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# taz.de -- Machtmissbrauch in Unterkünften: Sie suchten Schutz
> Immer wieder misshandeln Wachleute in Unterkünften Geflüchtete. Für die
> Täter hat das so gut wie keine Konsequenzen.
Bild: In der Flüchtlingsunterkunft in Burbach soll es zu mehrfachem Missbrauch…
Es ist der Morgen des 31. Dezember 2016 in der Erstaufnahmeeinrichtung
Hamburger Straße in Dresden. Argjent Mehmeti schläft, als drei
Sicherheitsmänner das Zimmer seiner Familie betreten wollen. Mehmetis Frau
ist noch nicht angezogen. Ihr Mann drückt die Tür zu, die Männer sollen sie
nicht halbnackt sehen.
Dabei werden die Angeln der Tür beschädigt, die Sicherheitsmitarbeiter
machen Mehmeti dafür verantwortlich. Er soll die Unterkunft sofort
verlassen, Mehmeti weigert sich. Die Wachmänner bedrohen ihn, sie hätten
gesagt „Ich mach dich gleich kaputt, was willst du machen?“, erinnert sich
Mehmeti.
Er erstattet Anzeige. „Das Schlimme ist“, sagt er heute, „so was habe ich
von Deutschland nie gedacht. Die Wachmänner sind organisiert und verdienen
zu viel Geld. Deswegen macht da keiner was.“
Es ist nicht der erste Vorfall dieser Art in der Unterkunft. Auf einem
[1][Handyvideo] von Dezember 2016 ist zu sehen, wie Sicherheitsangestellte
nachts Bewohner über den Hof jagen, sie verprügeln. Ein anderes Video vom
Oktober 2015 zeigt, wie Wachpersonal einen Asylbewerber tritt und schlägt.
Ohne im Video ersichtlichen Grund nehmen sie den Mann in den Schwitzkasten
und drücken ihn zu Boden.
Zwei Jahre nach dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise ist es um
die Unterbringung Asylsuchender in Deutschland stiller geworden. Je weniger
Menschen kommen, desto weniger wird über sie berichtet. Doch in
Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften kommt es weiterhin
regelmäßig zu Körperverletzungen durch Sicherheitskräfte, zu Bedrohungen,
manchmal gar zu Misshandlungen. In Berlin stehen Mitarbeiter von
Sicherheitsfirmen im Verdacht, Geflüchtete in die Prostitution vermittelt
zu haben, um mit der Zuhälterei zu verdienen. In den seltensten Fällen
zeigen die Bewohner einer Unterkunft das Wachpersonal an. So wird es noch
stiller. Die taz hat deutschlandweit 20 Fälle analysiert, über einige wurde
bereits berichtet, andere sind neu, so wie der von Argjent Mehmeti. Es geht
um Drohungen, Misshandlungen, um zu wenig Personal, miserable Bezahlung von
Mitarbeitern und fehlende Kontrollen durch Kommunen und Länder. Zusammen
ergeben sie ein besorgniserregendes Bild.
Der Betreiber der Dresdner Unterkunft, in der Argjent Mehmeti, seine Frau
und seine kleine Tochter gelebt haben, ist zum Zeitpunkt der Drohungen das
Deutsche Rote Kreuz. Die Sicherheitsfirma ist vom Land Sachsen beauftragt.
Aus der Landesdirektion Sachsen heißt es auf die Frage, was nach der
Situation an der Tür passiert sei: „Der Vorfall wurde im Anschluss mit
allen Beteiligten ausgewertet.“ Die Sicherheitsfirma, Ihre Wache GmbH, ist
weiterhin für die Unterkunft zuständig. Eva Wagner, Pressesprecherin von
Ihre Wache schreibt: „Mit den betreffenden Personen wurden im Rahmen der
Auswertung umfangreiche Gespräche geführt.“ Die Zimmer hätten aus
brandschutzrechtlichen Gründen durchsucht werden müssen, der Betreiber habe
dies angeordnet.
Bezüglich den Gewaltvideos schreibt Wagner, Ihre Wache könne anhand der
Beschreibung keine bekannten Vorfälle zuordnen. Zu personalrechtlichen
Konsequenzen werde man aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Stellung
nehmen. In derselben Mail droht Ihre Wache, „aus allen in Betracht
kommenden rechtlichen Gesichtspunkten“ gegen die taz vorzugehen, sollte sie
Videos oder Sprachaufnahmen veröffentlichen.
