# taz.de -- Umgehung des Mindestlohns: Tricksen bei den Überstunden | |
> KellnerInnen und TaxifahrerInnen erhalten oft keinen Mindestlohn. Im Fall | |
> einer Jamaika-Koalition könnten ihn Arbeitgeber noch leichter umgehen. | |
Bild: Wer keinen Kunden hat, hat offiziell Pause. Das beleuchtete Taxischild au… | |
BERLIN taz | Hannes R., 22, arbeitet in einer Berliner Nachtbar, und der | |
Chef gibt sich nett. Er hat seinen Leuten die Regeln offen erklärt: Für die | |
ersten 20 Stunden im Monat gibt es den Mindestlohn von 8,84 Euro. Jede | |
Stunde darüber hinaus wird nur noch mit 7 Euro vergütet. „Eine übliche | |
Regelung in Kneipen“, sagt der Wirtschaftsstudent und zuckt mit den | |
Achseln, „woanders verdient man auch nicht mehr“. | |
Einen Stundenzettel mit der Aufzeichnung seiner geleisteten Arbeitszeiten | |
hat R. noch nie gesehen: „Die Bücher macht der Chef.“ Dieser muss | |
eigentlich Beginn, Ende und Dauer der Arbeitszeit für jeden Tag exakt | |
dokumentieren. | |
Die gesetzliche Pflicht gilt für alle Beschäftigten mit regelmäßigen Löhnen | |
von weniger als 2.000 Euro brutto in Branchen wie etwa dem Baugewerbe, in | |
Gaststätten, dem Transportgewerbe, in Zustelldiensten, der Gebäudereinigung | |
und generell für alle Minijobber außer jenen in Privathaushalten. | |
Den Arbeitgeber an seine Dokumentationspflicht zu erinnern, ihn beim dafür | |
zuständigen Zoll zu verpfeifen oder ihn gar auf Zahlung des Mindestlohns zu | |
verklagen käme R. jedoch nicht in den Sinn. „Wir wissen ja, dass die | |
Umsätze nicht so doll sind. Außerdem haben wir noch das Trinkgeld“. | |
## Niemand schwärzt den Chef an | |
So wie R. geht es vielen ArbeitnehmerInnen in der privaten Dienstleistung: | |
Die Betriebe sind klein, der Stundenlohn ist es auch, aber den Chef | |
anzuschwärzen, gilt als sinnlos. Zudem ist es schwer, einen Mindestlohn | |
zivilrechtlich einzuklagen. Warum, erklärt Jonas Bohl, Medienreferent bei | |
der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG): „Zahlt ein Arbeitgeber | |
keinen Mindestlohn, raten wir den Leuten, ihre Arbeitszeit selbst täglich | |
zu dokumentieren, das heißt aufzuschreiben, wann sie gekommen und wann sie | |
gegangen sind. Das sollte ein Kollege dann noch mit seiner Unterschrift | |
bestätigen, als Zeuge“. | |
In der Regel klagen Beschäftigte gegen ihren Arbeitgeber nur dann, wenn sie | |
den Job geschmissen haben. Es bräuchte also mit dem Zeugen mindestens noch | |
einen Angestellten, der seine Stelle aufgibt, um dann den Arbeitgeber quasi | |
rückwirkend zu verklagen. Das ist eine hohe Hürde. | |
Eine Stichprobe bei drei Bezirksstellen der Gewerkschaft NGG ergab, dass | |
dort kein Fall bekannt ist, in dem ein Beschäftigter gegen seinen | |
Arbeitgeber auf Zahlung des Mindestlohnes vor Gericht zog. „Von | |
zivilrechtlichen Klagen auf Zahlung des Mindestlohnes ist uns aus der | |
Gastronomie nichts bekannt“, bestätigt auch Ingrid Hartges, | |
Hauptgeschäftsführerin des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbandes. | |
„Man braucht einen gewissen Mut, sich offen für den Mindestlohn | |
einzusetzen, weil man damit aus der Anonymität heraustreten muss“, sagt | |
Bohl. Die Sorge, bei einer Klage namentlich bekannt zu werden, ist zudem in | |
Zeiten von Social Media groß, „dann findest du keinen Job im Gastrogewerbe | |
mehr“, sagt Hannes R. | |
## Berüchtigte Software | |
Für manche Arbeitgeber sind Manipulationen mit der Arbeitszeit inzwischen | |
eine Art Gewohnheitsrecht. „Die Arbeitszeit für die Bücher ist das eine, | |
die Wirklichkeit das andere“, sagt Dimitri F., der in Berlin Taxi fährt. | |
Sein Unternehmer hat dem 40-Jährigen vorgerechnet, dass F. pro Stunde 25 | |
bis 30 Euro Kasse machen müsste, damit der Stundenlohn von 8,84 Euro brutto | |
für ihn finanzierbar sei. „Der Chef sagt, die Kosten für das Auto, die | |
Sozialversicherungen und den Krankheitsausfall sind so hoch, da könne er | |
