | |
| Familienangehörige von subsidiär geschützten Kriegsflüchtlingen aufnehmen. | |
| Horst Seehofer erklärte daraufhin lediglich, man wolle eigentlich überhaupt | |
| keine Familienangehörigen nachziehen lassen. Es hat Tradition bei der CSU, | |
| auf den möglichen Verlust der absoluten Mehrheit bei den Landtagswahlen mit | |
| Hysterie zu reagieren. Zunehmend entsteht der Eindruck, dass die | |
| Flüchtlinge für die bayerische Parteiführung reine Manövriermasse ohne | |
| menschliche Bedeutung sind. | |
| Solange die Kirchen die CDU gegen die CSU verteidigen konnten, hatten sie | |
| sich öffentlich vor die Flüchtlinge gestellt. Jetzt, wo sich die Union in | |
| vereinter Stellung gegen die Forderungen der Grünen nach Familiennachzug | |
| befindet, halten sich die Kirchen in wenig vornehmem Schweigen zurück. Im | |
| Spannungsfeld zwischen Ideologie und Gegenideologie ist vor allem aus | |
| Kreisen der CDU die Frage gestellt worden, ob es sinnvoll sei, | |
| Flüchtlingsfamilien in Deutschland zu integrieren, die voraussichtlich in | |
| einigen Monaten wieder in ihr Heimatland zurückgeführt würden. Diese Frage | |
| zielt offenbar überwiegend auf das Drittel syrischer Flüchtlinge, das | |
| vielleicht nach einer endgültigen Niederlage des „Islamischen Staats“ in | |
| befriedete Regionen Syriens zurückkehren könnte. | |
| Auch wenn angesichts der vielfältigen Konfliktlinien im syrischen | |
| Bürgerkrieg eine solche Rückführungsperspektive in absehbarer Zeit gewagt | |
| erscheint, weist diese Frage indirekt den Weg zu einem Kompromiss in der | |
| Frage des Familiennachzugs: Man könnte genau denjenigen Familienangehörigen | |
| den Nachzug nach Deutschland gewähren, deren körperliche Unversehrtheit | |
| akut bedroht ist. Ein solches Kriterium ist weit humaner als der eher | |
| eigennützige Gedanke der FDP-Führung, über das neu zu schaffende | |
| Einwanderungsgesetz einigen wenigen Flüchtlingen, die bereits eine | |
| Arbeitsstelle haben, den Nachzug ihrer Familienangehörigen zu ermöglichen. | |
| Aber wie denkt die Bevölkerung über den Familiennachzug? Gerade wenn man | |
| die 13 Prozent der AFD-Anhänger pauschal als Gegner der Flüchtlingspolitik | |
| der Kanzlerin wertet, wird man umgekehrt anerkennen müssen, dass die | |
| restlichen 87 Prozent für diese votiert haben. Die Penetranz, mit der in | |
| politischen Diskussionssendungen der Unmut der Bevölkerung über die hohe | |
| Zahl von Flüchtlingen behauptet wird, ist sicherlich nicht ohne Folgen | |
| geblieben. Als guter Bürger will man schließlich gern Teil des aktuellen | |
| Mainstreams sein. | |
| ## Schon die Frage ist falsch | |
| Das Meinungsforschungsinstitut YouGov hat im Auftrag der Nachrichtenagentur | |
| dpa Anfang Oktober herausgefunden, dass 56 Prozent der Befragten die | |
| Forderung der CSU nach einer Flüchtlingsobergrenze unterstützen. Nur 28 | |
| Prozent sprachen sich dagegen aus. Die Frage, ob man dafür sei, den Zuzug | |
| von Flüchtlingen nach Deutschland zu begrenzen, suggeriert die reale | |
| Möglichkeit, dass die Zahl der Flüchtlinge grenzenlos steigen könnte, | |
| obwohl längst nichts mehr dafür spricht, dass sich die Ausnahmesituation | |
| des Jahres 2015 wiederholen wird. | |
| Man könnte ja stattdessen fragen: Sollen alle 44.000 unbegleiteten | |
| minderjährigen Kriegsflüchtlinge prinzipiell in Heimen oder Pflegefamilien | |
| untergebracht werden – oder soll ihnen das Zusammenleben mit ihren Eltern | |
| und Geschwistern ermöglicht werden? Und ein mögliche Nachfrage wäre: Sollte | |
| ihnen zumindest dann dieses Zusammenleben ermöglicht werden, wenn die | |
| Familienangehörigen im Herkunftsland weiterhin durch die Kriegswirren mit | |
| dem Tode bedroht sind? Es ist nicht nur zu hoffen, sondern auch anzunehmen, | |
| dass die große Mehrheit der Bevölkerung mit Ja antworten würde. Auch in | |
| Bayern. | |
| 24 Nov 2017 | |
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| ## AUTOREN | |
| Oskar Klemmert | |
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