## In nur zwei Fällen Verantwortliche verurteilt
Bei der weiteren Recherche stößt die taz auf Unterkünfte im
brandenburgischen Finsterwalde, die von dubiosen Berliner Briefkastenfirmen
betrieben wurden. Auf ein laufendes Verfahren gegen zehn Mitarbeiter der
europaweit agierenden European Homecare vor dem Siegener Landgericht, die
Geflüchtete misshandelt, sich der Freiheitsberaubung oder unterlassener
Hilfeleistung schuldig gemacht haben sollen. Und auf Sicherheitskräfte in
Dresdner Unterkünften, die Bewohner wie Argjent Mehmeti und seine Familie
bedrohen und nötigen.
Von allen zwanzig Vorfällen kam es in nur fünf zu einer Entlassung, nur
sechsmal zu einer Anzeige: wegen Nötigung, Körperverletzung und auch
Vergewaltigung.
In nur zwei Fällen wurden Verantwortliche verurteilt, wie etwa im
niedersächsischen Lingen, wo zwei Wachmänner Geflüchtete in der Unterkunft
misshandelten. Sie wurden Anfang des Jahres zu jeweils zwei Jahren auf
Bewährung und zwei Jahren und drei Monaten Haft verurteilt.
Drei Verfahren laufen noch, eine Anklage wurde fallen gelassen. Typisch,
sagen Opferberatungen und Flüchtlingsräte. In den wenigsten Fällen kommt es
überhaupt zu Anzeigen, weil die Bewohner Angst haben und oft nicht wissen,
an wen sie sich wenden können. In den wenigsten Unterkünften gibt es eine
unabhängige Beschwerdestelle. Strafrechtliche Konsequenzen bleiben die
Ausnahme.
Es gäbe Lösungen für diese Probleme, etwa Unterbringungsstandards, wie es
sie in Alten- oder Jugendheimen gibt. Aber bisher ist die Politik nicht
bereit, diese verbindlich einzuführen. Das liegt auch daran, dass die
Unterbringung Geflüchteter in Deutschland Ländersache ist und bundesweite
Regelungen deshalb nicht möglich sind. Die wenigen Regelungen, die es gab,
wurden in den letzten Jahren immer weiter ausgehöhlt.
Und so vergeben Länder und Kommunen auch 2017 weitere Verträge an Betreiber
und Sicherheitsunternehmen, die bereits mehrfach durch Straftaten
aufgefallen sind oder gegen die sogar noch Strafverfahren anhängig sind.
Ein Unternehmen, an dem sich erklären lässt, wo einige der größten Probleme
bei der Flüchtlingsunterbringung liegen, ist die Firma European Homecare
aus Essen. Nach eigenen Angaben betreibt das mittelständische Unternehmen
aktuell 80 Einrichtungen für Geflüchtete und Wohnungslose in ganz
Deutschland. 2015 stieg der Umsatz von rund 39 Millionen auf fast 178
Millionen Euro. Der Nettogewinn fiel fünfmal so hoch aus wie 2014: Rund 26
Millionen Euro blieben übrig. Für Personal gab die Firma in dem Jahr 35,5
Millionen aus, 20 Prozent des Umsatzes. European Homecare, so
Pressesprecher Klaus Kocks in einem Interview mit dem Spiegel, sei der
„Aldi unter den Anbietern.“ Nur die Umsatzrendite, so Kocks, sei besser als
die des Discounters.
Auch in einem anderen Bereich ist European Homecare führend, gegen das
Unternehmen gibt es eine rekordverdächtige Anzahl strafrechtlicher
Vorwürfe:
Burbach, Nordrhein-Westfalen, 2014: Zehn Mitarbeitern der European Homecare
und sechsundzwanzig Mitarbeitern des zuständigen Wachdienstes, der durch
das Unternehmen beschäftigt war, wird vorgeworfen, Bewohner genötigt und
misshandelt zu haben. Geflüchtete sollen in ein „Problemzimmer“ eingesperrt
und gequält worden sein. Ein Handyfoto zeigt, wie einer der Wachmänner
seinen Stiefel in den Nacken eines Geflüchteten drückt, der am Boden liegt.
Es kommt zur Anklage. Das Hauptverfahren hat noch nicht begonnen.