nicht den Mindestlohn zahlen, wenn ich zu lange an der Halte stehe“. | |
Auch F. akzeptiert, dass nicht die gesamte Arbeitszeit als solche | |
dokumentiert wird. „Natürlich kann man protestieren“, sagt er, „aber dann | |
sagt der Chef: Ich muss dich leider entlassen. Sonst gehe ich pleite“. Eine | |
Software, die längere Standzeiten automatisch als „Pause“ wertet, wenn man | |
nicht etwas anderes eingibt, ist in der Branche berüchtigt. | |
Frederik Wilhelmsmeyer, stellvertretender Geschäftsführer des Deutschen | |
Taxi- und Mietwagenverbandes BZP, kennt die Manipulationen bei der | |
Arbeitszeitdokumentation. „Das sind Fehlentwicklungen. Außerdem ist das | |
eine Wettbewerbsverzerrung zuungunsten der legal arbeitenden Betriebe“. | |
Eine Entwicklung, gegen die die Behörden oft wenig unternehmen können, | |
solange Kneipen oder Taxibetriebe korrekt Buch führen. Auch dann, wenn die | |
Jobcenter die Tricks durchschauen. Mit Einführung des Mindestlohns im Jahre | |
2015 fiel in den Jobcentern, die „Aufstocker“ betreuen, auf, dass manche | |
Arbeitgeber plötzlich auf dem Papier die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten | |
reduzierten, sodass die Personalkosten durch den Mindeststundenlohn | |
insgesamt nicht stiegen. | |
## 2.400 Ermittlungsverfahren | |
Claudia Falk, Mindestlohnexpertin beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), | |
dokumentierte auf der DGB-Homepage ein Interview mit Dörthe Sund, | |
Mitarbeiterin beim Jobcenter Vorpommern-Rügen. Sund erzählte von einem | |
Arbeitgeber im Gaststättenbereich, der geheime „Schwarzbücher“ auslegte, | |
in denen Beschäftigte ihre Überstunden eintrugen, die dann nur mit 5 Euro | |
die Stunde vergütet wurden. Da das Jobcenter an diese Bücher nicht | |
herankam, sei die Beweislage für eine Klage leider sehr dünn, bedauerte | |
Sund. | |
Doch es gibt noch die Überprüfungen der Betriebe durch die Finanzkontrolle | |
Schwarzarbeit der Hauptzollämter. In Berlin wird jede dritte Ermittlung auf | |
diesem Gebiet durch private Tippgeber, oft anonym, angestoßen, ergab eine | |
taz-Anfrage an das Hauptzollamt Berlin. | |
Bundesweit wurden im ersten Halbjahr 2017 aufgrund von Überprüfungen rund | |
2.400 Ermittlungsverfahren wegen nicht gezahlter Mindestlöhne eingeleitet. | |
Dadurch wurden Bußgelder in Höhe von fast 19 Millionen Euro fällig. Die | |
Beschäftigten haben aber nichts vom Bußgeld, ihren Lohn könnten sie nur als | |
Einzelperson vor einem Zivilgericht einklagen. | |
## „Handhabbarer und praxisnäher“ | |
Die Arbeitgeber stöhnen über die Dokumentationspflicht für Mindestlöhner. | |
Für die Gewerkschaften aber ist „die Aufzeichnung von Arbeitszeiten der | |
Dreh- und Angelpunkt“, sagt Claudia Falk. Union und FDP wollen die | |
Dokumentationspflicht für die Arbeitszeit einschränken. „Unser erklärtes | |
Ziel ist der Abbau unnötiger Bürokratie gleich zu Beginn der neuen | |
Wahlperiode“, heißt es im Wahlprogramm der Union. Die | |
CDU-Mittelstandsvereinigung will Minijobber ganz von der | |
Dokumentationspflicht ausnehmen. | |
Die Jamaika-Landesregierung in Schleswig-Holstein hat den Bundesrat im | |
Oktober aufgefordert, den Mindestlohn für Teilzeitkräfte „handhabbarer und | |
praxisnäher“ zu gestalten. Ihr entsprechender Gesetzesantrag sieht vor, | |
dass die Arbeitszeit von besser verdienenden Teilzeitkräften nicht mehr | |
dokumentiert werden muss. „Die Jamaika-Koalition in Kiel will den | |
Mindestlohn aufweichen“, befürchtet DGB-Chef Reiner Hoffmann. | |
Die Gewerkschaften warnen, dass ohne die Dokumentationspflicht die | |
Hemmschwelle bei Arbeitgebern, unbezahlte Überstunden anzuordnen, noch | |
weiter sinkt. Der DGB befürchtet zudem mehr Verstöße gegen die gesetzlichen | |
Höchstarbeitszeiten. Falk: „Die Pläne von Union und FDP sind Gift.“ | |
29 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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