Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kolumne Die eine Frage: Kein Jamaika ist unmöglich
> Die Frage ist nicht, ob Özdemir machtgeil ist oder Lindner eitel.
> Sondern: Wie einigt sich eine experimentelle Mehrheit auf ein gemeinsames
> Ziel – Europa?
Bild: Aus der Nummer kommen sie jetzt nicht mehr raus: die potenziellen Koaliti…
Das Einzige, das in allen gesellschaftlichen Milieus eine nahezu
hundertprozentige Mehrheit hat, ist der Individualismus. Es gibt keine
klassischen oder gar rechtmäßigen politischen Mehrheiten mehr, selbst die
Schimäre von der „linken Mehrheit“ ist mit der letzten Bundestagswahl
mathematisch erledigt.
Isch over, wie wir in Baden-Württemberg sagen. Wo ja auch die Zeiten der
CDU als führende Volkspartei over sind (Ich sag nur: Kretschmann). Viele
Unionler dort halten es im Kopf nicht mehr aus, dass die Merkel-CDU so irre
links geworden ist. Aus ihrer Sicht. Früher hätte man davon geträumt, dass
diese Jungs die Welt nicht mehr verstehen. Doch nun ist das gar nicht
lustig, weil der fortschreitende Zerfall der gemütlichen alten Welt
Europäer in allen früheren Lagern und Parteien kirre macht und
auseinandertreibt.
Selbst wenn man die strategische Klientelfolklore einberechnet, so sind
die Reaktionen dieser Woche auf die Regierungssondierungen von CDU, CSU,
FDP und Grünen von diesem Phantomschmerz einer fehlenden Welt von gestern
bestimmt. Weil wir alle unsere Nervenenden dort zu spüren glauben.
Die einen wollen an der Farbe von Politikerkleidung (huch, Schwarz!) den
Anschleimgrat vermessen, die anderen am Lächeln den Idealeverrat. Das
allgemeine Motto in den Kommunikationsnetzwerken lautet: When they go low,
we go lower.
Und dann auch noch das automatisierte Gebrumme von der „sozialen
Gerechtigkeit“, die von der künftigen Koalition übelst ignoriert werde. Das
hat selbstverständlich einen guten Punkt, aber es verpasst gleichzeitig den
entscheidenden. Jürgen Habermas hat das Problem in einem Spiegel-Essay auf
die politisch relevante Gegenwartsebene gehoben, nämlich die europäische.
„Wirtschaftsnationalismus“ nennt er das deutsche Wohlstandsprinzip auf
Kosten europäischer Landsleute, das im Moment flutscht wie noch nie. Und
das gerade auch von den lautesten Linkspartei-Trompeten deshalb nicht
thematisiert wird.
## Deutschland trägt kontinentale Verantwortung
Die entscheidende Frage ist nicht, ob Grünen-Chef Cem Özdemir machtgeil ist
oder FDP-Chef Christian Lindner eitel. Sondern, das sehe ich wie Habermas,
ob wir Deutsche der europäischen Verantwortung gerecht werden können, die
plötzlich als Chance existiert, da Emmanuel Macron völlig überraschend auf
den Plan getreten ist.
Gerechtigkeit, Freiheit, Offenheit, Frieden, Wohlstand – alles ist eine
Frage künftiger europäischer Politik speziell bei Digitalisierung,
Modernisierung der Wirtschaft und Energiewirtschaft sowie Einwanderung.
Jetzt ist dank Macron der Kairos da, der Moment, in die verrinnende Zeit
einzugreifen.
Eben noch schien Jamaika unmöglich, jetzt ist kein Jamaika unmöglich.
Lindner kann nicht mehr aufstehen und weggehen, auch wenn er blufft und
tut, als könne er. Wenn er geht, geht er nach Hause. Die Grünen sowieso.
Entweder sie kriegen das hin, wo es historisch gilt, oder sie sind
historisch erledigt. Selbst die CSU kann nicht raus. Doch wie soll dieser
große Sprung gelingen?
Gute Frage. Es ist nicht allein die Sache von vier Parteien, sondern der
gesellschaftlichen Minderheiten, die sie gewählt haben. Sie können sich in
die nationale Fokussierung auf 12 Prozent AfD-Wähler zurückziehen. Sie
können sich mit der überkommenen kulturell-moralischen Abgrenzung vom
jeweils anderen verlustieren und die Parteien damit zum anhaltenden
Stillstand aufrufen. Oder sie lassen sich als „experimentelle Mehrheit“
(Heinz Bude) auf ein gemeinsames Ziel ein, das die neue Regierung
gefälligst prioritär voranzutreiben hat: Mit Macron werden wir Europa.
Also ich bin dabei.
29 Oct 2017
## AUTOREN
Peter Unfried
## TAGS
Kolumne Die eine Frage
Jürgen Habermas
Jamaika-Koalition
Europa
Sondierungsgespräche
Cem Özdemir
FDP
Jamaika-Koalition
Sondierung
Jamaika-Koalition
Taxi
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
Sondierung
FDP
Lesestück Meinung und Analyse
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kolumne Die eine Frage: Was wird aus Özdemir?
In der richtigen Welt würde Robert Habeck jetzt Partei- und Cem Özdemir
Fraktionsvorsitzender. Bei den Grünen nicht.
Kolumne Die eine Frage: Der Macron-Spirit
Die FDP wäre eine Super-Oppositionspartei, Christian Lindner könnten wir
weiter blöd finden. Aber ist es nicht ein Segen, dass er regieren muss?
Kommentar FDP und Jamaika-Koalition: Die Angst vorm Regieren
Das forsche Auftreten von Parteichef Lindner täuscht: Tatsächlich fürchten
die Liberalen, der CDU und den Grünen unterlegen zu sein.
Gastkommentar Koalitionsgespräche: Jamaika im Konklave verhandeln
Die Parteien sollten hinter verschlossenen Türen verhandeln, professionell
moderiert – warum nicht auch mit einem Bürgerbeirat?
Sondierungen der Jamaika-Koalition: Mehr Geld für Bildung
Union, FDP und Grüne sondieren zu den Themen Bildung, Forschung und
Digitales. Bis 2025 wollen sie mehr als 10 Prozent des BIP für Bildung und
Forschung aufwenden.
Umgehung des Mindestlohns: Tricksen bei den Überstunden
KellnerInnen und TaxifahrerInnen erhalten oft keinen Mindestlohn. Im Fall
einer Jamaika-Koalition könnten ihn Arbeitgeber noch leichter umgehen.
Schwierige Jamaika-Verhandlungen: Turbulenzen im Binnenklima
Bei den Sondierungen zwischen Union, FDP und Grünen knirscht es mächtig.
Grund ist vor allem ein grober Webfehler in der Kommunikation.
Kommentar Sondierungsverhandlungen: Hoffentlich nur Strategie
Auf die Aufweichung geltender Klimaziele können sich die Grünen niemals
einlassen. Das sollten auch die Hardliner von Union und FDP wissen.
Kolumne Die eine Frage: Letzte Hoffnung FDP
Vieles von dem, was wir erleben, ist längst vergangen. Wenden wir uns also
der Zukunft zu. Aber wie beginnt das Neue, Christian Lindner?
Serie: Wie weiter, Germans? (8): Raus jetzt aus Bullerbü
Alles schlimm wegen der AfD – und dann auch noch eine Jamaika-Koalition? Im
Gegenteil: Jetzt ist die Chance da, ein paar Dinge neu zu sehen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.