Finnentrop, Nordrhein-Westfalen, 2016: Einem Heimleiter wird vorgeworfen,
eine Syrerin, die er in der Unterkunft in Finnentrop kennengelernt hat,
viermal vergewaltigt zu haben. In E-Mails hat er sich als „Dr. med“
ausgegeben, obwohl er nie Medizin studiert hat. Der Niederländer ist, schon
bevor er beginnt, in Finnentrop für European Homecare zu arbeiten, 19-mal
strafrechtlich auffällig geworden. Für eine Verurteilung reichen die
Beweise nur im Anklagepunkt des Titelmissbrauchs. Das Landgericht Arnsberg
verurteilt ihn zu neun Monaten auf Bewährung.
Niederkrüchten, Nordrhein-Westfalen, 2017: Das Unternehmen hält sich nicht
an den vertraglich mit dem Land vereinbarten Personalschlüssel, stellt die
Bezirksregierung Düsseldorf bei Kontrollen fest. Zu wenige Mitarbeiter
betreuen zu viele Bewohner. Außerdem kassiert European Homecare
gleichbleibend viel Geld von der Stadt, auch wenn die Unterkünfte nicht
voll belegt sind. Die Bezirksregierung reduziert daraufhin die Zahlungen.
Essen, Nordrhein-Westfalen, 2017: Das Unternehmen stellt einen gelernten
Lehrer für Biologie und Chemie zunächst als Betreuer ein. Dann teilt
European Homecare ihm in einem Schreiben mit, dass er ab sofort auf der
Stelle des Sozialpädagogen arbeitet, obwohl er den entsprechenden Abschluss
nicht hat.
## Oft werden die Betroffenen unter Druck gesetzt
Trotz alldem wurden auch im Sommer 2017 neue Verträge an European Homecare
vergeben – vom Land Nordrhein-Westfalen für die Zentrale
Unterbringungseinrichtung in Mettmann und eine weitere in Rüthen. Vom Land
Niedersachsen für das größte Ankunftszentrum im Norden, Bad
Fallingbostel-Oerbke. Und auch vom Land Sachsen für die
Erstaufnahmeeinrichtung in der Hamburger Straße in Dresden – dort, wo
Argjent Mehmeti mit seiner Familie gelebt hat. Das Deutsche Rote Kreuz
betrieb die Einrichtung bis August 2017, dann kam European Homecare.
Fragt man Holm Felber, Pressesprecher der Landesdirektion Sachsen, warum
das Deutsche Rote Kreuz den Zuschlag nicht erneut bekommen hat, sagt er:
„Der neue Anbieter konnte garantieren, dass er die Leistungen auch
erbringen wird.“ Zu einem günstigeren Preis? „Das war in jedem Fall so.“
Bei welchen Positionen genau European Homecare günstiger war, ist nicht zu
erfahren.
Birgit Naujoks vom Flüchtlingsrat NRW hat eine Vermutung: „Das Einzige,
woran man sparen kann, ist Personal.“ Der Personalschlüssel werde von
Betreibern zwar formal eingehalten, aber die Mitarbeiter wiesen niedrigere
Qualifizierung auf als von European Homecare, kurz EHC, angegeben.
Pressesprecher Klaus Kocks schreibt auf Anfrage der taz: „EHC ist wegen
seines Qualitätsmanagements zum qualitativen Marktführer dieser
Anbietergruppe geworden; das kontrollieren in Deutschland Hunderte von
Gebietskörperschaften tagtäglich.“ Eine abweichende Praxis würde sofort und
an vielen voneinander unabhängigen Stellen bemerkt.
Dass die staatlichen Kontrollen, auf die European Homecare sich bezieht,
oft nicht ausreichend sind, zeigt die Arbeit von Juliane Pink. Sie ist
Beraterin für Betroffene von rechtsmotivierter und rassistischer Gewalt in
Dresden und hat den Fall der Familie Mehmeti betreut. Von Januar bis Anfang
September 2017 haben sie und ihre Kollegen insgesamt 130 Beratungen
durchgeführt. Pink schätzt, dass nur 20 Prozent der Fälle, die sie betreut,
zur Anzeige gebracht werden. Dabei geht es um Körperverletzung, Bedrohung
oder Nötigung – vor allem durch Sicherheitspersonal. Oft werden die
Betroffenen unter Druck gesetzt: Sie kenne Fälle, in denen Zimmer
regelmäßig durchsucht wurden oder Essen rationiert wurde.
Seitdem European Homecare Betreiber der Erstaufnahmeeinrichtung in Dresden
ist, könnten sie, ihre Kollegen und der Flüchtlingsrat die Unterkunft nicht
mehr ohne Anmeldung betreten: „Im Moment erreichen uns deshalb weniger
Vorfälle, in den letzten zwei Monaten gar keine mehr“, sagt Pink.
## Ein Berliner Heimleiter war ständig betrunken
Wenn es doch mal zu einer Anzeige gegen Sicherheitspersonal kommt, haben
die Kläger schlechte Karten. Oft ist nicht nur die Beweislage schwierig,
den Bewohnern der Unterkünfte wird auch nicht geglaubt. „Ein
Securitymitarbeiter hat in einem Ermittlungsverfahren einen ganz anderen
Stand als Geflüchtete. Den Eindruck haben wir“, sagt Juliane Pink, „und den
gewinnt man auch immer wieder, wenn man sie zur Polizei begleitet.“ So
folge bei Körperverletzung meistens nichts, manchmal eine Entlassung und
nur ganz selten ein Gerichtsurteil.
Ein weiteres Beispiel dafür, dass staatliche Kontrollen in den letzten
Jahren nicht ausreichend waren, ist der Fall der mittlerweile geschlossenen
Notunterkunft in der Berliner Gürtelstraße. Maria Wehle hat bis zur
Schließung im Dezember 2016 dort gearbeitet – und ist seitdem psychisch und
körperlich so angeschlagen, dass sie vorerst gar nicht mehr arbeiten kann.
„Ich habe nur noch 40 Kilo gewogen, das hat mich schon sehr mitgenommen“,
sagt sie bei einem Treffen Ende Mai. Auch Monate nach Ende ihrer
Beschäftigung sieht man ihr die Erschöpfung noch an. Nur zögerlich hatte
sie einem Interview zugestimmt.
Geführt wurde die Notunterkunft in der Gürtelstraße vom Berliner Verein zur
Förderung von Arbeit, Forschung und Bildung e. V., kurz AFB. Leiter war
Farhad V., ein Mann, der häufig betrunken war, Bewohner bedroht oder sogar
angegriffen hat – so beschreiben es Maria Wehle und Thomas Barthel,
Vorstand des Vereins „Friedrichshain Hilft“, der dort aktiv war.
Bereits am 16. März 2016 wendet sich Friedrichshain Hilft schriftlich an
das Landesamt für Gesundheit und Soziales, das damals noch zuständig für
Flüchtlinge war, um die Behörde auf die Missstände in der Unterkunft
aufmerksam zu machen.
In der E-Mail steht: „Wir sind nicht länger gewillt, mit einem Heimleiter
zusammenzuarbeiten, der ein offensichtliches Alkoholproblem und dieses auch
im Dienst nicht im Griff hat, der dazu neigt, Bewohnerinnen und Bewohner im
angetrunkenen wie im nüchternen Zustand anzubrüllen und zu beschimpfen.“
In dem Schreiben heißt es weiter, dass Farhad V. versucht habe, einer
weiblichen Bewohnerin das Kopftuch herunterzureißen und Tücher, die als
Sichtschutz befestigt waren, zu entfernen. Die Bewohnerinnen hätten sich
„häufig massiv belästigt“ gefühlt. Alle Versuche der taz, Farhad V. oder
seinen Arbeitgeber, den Verein AFB, für eine Stellungnahme zu erreichen,
blieben erfolglos.
„Ich hab immer bis zwölf Uhr nachts gearbeitet, ihn oft nachts betrunken
mitbekommen“, sagt Maria Wehle. Weil sie noch immer Angst vor Farhad V.
hat, wurde ihr Name in diesem Text geändert. Wehle hat keine Ausbildung zur
Sozialarbeiterin und war vor ihrer Anstellung ehrenamtlich in der
Unterkunft tätig. Laut Wehle wollte Farhad V. eine Betreuung rund um die
Uhr – hatte aber viel zu wenige Mitarbeiter dafür.
Das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten, das im August 2016 die
Zuständigkeit vom Landesamt für Gesundheit und Soziales übernommen hat,
schickt Mitarbeiter der Qualitätskontrolle in die Unterkunft, doch Maria
Wehle und Friedrichshain Hilft berichten übereinstimmend, dass diese mehr
oder weniger angekündigt waren und niemals abends kamen.
Wehle sagt: „Ich hätte mir gewünscht, dass sie nicht nur zu ihren
Bürozeiten kommen, wo er auch meistens nüchtern war.“ Weil ihre Schicht
immer erst um 16 Uhr begann, sei sie nicht von den Mitarbeitern des
Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten befragt worden. Dessen
Pressesprecher dementiert diese Darstellung: Kontrollen fänden zu
unterschiedlichen Tageszeiten und unangekündigt statt.
Farhad V. lässt sich laut Wehle und Friedrichshain Hilft von den Bewohnern
unterschreiben, dass alles in Ordnung ist. „Das hat er mit dem
Schreckensgespenst verbunden, dass das Heim sonst geschlossen wird und dann
vielleicht alle nach Tempelhof kommen“, sagt Wehle. Der ehemalige Flughafen
ist eine der größten Massenunterkünfte Deutschlands.
Das Landesamt kommt so zu dem Schluss, dass es keine Probleme gibt.
Gleichzeitig spitzt sich die Situation in der Unterkunft in den folgenden
sechs Monaten zu. Wehle sei zeitweise allein für 200 Menschen zuständig
gewesen, während Farhad V. in der nahe gelegenen Kneipe „festgetackert“
gewesen sei. Sie gibt Essen aus, kümmert sich um Kinder, schlichtet
Streitereien. Sie denkt immer wieder daran zu kündigen, will aber die
Bewohner nicht mit V. allein lassen.
„Am Ende war das Glück, dass er auch morgens betrunken war und wir dann
beim Landesamt jemanden erreicht haben“, sagt Maria Wehle. Im Herbst 2016
schlägt eine Ärztin Alarm, die in der Unterkunft aktiv ist. Friedrichshain
Hilft schickt ein weiteres Beschwerdeschreiben an das Landesamt, dann
handelt die Behörde. Sie beraumt ein Mediationsgespräch an, in dem Farhad
V. mit sofortiger Wirkung den Dienst quittiert. Kurze Zeit später wird die
Unterkunft geräumt. Rechtliche Konsequenzen gibt es weder für den Betreiber
noch für den Heimleiter.
Warum ist das Land Berlin nicht früher und energischer vorgegangen?
Hinweise auf Fehlverhalten und Vertragsbruch durch den Betreiber gab es
spätestens seit dem ersten Beschwerdebrief im März 2016. Das Landesamt für
Flüchtlingsangelegenheiten sagt hierzu: „Die Qualitätssicherung verfügt
über Außendienstmitarbeiter, die regelmäßig die gut 100 Unterkünfte des
Landesamts kontrollieren. Wir gehen allen Hinweisen binnen kürzester Frist,
oftmals bereits am nächsten Tag nach. Sollten dabei Mängel auftreten, wird
dem Betreiber eine Frist eingeräumt, binnen der er die Missstände abstellen
kann.“
Die Einhaltung der getroffenen Vereinbarungen werde kontrolliert: „Für den
Fall, dass der Betreiber nicht in der Lage ist, die Missstände zu
beseitigen, droht im äußersten Fall die Kündigung des Vertrags.“ Eigentlich
müssten Kontrollen noch weiter gehen – sie müssten grundsätzlich
stattfinden und nicht anlassbezogen. Genügt es wirklich, nur auf
Problemmeldungen von Bewohnern zu reagieren, die oft ziemlich
eingeschüchtert sind?
Ein Instrument, das mit dem Anspruch entwickelt wurde, Unterkünfte
ganzheitlich und ohne Anlass zu evaluieren, ist der sächsische Heim-TÜV. Er
wurde bereits 2011 vom Büro des Ausländerbeauftragten des Landes Sachsen,
Geert Mackenroth, entwickelt. Der [2][dazugehörige Fragebogen] verlangt
explizit auch Auskünfte zu Übergriffen durch Angestellte der Unterkunft
oder Sicherheitsbeamte und beinhaltet detaillierte Fragen zu Spannungen
zwischen Bewohnern und Heimleitung.
## Keine verbindlichen Mindeststandards
Verwunderlich allerdings: Das letzte Mal, dass dieser Heim-TÜV auf
Gemeinschaftsunterkünfte angewandt wurde, war 2013. Eine Evaluierungsrunde
2017 in Sachsen beschäftigte sich nur mit der dezentralen Unterbringung.
Wenn es die Instrumente schon gab, warum hat man sie dann seit 2015 nicht
angewandt?
Aus der Geschäftsstelle des sächsischen Ausländerbeauftragten heißt es
dazu, dass der Heim-TÜV für die vier Mitarbeiter schlicht nicht
durchführbar gewesen sei, schließlich habe es zu Hochzeiten bis zu 160
Unterkünfte gegeben.
In vielen Bundesländern gibt es keine Mindeststandards für
Gemeinschaftsunterkünfte. In Nordrhein-Westfalen wurden diese zeitweise
aufgehoben, die Vertragsstrafe ausgesetzt. Erst im Januar 2017 wurde sie
wieder eingeführt, das heißt, das Land kann jetzt wieder Sanktionen
verhängen, wenn der Betreiber den vertraglich zugesicherten Leistungen
nicht nachkommt. Davor war ein Einschreiten erst dann möglich, wenn es
strafrechtlich relevant wurde.
Nach den Misshandlungsfällen in Burbach wurde in Nordrhein-Westfalen
außerdem ein 8-Punkte-Plan zur Einstellung von Sicherheitskräften
eingeführt: verbindliche Standards, die unter anderem den Einsatz von
Subunternehmen untersagen und Bewerber verpflichten, ein polizeiliches
Führungszeugnis vorzulegen. „Insgesamt hat sich da einiges getan“, sagt
Birgit Naujoks vom Flüchtlingsrat NRW. Was aber noch fehlt – und nicht nur
in Nordrhein-Westfalen – ist Transparenz. „Ich glaube, dass immer noch
nicht der Wille da ist, alles von Grund auf aufzuarbeiten und an die
Öffentlichkeit zu bringen.“
Ausschreibungen für Betreiber sind meistens nicht öffentlich, genauso wenig
die Einstellungskriterien von Sicherheitskräften. Damit bleibt die Tür für
Geschäftemacherei weiter offen.
## Was zählt? Preis oder Qualität?
Betreiber und Behörden müssten offensiver mit Fehlern umgehen, fordern die
Flüchtlingsräte. Dafür müsste auch innerhalb der Unterkünfte eine
Atmosphäre herrschen, die den Bewohnern Raum für Beschwerden gibt. Ein
Großteil dieser Angebote ist aber noch nicht niedrigschwellig genug, und
viele Geflüchtete fürchten die Konsequenzen, wenn sie eine Machtperson wie
einen Sicherheitsmann oder einen Heimleiter melden.
In Nordrhein-Westfalen gibt es mittlerweile eine überregionale
Beschwerdestelle, die direkt am Flüchtlingsrat angedockt ist. Sie ist aber
nur für die vom Land finanzierten Unterkünfte zuständig; was auf kommunaler
Ebene passiert, erreicht sie nicht. Das ist symptomatisch für einen
Flickenteppich aus Lösungsversuchen mit vielen Löchern und keinerlei
einheitlichen Standards.
Vielerorts versucht deshalb der Staat wieder mehr Aufgaben an sich zu
nehmen. Das Land Berlin etwa errichtet Immobilien für Unterkünfte nun
selbst. Die Betreiber aber haben nach wie vor ein großes Drohpotenzial: Als
die Berliner Integrationssenatorin Elke Breitenbach von der Linkspartei im
Juli 2017 ankündigte, die Zusammenarbeit mit dem umstrittenen
Flüchtlingsheimbetreiber Gierso zu beenden, drohte das Unternehmen, die
Unterkünfte umgehend zu schließen und 900 Bewohner auf die Straße zu
setzen.
Man ließe sich nicht erpressen, hieß es von Breitenbach, die Menschen
wurden eilig anderweitig untergebracht.
Selbst wenn sich ein Umdenken abzeichnet und der Staat wieder mehr
übernimmt, er wird auf privatwirtschaftliche Unternehmen und
Wohlfahrtsverbände angewiesen bleiben, um Geflüchtete unterzubringen. Und
so ergeben sich immer wieder neue Probleme im Zusammenspiel von Staat und
Betreibern, die nur durch klare Kontrollmechanismen behoben werden können.
In vielen Bundesländern wurde kürzlich die Gewichtung von Preis zu Qualität
in den Ausschreibungen geändert. Waren es in Berlin beispielsweise 40
Prozent Preis und 60 Prozent Qualität, sind es jetzt 70 Prozent Qualität
und nur noch 30 Prozent Preis. Als Qualitätskriterien gelten etwa
qualifizierte Mitarbeiter, Brandschutz sowie Jugend- und
Kinderschutzmaßnahmen.
Für die Flüchtlingsunterkunft am ehemaligen Flughafen Tempelhof hat sich
unter diesen Bedingungen allerdings kein einziger Betreiber beworben.
Vermutlich, weil es sich für sie nicht lohnt: 2019 sollen die Container
wieder abgerissen werden.
13 Nov 2017
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=pX-mzPmCIrA
[2] https://sab.landtag.sachsen.de/dokumente/sab/Fragebogen_16052013.pdf
## AUTOREN
Yasmin Polat
Pascale Müller
## TAGS
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